Figur springt von einem Sprungbrett auf eine Uhr

VOM ZEITNOTSTAND ZUM ZEITWOHLSTAND

Mehr Zeit zu haben – das wünschen sich viele. Doch nach wie vor herrscht in unserer Gesellschaft Effizienzstreben. Die Folgen sind Zeitdruck, Stress und das Gefühl ständig gehetzt zu sein. KI und Robotik könnten bald Zeitnot in Zeitwohl verwandeln. Ein Gespräch mit Zukunftsforscher Michael Carl.

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Interview Gerd Giesler

Theologe Michael Carl

Die 20er Jahre werden sich als das Jahrzehnt der Krisen entpuppen und das ist unsere größte Chance sagt der Gesellschaftsexperte und Theologe Michael Carl. Er zeigt vor allem den Gestaltungsspielraum auf, der sich daraus völlig neu ergibt.

Wie aus dem Nichts tauchen in Michael Endes Erfolgsroman „Momo“ die grauen Herren auf. Sie entpuppen sich als Agenten der Zeitsparkasse und bieten den Menschen an, Zeit auf Sparbüchern anzulegen, die sie später verzinst wieder abheben können. In Wahrheit wollen die Zeitdiebe nur eins: uns die Zeit klauen. War Zeit schon immer so rar? Was macht sie heute so besonders wertvoll?

Michael Carl: Zeit war schon immer wertvoll. Ich glaube wir haben ein ganz besonderes Zeitverständnis, weil wir im Zuge der Industrialisierung angefangen haben Zeit, Arbeit und Sinn in Zusammenhang zu bringen. Wir sind also morgens in die Arbeit gegangen und abends heim und die Arbeitszeit dazwischen tauschten wir gegen Geld, um unsere Familien zu ernähren. Nur habe ich ganz stark den Eindruck, dass diese Gleichung in Bezug auf die Entwicklung von Arbeit in den nächsten Jahren nicht mehr stimmen wird.

Karriere im Job zu machen, die nächste Gehaltserhöhung anzupeilen – durch Arbeit werten wir bislang nicht nur unseren gesellschaftlichen Status auf. Viele definieren sich über den Job, sehen ihn als Statussymbol. Die Gesellschaft macht es uns schwer, aus dem Kreislauf der Beschleunigung auszusteigen.

Genau deswegen merken wir doch, dass unsere Vorstellung von Zeit an allen möglichen Stellen aneckt. Dass es junge Menschen gibt, die zu ihren Arbeitgebern sagen: Mir ist Karriere nicht so wichtig, wie die richtige Work-Life-Balance. Ich will lieber nur 50 Prozent arbeiten. Das Geld reicht mir.

AUSBRUCH AUS DEM WORK-UND SPEND-ZYKLUS

Das Empfinden, keine Zeit zu haben, ist anscheinend weit verbreitet. Wir sind gestresst, arbeiten eine nicht enden wollende To-Do-Liste ab und unsere Zeit fühlt sich immer als zu wenig an. Leben wir nicht in permanentem Zeitnotstand und leiden deshalb an Zeitarmut?

Das ist im Grunde genommen ein verrückter Gedanke. Wir empfinden Zeitarmut und dabei ist die selbst gemacht. Da ist nichts naturgegeben. Wir reden hier nicht von Naturgesetzen.

 

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Mehr Zeit zu haben ist also ein effizientes Mittel, um Stress und Überlastung entgegen zu wirken. Die Verteilung von Zeit ist zu einer zentralen Gerechtigkeitsfrage unseres Jahrhunderts geworden. Corona hat das Gefühl von Zeitungerechtigkeit noch verstärkt. Zeitarmut hat während der Pandemie vielfach die Eltern betroffen, vor allem Frauen. Sie sind zuhause nach wie vor stärker gefragt und verdienen im Beruf im Schnitt immer noch weniger als Männer. Zum Gender Pay Gap kommt also ein Gender Time Gap hinzu. Was aber hat die Zeitrevolution ausgelöst?

Die Jugend glaubt uns die alte Geschichte nicht mehr. Die Geschichte: sei fleißig über 40 oder 45 Jahre und danach kannst du dich ausruhen. Ich persönlich bin Jahrgang 68. Ich bin in einer anderen Welt aufgewachsen. Wir haben nichts hinterfragt, als wir ins Berufsleben eingestiegen sind. Das war wie ein ungeschriebenes Gesetz.

Wenn man das aber nicht glaubt, dann kommt man sehr schnell zu der Überlegung: Ich könnte die Zeit schon jetzt nutzen, das ist doch viel besser. Und wenn ich sowieso nicht weiß, wovon ich im Alter leben soll, dann sind mir die Rentenpunkte auch egal. Und was wird bis dahin aus der Klimakrise? Wir haben Themen ohne Ende auf der Liste. Und eine grundlegende Erkenntnis ist, dass sich dieses Prinzip der Zeitsparkasse endgültig als das entpuppt hat, was es immer war: eine Fiktion, an die wir alle geglaubt haben.

KI UND ROBOTIK ALS BRANDBESCHLEUNIGER

Was wird sich dadurch denn in naher Zukunft ändern?

Ich empfinde die Aufregung, die wir augenblicklich um ChatGPT erleben, als geradezu heilsam. Weil wir auf einmal ein Gespür dafür bekommen, über welche Dimension wir eigentlich reden.

Robotik macht uns klammheimlich Angst. Wenn uns die Roboter die Arbeit abnehmen, ist dann nicht ein Großteil unserer Jobs in Gefahr?

Das können wir natürlich als schlechte Nachricht begreifen; wir können es aber auch als wirklich gute Nachricht verstehen. Sollen sie uns doch die Arbeit abnehmen! Wir merken aber auch, dass wir in jedem Fall unser Bild überprüfen müssen. Wir haben einfach zu lange unsere Vorstellung von Arbeit darüber definiert, dass der Mensch in der Arbeitswelt die Dinge tut, die die Maschinen nicht oder noch nicht können.

In der Fabrik sind die Maschinen, die heben und pressen. Daneben steht der Mensch und kümmert sich um die komplexeren Dinge. Wir entwickelten die Maschinen immer weiter und unsere Antwort über die letzten 200 Jahre war, dass wir Menschen uns immer weiter zurückgezogen haben. Aber wir merken jetzt angesichts Robotik und Künstlicher Intelligenz, dass dieses Ersatzmaschinen-Modell nicht mehr funktioniert. Und wir merken auch, dass es keine kluge Idee war, sich nur über das Defizit von Maschinen zu definieren.

Ist es eine sinnvolle Strategie Hunderttausende von Arbeitnehmern aus der Automobilindustrie in Kurzarbeit zu schicken und ihnen das Arbeiten zu verbieten, anstatt uns darum zu kümmern, wie wir denn Mobilität von morgen gestalten wollen? Ich denke nein, weil diese Haltung stark auf die Bewahrung setzt und damit immer größere Spannungen zur technologischen, gesellschaftlichen und digitalen Entwicklung mit sich bringt.

Mensch trägt ein großes Gehirn auf dem Rücken

Welchen Einfluss wird denn diese Entwicklung auf die Demografie in unserer Gesellschaft haben?

Wir brauchen dringend einen neuen Generationenvertrag. Wir wissen, dass das Lebensphasen-Modell: sequenziell eine Phase des Lernens, des Arbeitens und des fremdfinanziert-Werdens, heute nur noch bedingt und hochsubventioniert funktioniert. Das habe ich auch mit Chefvolkswirt Carsten Mumm von Donner und Reuschel kontrovers diskutiert. Das ist schon bald endgültig vorbei und nicht mehr zu halten.

BERUFE IM STÄNDIGEN WANDEL

Wir müssen uns von diesem Modell verabschieden. So schnell wie sich Technologie heute entwickelt, steht das doch im krassen Gegensatz zu der Vorstellung, dass Menschen etwas erlernen und für die nächsten 40 Jahre ausüben. Wir werden uns eher mit dieser Vorstellung anfreunden: Ich erlerne einen Beruf, praktiziere ihn vielleicht zehn Jahre und weiß jetzt schon, dass ich dann etwas anderes machen werde – wahrscheinlich eine Tätigkeit, die es heute noch gar nicht gibt, und die ich dann lernen werde. Und 15 Jahre später werde ich noch einmal etwas völlig anderes machen.

Nur wenn wir dieser Logik folgen, werden wir die echte Chance haben, uns von diesem Ersatzmaschinen-Modell zu lösen und zu einer Vorstellung von Arbeit kommen, die uns mehr Kraft, Wert und Sinn gibt, als sie uns nimmt. Auch die Vorstellung, dass wir Montag morgens voller Energie in die Fabrik gehen und Freitagabend völlig erschöpft von der Arbeit zurück kommen, wird damit zum Auslaufmodell.

Schöne neue Arbeitswelt – virtuell, hybrid, flexibel. Ist das, was uns heute noch ungewöhnlich erscheint, morgen schon Realität?

100-prozentig. Und das zieht sich durch alle Branchen. Wir werden keine ‚Thank God it‘s Friday-Partys‘ mehr feiern müssen, vielleicht feiern wir die schon montags. Endlich kann ich wieder mit Energie und neuen Impulsen zur Arbeit gehen. Wenn wir Technologie und Demografie zusammenbringen, kommen wir zu einer anderen Zusammensetzung unserer biografischen Struktur.

Was konsequenterweise fallen wird, ist die Tatsache, dass wir einmal einen Punkt erreichen, an dem wir aufhören zu arbeiten. Warum sollte ein Mensch, körperliche Anstrengung ausgeklammert, mit Mitte 60 aus dem Berufsleben ausscheiden? Vielleicht will er mit Mitte 60 keine acht Stunden täglich arbeiten. Aber es gibt doch ganz unterschiedliche Phasen im Leben.

Manchmal möchte ich mich im Job unbedingt einbringen und merke: ich profitiere davon. Manchmal steht die Familie im Vordergrund wegen des Nachwuchses. Das ist, glaube ich, Chance und Herausforderung zugleich.
Wir verstehen langsam, dass das nicht ein Widerspruch ist, sondern die Natur der Arbeit der Zukunft ist.

Dieses Verständnis führt zu einem völlig anderen Umgang mit der Zeit. Gute Zeit ist dann nicht per se nur jene, in der wir nicht arbeiten müssen. Zeitwohlstand ist doch, wenn ich die Dinge, die ich den ganzen Tag tue, auch im Kontext Erwerbsarbeit, Familie, Freunde oder Lernen und Hobbys als positive Zeit erlebe.

Viele Menschen halten ein Puzzle das einen Pfeil darstellt

PERSONALSUCHE UND WEITERGABE

Das bedeutet aber auch für Unternehmen komplett neu zu denken, sich von gewissen Führungsstilen zu verabschieden, sich anders zu organisieren und aufzustellen und im HR Bereich ganz anders mit der Personalsuche umzugehen.

Ja absolut. Übrigens nicht nur beim Rekrutieren von Personal, sondern auch bei der Weitergabe von Personal. Vielleicht ist es ja möglich, dass ich mich in einem Unternehmen weiterentwickeln kann. Wahrscheinlicher scheint mir jedoch, dass ich dafür von einem Unternehmen zum nächsten gehe. Heute haben wir dafür keine Kultur.

Das ist aber eine zentrale Herausforderung für HR der kommenden Jahre, solche Netzwerke aufzubauen, so dass ich einzelnen Mitarbeitern sagen kann: Pass auf, dein nächster Schritt müsste eigentlich dieser sein, den kann ich dir hier gerade nicht bieten, aber ich kann dir diesen Schritt bei einem anderen Unternehmen – und sei es beim schärfsten Konkurrenten – ermöglichen. Ich werde dich regelmäßig anrufen, um zu sehen, wie es dir geht, und ich hoffe, dass du dann für deinen übernächsten Schritt wieder zu uns zurückkommst. Solcherlei Mechanismen werden wir entwickeln müssen.

Werden wir durch die Transformation der Arbeitswelt zu mehr Zeitwohlstand kommen?

Wenn wir aufhören, Arbeit als eine Einschränkung unserer Zeit zu verstehen, und vielmehr Wege finden, Arbeitszeit als Teil unseres Zeitwohlstands zu begreifen, dann haben wir 24 Stunden pro Tag Zeitwohlstand.
Wenn wir aber nichts verändern, dann laufen wir Gefahr, dass junge Menschen jahrelang lernen, was Technologie längst kann. Nur, wo lernen sie mit Zeitwohlstand umzugehen? Wo lernen wir unser Leben selbstbewusst und selbstverantwortlich zu strukturieren und immer wieder neu zu definieren? Solche Themen müssen aus meiner Sicht dringend in die Lernagenden junger Menschen hinein, denn sonst kommen wir tatsächlich zu dem Punkt, dass Menschen nicht mehr wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen.

Das ist heute wohl noch ein Bildungsproblem, zu begreifen, dass wir ein Leben lang lernen und uns auch permanent verändern werden.

Mir scheint, dass unser Bildungssystem dem heute noch nicht gewachsen ist. Denn ich muss lernen mein berufliches Leben immer wieder neu zu erfinden und das als größte Chance zu begreifen.

Fotos: iStock

 

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