
Arm das Land …
Khalil Gibran beschreibt in seinem Werk „Der Garten des Propheten“ eine Situation, die für viele Länder dieser Welt und deren Bewohner gilt. Eine Passage* aus aktuellem Anlass.
Hier erfahren Sie mehr über
- Innere Einkehr und Öffnung
- Träumen und Erwachen
- Fehlenden Glauben
Text Khalil Gibran

Der Schriftsteller und Maler Khalil Gibran (1883 – 1931) zählt zu bekanntesten Autoren spiritueller Prägung. Er wurde im Libanon geboren und zog später nach Amerika. Sein Hauptanliegen: die Versöhnung von Christentum und Islam. „Der Prophet“ war ein Welterfolg.
Almustafa gelangte zum Garten seiner Mutter und seines Vaters. Da trat er ein und schloss das Tor, damit niemand ihm folgen konnte.
Vierzig Tage und vierzig Nächte blieb er allein in diesem Haus und in diesem Garten. Und keiner kam, nicht einmal zum Tor, da es geschlossen war; denn alle wussten, er wollte alleine sein.
Und als die vierzig Tage und Nächte zu Ende waren, öffnete Almusta das Tor, damit man eintreten konnte.
Und es kamen neun Männer, um im Garten mit ihm zu sein: drei Seeleute seines Schiffes, drei, die im Tempel gedient hatten, und drei seiner Kameraden, welche mit ihm in der Kindheit gespielt. Und sie wurden seine Schüler.

Eines Morgens saßen sie um ihn, doch es war Abwesenheit und Erinnerung in seinen Augen.
Da sagte der Schüler, welcher Hafiz hieß:
„Meister, erzähle uns von der Stadt Orphalese und dem Land, in welchem du zwölf Jahre geweilt.“
Almustafa schwieg; und er richtete seinen Blick zu den Hügeln und zum unermesslichen Himmel; und sein Schweigen brach.
Dann sprach er:
„Meine Freunde und Weggefährten! Arm das Land, das voller Lehren ist, aber ohne Glauben!
Arm das Land, das Kleider trägt, die es nicht selber webte, das Brot isst, das es nicht selbst erntete, und das Wein trinkt, der nicht aus eigener Kelter floss.
Arm das Land, das einen Tyrannen wie einen Helden verehrt und das einen ruhmbedeckten Eroberer für einen Wohltäter hält.
Arm das Land, das die Leidenschaft in seinen Träumen für gering erachtet, aber sich ihr beim Erwachen unterwirft.“

„Arm das Land, das nicht seine Stimme erhebt, außer beim Begräbnis, das nichts rühmt, außer seine Ruinen und sich nicht auflehnt, außer sein Hals liegt zwischen dem Schwert und dem Richtblock.
Arm das Land, dessen Führung arglistig ist, dessen Philosoph ein Gaukler und dessen Kunst Flickwerk und Fälschung ist.
Arm das Land, das seinen neuen Herrscher mit Trompetenstößen willkommen heißt und mit Hohngelächter ihn verabschiedet, nur um einen anderen wieder mit Trompeten zu begrüßen.
Arm das Land, darin die Weisen mit den Jahren schweigen und dessen stärkste Männer noch in der Wiege liegen.
Arm das Land, das gespalten ist in Teile, und darin jeder Teil ein eigen Land sich nennt.“
* Ausgewählt von Hans Christian Meiser
Fotos: Alamy / Heritage Image Partnership Ltd, iStock, Unsplash / Kyle Johnson, Jayy Torres