Kind mit blondem Haar legt den Kopf nachdenklich auf verschränkte Arme auf einem Tisch.

KINDERARMUT: „UNS FEHLTE ALLES“

Sicherheit, Wärme und Wertschätzung erfuhr Jeremias Thiel erst, als er mit elf Jahren seine Eltern verließ und in ein SOS-Kinderdorf zog. Mehr über seine Geschichte und Antworten auf Fragen wie: Was macht Familie aus und was braucht ein Kind?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Eine wertvolle Kindheit
  • SOS-Kinderdorf und Jugendhilfe
  • Warmherzigkeit und ehrliche Anerkennung

 

Text Karen Cop

Schwarz-weiss Porträt von Jeremias Thiel

Jeremias Thiel, geb. 2001 in einem von Armut geprägten Stadtteil von Kaiserslautern, bat mit elf Jahren um Aufnahme in der Jugendhilfe und wuchs bis zu seinem 17. Lebensjahr im SOS-Kinderdorf auf. Mit 15 wurde er Mitglied im UNICEF-Juniorbeirat für Kinderrechte, 2020 erschien sein Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance.“ Im Piper Verlag. Derzeit macht er einen Master zum Thema Wirtschaftsansiedlungspolitik an der Harvard Kennedy School of Government, USA.

Kinderarmut in Deutschland? Gibt’s nicht! So denken immer noch viele, weil Kinderarmut sich hier nicht mit verstörenden Bildern zeigt wie aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt. In Deutschland ist Armut oft nicht sichtbar und doch sind laut einer alarmierenden Meldung des Deutschen Jugendinstituts, einem der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas, über 3,5 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland von Armut bedroht.

Diese relative Armut bedeutet nicht zwangsläufig eine Bedrohung durch andauernden Hunger, aber da sie materiell und sozial benachteiligt, werden die Kinder ausgegrenzt und haben nicht die gleichen Chancen, sich zu entwickeln wie andere.

Viele von ihnen leben in Armut, weil ein Elternteil alleinerziehend ist oder die Eltern mit ihrer Arbeit zu wenig Geld verdienen, um den Lebensunterhalt für eine Familie zu bestreiten. Bei anderen sind die Eltern zu krank, um zu arbeiten und für ihre Kinder zu sorgen, so wie bei Jeremias Thiel. Sein Vater leidet an starken Depressionen, seine Mutter war spielsüchtig, beide sind langzeitarbeitslos.

Das Jugendhaus von SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern.
Das Jugendhaus von SOS-Kinderdorf in Kaiserslautern

DER WEG AUS DER ARMUTSFALLE

Kindern und Jugendlichen wie Jeremias und seinem Bruder konnte und kann SOS-Kinderdorf mit seinen hochengagierten Teams, ehrenamtlichen Mitarbeitern und Spenden von Sponsoren ein sicheres Zuhause bieten. SOS-Kinderdorf, die Jugendhilfe, Stipendien und viele Menschen, die ihn unabhängig von seiner Familie auf seinem Weg unterstützt haben, trugen die Bausteine bei, mit denen es Jeremias bis nach Harvard geschafft hat. Neben seinem Studium engagiert sich der heute 24-Jährige politisch und als Autor gegen Kinderarmut — weil diese zwar meistens eine Folge von Elternarmut ist, aber nicht das Schicksal der Kinder sein muss.

Deshalb will Jeremias Thiel anderen Kindern mit seiner persönlichen Geschichte Mut machen und ihnen zeigen, dass man der Armutsfalle in eine bessere Zukunft entkommen kann, indem man Hilfe sucht. Er sagt: „Für mich hat sich alles verändert, als jemand angefangen hat, an mich zu glauben.“

Mehr über Kinderarmut und seinen Weg erzählt Jeremias im folgenden Interview.

Möchten Sie Kindern helfen? Werden Sie Zukunftssponsor!

Hier erfahren Sie mehr über SOS-Kinderdorf und Projekte wie die Jugendwohngruppe Neubau Frankfurt:

Mehr Informationen

Jeremias, Ihre Eltern hatten keine Kraft, keine Zeit und kein Geld, um sich ausreichend um Sie und Ihren Bruder zu kümmern. Sie haben deshalb als 11-Jähriger beschlossen, Ihre Eltern zu verlassen und bei der Jugendhilfe Hilfe gesucht. Was ging der Entscheidung voraus?

Seit meiner frühesten Kindheit hat die Abwesenheit meiner Eltern mein Umfeld Zuhause geprägt. Da sie psychisch krank sind, war Dysfunktionalität und Strukturlosigkeit die Norm. Kurz: Sie waren mit sich selbst beschäftigt und uns fehlte alles.

Die Unterschiede zu den Eltern anderer Kinder habe ich ganz klar wahrgenommen, sowohl denen aus bürgerlichen wie aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen, in denen zumindest Familie ein Stück weit gelebt wird und die Bedürfnisse der Kinder an erster Stelle stehen.

Diese Beobachtungen legten den Keim zu der Entscheidung, meine Eltern zu verlassen. Im Jahr 2012 „blühte“ er auf. Meine Mutter hatte zuvor mein Geld verspielt statt einzukaufen, mein Bruder war krank – ich bin mit ihm weggegangen.

Mehrere junge Erwachsene sitzen zusammen, lachen und unterhalten sich.

Beschreiben Sie uns bitte, wie es ist, als Kind in einem SOS-Kinderdorf anzukommen.

Zunächst hatte ich große Angst vor dem „Heim“. Ich wusste nicht, ob das wie in manchen Filmen ist: Ein Nonnenbunker mit strengen Betreuern, womöglich Gewalt. Die Fahrt dorthin war die wahrscheinlich schwierigste meines Lebens!

Nach 40 Minuten kamen wir an und ich war total erstaunt wie das SOS-Kinderdorf Jugendhaus in Kaiserslautern in die Nachbarschaft integriert ist neben einem Mehrparteienhaus, ein paar schickeren Häusern und einem internationalen Studentenwohnheim gegenüber.

Das Staunen ging weiter: Ich kam in mein Zimmer, mir wurde ein Schlüssel überreicht und alles hatte etwas Fürsorgliches, im Sinne: Komm erst einmal an hier in deinem neuen Zuhause.

Auch erinnere ich mich, wie ich nach dem ersten Betreten meiner neuen vier Wände in den Mittelbereich des Hauses ging und alle Betreuer gerade dort saßen. Ich war von all dem Neuen emotional überreizt, eben ein Kind, und brach in Tränen aus. Simone, meine Betreuerin, hatte ein total feines Gespür und kam gleich, um mich zu trösten. Überhaupt bin ich auf ganz warmherzige Menschen gestoßen.

Fünf Personen sitzen am Tisch und essen zusammen.

„IMMER FÜR UNS DA: COOLE BETREUER UND FRISCH ZUBEREITETES ESSEN“

Was gefiel Ihnen im SOS-Kinderdorf besonders?

Das strukturierte Zusammenleben, die Möglichkeiten, mich zu entwickeln und unsere Sommerfreizeiten. Wir sind z.B. nach Spanien oder Südfrankreich gereist und nach Paris, oder haben Tagestrips an den Bodensee gemacht. Das waren natürlich die Highlights, aber auch sonst gab es eine ausgestaltete Freizeit, in der wir z.B. ins Schwimmbad gingen.

Im Alltag bekamen wir Mittagessen und lernten Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Ich war in einer Jugendhilfeeinrichtung mit anderen Jugendlichen und coolen Betreuern, die rund um die Uhr für uns da waren.

Einerseits wurden uns Dienste zugeteilt: Wir sorgten abwechselnd für das Abendessen, kauften Brot, Wurst, Käse. Anschließend haben wir sauber gemacht, damit alles schön für alle ist und bleibt. Wir hatten Frühstücksdienst, die Vorbereitung des Sonntagsbrunchs und Putztage, wie in einer Wohngemeinschaft…

Andererseits – und das war sehr schön! – kamen wir nach der Schule nach Hause und es war immer gutes Essen da, das die Hauswirtschaftskräfte für uns frisch zubereitet hatten.

Konnten Sie Ihre Probleme mit den anderen Jugendlichen teilen?

Auch die anderen Kinder im SOS-Kinderdorf hatten wenig Kontakt zur bürgerlichen Mitte und schon extreme Situationen erlebt, die an keinem spurlos vorbeigehen, doch die Privatsphäre blieb geschützt. Denn wie überall waren nicht alle Beziehungen zum einen oder anderen gleich nah. Jugendliche Themen, wie z.B. Essstörungen, haben wir aber auch zusammen besprochen. Und wir hatten regelmäßige Gruppenabende, in denen wir uns Feedback gegeben haben, was gut lief oder was gestört hat.

  • Junges Mädchen mit Schutzbrille und Bohrmaschine in der Hand steht an einer Werkbank mit einer erwachsenen Frau.
  • Junges Mädchen sitzt mit Heft am Tisch, Lehrerin beugt sich zu ihr.

„WIR HABEN SYSTEMATISCH GELERNT, UNSEREN ALLTAG ZU STRUKTURIEREN.“

In dem Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance.“ über Ihre Kindheit beschreiben Sie anschaulich, wie wichtig Struktur für Sie war und wie schwer es ohne diese für Sie als Kind wurde, trotz Chaos Ihren Alltag zu bewältigen. Haben Ihre Jugendbetreuer Ihnen die fehlende Ordnung und das damit einhergehende Gefühl von Sicherheit geben können?

Kinder brauchen Struktur für ihre Orientierung und um sich zu organisieren. Verlässliche Selbstorganisation habe ich Zuhause nicht gelernt, aber sie ist nunmal eine Grundlage für Erfolg in der Uni oder im Beruf, ohne dies ist man weniger verlässlich und anfälliger für Aussetzer. Man muss auch Nein sagen können, seine gesunden Grenzen kennen.

Deshalb haben wir systematisch gelernt, unseren Alltag und uns zu strukturieren. Es gab ein Regelwerk und Phasensystem mit Stufen von eins bis fünf. Geschaut wurde: Wie bin ich zum Frühstück erschienen? Ist mein Zimmer aufgeräumt? Wenn man neu in die Wohngruppe kam, hatte man automatisch Phase 4. Dann gab es für alles Punkte, auch für persönliche Ziele. Eins meiner ersten war es, meine Käsefüße loszuwerden. Die hatte ich, weil ich nur ein paar Schuhe besaß, also musste ich meine Füße häufiger waschen.

Die Punkte und das Feedback haben mir gezeigt, in welcher Phase ich bin. Wenn man eine höhere Stufe erreicht hat, bekam man mehr Rechte und Freiheiten. Und wenn ich wochenlang mein Zimmer nicht sauber gemacht habe, gab es Punktabzüge und Kürzungen bei der Handy- und Computerzeit.

Sie sehen, wodurch man Struktur erlernt: ein bisschen durch Selbstregulierung und die Erfahrung, dass man gewisse Rechte bekommt, wenn man sich an die Gegebenheiten und Vereinbarungen hält und etwas dafür tut.

Wer hat Ihnen besonders geholfen, Kraft zu tanken und Ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln?

Meine ehemalige Betreuerin Anja, die vor allem in meinen Jahren im SOS-Jugendhaus stets für mich da war. Sie ist meinen Weg mitgegangen, auch wenn sie manchmal noch nicht vollumfänglich überzeugt war.

Später haben mich Menschen am United World College, das ich mit Vollstipendium durch die Deutsche Stiftung UWC mit 16 Jahren erhalten habe, sehr geprägt. Akademisches Arbeiten habe ich bei meinem Theaterlehrer Emmett gelernt, der heute Director of Studies am UWC Robert Bosch College in Freiburg ist, meiner Alma Mater. Überhaupt durfte ich immer wieder tolle und verständnisvolle Menschen treffen, die wichtig für meine Entwicklung waren und sind.

Schwarz-weiss Video von Jeremias Thiel
Hier sehen Sie Jeremias Thiel live

„ICH UNTERSCHEIDE FAMILIE UND ZUHAUSE.“

Wie würden Sie vor diesem Hintergrund Familie definieren?

Ich unterscheide Familie und Zuhause. Zur Familie gehört eine gewisse Grundverbundenheit. Die erfahre ich von Menschen, auf die ich mich verlassen kann, also auch von Lehrern und Freunden wie meinem besten Freund Marco. Sie sind Menschen, die ehrlich sind, ich suche sie mir aus. Familie muss nicht nur ein bürgerlich gelebtes Konstrukt sein. Für mich entscheidend sind Werte und Ziele, gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung. Und wenn man frei von Angst man selbst sein kann.

Trotzdem merke ich immer wieder, dass ich nicht aus einer Familien-Familie stamme, etwa im Zusammenhang mit Freund:innen. Irgendwann werden Fragen gestellt: Was machen deine Eltern? Wovon soll ich dann berichten?

Das beschäftigt mich jetzt mit Mitte 20, das bleibt mir, denn die Frage geht weiter: Wie lebe ich in Zukunft Familie? Meine Kinder würde ich meinen Eltern nicht anvertrauen.

Was würden Sie Kindern sagen und raten, die in einer ähnlichen Situation sind wie Sie damals?

Bewegung ist das Wesentlichste. Es gibt Phasen, die von Dreckfressen geprägt sind und die Phasen, in denen man den Glauben an sich selbst nicht aufgeben darf – selbst wenn alles Äußere dagegenspricht.

Außerdem: Kommuniziert proaktiv. Fragt viel, fragt nach! Mehr als oft sind Menschen bereit, einem zu helfen. Auch wenn man gerne reiche oder arme Menschen in die ein oder andere Richtung zeichnen will, so glaube ich, dass die überwältigende Mehrheit von Menschlichkeit und Empathie geprägt ist. Mehr als oft habe ich selbstlose Hilfsbereitschaft erlebt.

Zwei Kinder stehen vor grüner Schultafel und halten ein Pappschild mit Stil in der Hand.

„KINDERARMUT IST IMMER DAS PRODUKT VON ELTERNARMUT.“

Sie selbst gehen nicht nur seit vielen Jahren über viele Stolpersteine Ihren Weg, Sie engagieren sich außerdem für Kinderrechte und gegen Kinderarmut. Was sind die wichtigsten Merkmale von Kinderarmut?

Grundsätzlich gilt: Armut in einem Land wie Deutschland ist auch dann noch Armut, wenn man es absolut mit der Armut in anderen Ländern vergleicht, die die Weltbank mit einem Tagesverdienst von unter 2.15 US-Dollar definiert. Aber es wäre doch absurd, wenn wir uns in einem Industrieland wie Deutschland an einer absoluten Armutsdefinition orientieren. Daher spricht man hier und in anderen Industrieländern von relativer Armut, die 60 Prozent unter dem Medianeinkommen, dem sogenannten mittleren Einkommen, liegt.

Kinderarmut ist immer das Produkt von Elternarmut. Sie bedeutet z.B. nachweislich schlechtere Ernährung. So viele Kinder bekommen kein gutes, wirklich nährstoffhaltiges Essen, das den Namen verdient. Dabei geht schlechte Ernährung einher mit schlechterer Gesundheit, Krankheiten wie Diabetes, etc.. Dazu kommt die Benachteiligung im Bildungsbereich, angefangen bei der frühkindlichen Benachteiligung im Bereich Logik- und Sprachentwicklung, die noch vor dem Schulanfang ein Ungleichgewicht schafft.

Eine Frau liest drei Kindern aus einem großen Buch vor.

„Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung.“, sagte Nelson Mandela. Dem sind Sie entkommen: Aktuell studieren Sie in Harvard, USA, und machen Ihren Master. Wie geht Ihr Weg weiter?

Ja, im Moment lerne ich, nach dem Harvard-Konzept zu leben. Es zielt darauf ab, mithilfe von Werten faire und für alle Beteiligten vorteilhafte Ergebnisse zu erzielen. Das gelingt, wenn man sich gegenseitig als Partner betrachtet, nicht als Freund oder Feind. Positionen und Personen muss man voneinander trennen, etwa in Verhandlungen oder bei Konfliktlösungen beruflicher wie persönlicher Art.

Vielleicht gehe ich irgendwann in die Politik, aber nicht direkt nach dem Studium. Die Halbleiter- und Energieindustrie interessiert mich, oder erstmal ein Praktikum bei einem großen Konzern, der nachhaltig arbeitet.

Möchten Sie Kindern helfen? Werden Sie Zukunftssponsor!

Hier erfahren Sie mehr über SOS-Kinderdorf e.V. und Projekte wie den Mittagstisch, z.B. im Kinderdorf Düsseldorf:

Mehr Informationen

Fotos: SOS Kinderdorf / Maximilian Geuter, Christina Körte, Sebastian Pfuetze, Jonas Nefzger

Donner & Reuschel

ECHTE WERTE –
NEWS. IMPULSE. PERSPEKTIVEN.

Mit dem DONNER & REUSCHEL Newsletter „Echte Werte“ erhalten Sie wertvolle Impulse und Tipps rund um Ihre Finanzen.
Verpassen Sie keine aktuellen Themen aus dem Finanzbereich und darüber hinaus.

MELDEN SIE SICH JETZT AN


Newsletter
Abonnieren