Eine Lightbox mit dem Text "Think outside the box" auf einem schwarzen Stuhl.

WERT­VORSTELLUNGEN UND DER WERT DER WERTE

Wer bildet Wertegemeinschaften und aus welchen Motiven? Welche Werte lassen sich verwirklichen oder bleiben im Wertehimmel, sofern sie nicht dem Werteverfall geweiht sind? Eine Untersuchung von Hans Christian Meiser über Werte und Wertsysteme, Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die Jahrhunderte alt sind, sowie über Grundwerte, die so aktuell sind wie noch nie.

text Hans Christian Meiser

Portrait in Schwarz-Weiß von Hans Christian Meiser

Der Philosoph und Publizist Dr. Hans Christian Meiser schrieb für Purpose eine mehrteilige Untersuchung zur Wertschöpfung. Hier lesen Sie die erste Folge; in der zweiten bringt eine provokante Frage eine überraschende Lösung.

Die Werte-Diskussion ist so alt wie die Menschheit, doch seit der Pandemie und den Verhaltensweisen des Donald Trump ist sie uns wieder bewusster geworden. Am Horizont unseres Wertehimmels tauchen Fragen auf, die wir als Spaßgesellschaft verdrängt haben, zum Beispiel: Gibt es Werte, die in allen Kulturen gleich sind oder sind sie regional unterschiedlich, weil sie beispielsweise vom jeweils herrschenden geographischen und/oder politischen Klima geprägt sind? Gibt es Werte, die die Jahrtausende unbeschadet überdauern? Oder müssen sich Werte den soziokulturellen Gegebenheiten anpassen, verändern also ihren „Markenkern“? Und schließlich: Gibt es Wertbegriffe, die stärker sind oder besser gefragt: Gibt es Wertegemeinschaften, die ihre Werte wirkungsvoller leben als andere?

Wertvorstellungen am Tempelberg

Wie schwierig der Umgang mit dem Symbolgehalt von Werten ist, zeigt folgende Episode: Im Herbst 2016 besuchten Kardinal Marx und Landesbischof Bedford-Strohm als die beiden führenden Vertreter der deutschen Christen (fast 24 Millionen Katholiken, über 22 Millionen Protestanten) den Tempelberg und die Klagemauer in Jerusalem. Als sie von den muslemischen und jüdischen Zuständigen für die heiligen Bezirke gebeten wurden, ihre Amtskreuze nicht zu tragen, kamen sie dieser Aufforderung nach.

Sie wurden später dafür kritisiert, obwohl die Handlung beziehungsweise Nichthandlung nicht von ihnen selbst veranlasst worden war und sie der Bitte nachkamen, nicht zu provozieren, wie der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland später erklärte.

Symbole als Zeichen der Werthaltung

Nun kann man sich fragen, wieso ein christliches Kreuz etwas Provozierendes ist beziehungsweise was es denn provoziert, und weshalb Vertreter anderer Religionen weniger Rücksicht auf das Werteverständnis ihrer Gastgeber nehmen. Da gehört ein Symbol, egal wie es aussehen mag, nun einmal dazu.

Hinter all dem steht aber eine viel tiefere Frage, nämlich die, warum ein ideeller Wert, der durch ein Symbol repräsentiert wird, zu Ausschreitungen, Provokationen, ja, in letzter Konsequenz zu Kriegen führen kann. Und man darf dabei nicht vergessen, dass die meisten Kriege im Zeichen des Kreuzes nicht gegen Andersgläubige geführt wurden. Christen kämpften gegen die jeweils andere christliche Konfession, also gewissermaßen gegen sich selbst.

  • Künstlerisches Portrait eines jungen Mannes.
  • Wertvorstellungen - aktuell und antik

Glaubenssätze und Wertehimmel

In jedem dieser Religionskriege ging es um rein ideelle Werte, nicht um materielle Werte wie Wasser, Gold oder andere Bodenschätze. Die Besitznahme von Ländereien oder großen Reichen war nur ein Nebeneffekt. Tatsächlich ging es um die „reine Lehre“, also darum, wer das Herrschaftswissen über die göttlichen Pläne und die irdischen Antworten darauf besitze. Selbst im 21. Jahrhundert gibt es noch eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob wiederverheiratete Geschiedene zur Eucharistiefeier zugelassen werden oder nicht. Es geht dabei letztlich um einen christlichen Grundwert, nämlich den, dass die Ehe zwischen Mann und Frau heilig ist („bis dass der Tod uns scheide“). Geschiedenen wird der symbolische Leib Christi als Strafe vorenthalten.

Zur Entstehung der Werte

Viele Zeitgenossen, auch aus kirchlichen Kreisen, meinen, dass die Welt andere Probleme als das oben beschriebene hat. Selbst Papst Franziskus als Vertreter der höchsten und letzten Werteinstanz der Welt, machte darauf aufmerksam, dass Familien heute vor ganz anderen Herausforderungen stehen. Womit wir bei einem weiteren Aspekt unseres Themas sind: Wie entstehen Werte, wie werden sie vermittelt und wer beansprucht sie für sich?

In aller Kürze: Werte entstehen aus den moralischen Vorstellungen von Menschen, als Konsequenz aus dem Verhalten von vielen und als Schutz des Individuums vor sich selbst und anderen. Als Beispiel möge der Wert vom „Erhalt des Lebens“ dienen: Gäbe es das Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht und wird es uns nicht in das Gewissen gebrannt, würden wir unter Umständen problemlos andere töten können. Im Krieg ist dieses Gebot ja ohnedies aufgehoben – mit der Begründung entweder der Selbstverteidigung oder der falschen Wertvorstellungen der „bösen“ anderen Seite, die man jetzt – durch Waffen, Bomben und Zerstörung – zum richtigen Wertesystem bekehren müsse.

Weltethos für den Weltfrieden

Diese Rechtfertigung der eigenen Werte ist jeder Kultur und jeder Religion zu eigen. Der Schweizer Theologe Hans Küng hat Anfang der 1990er Jahre das Projekt „Weltethos“ ins Leben gerufen, in dem verbindliche Normen, Werte, Ideale und Ziele die sich bekämpfenden Wertvorstellungen ersetzen sollen. Küng sagt, dass wir ohne Weltethos nicht überleben werden. Ohne Religionsfrieden gäbe es keinen Weltfrieden. Und die Voraussetzung für den Religionsfrieden sei der Dialog der Religionen. Die politische Entwicklung seit dem 11. September 2001 scheint dem Denker Recht zu geben.

Ein Wertesystem für alle?

Gibt es noch weltliche Institutionen, die für sich beanspruchen können, Werte zu vertreten, die für alle Nationen und Völker dieser Erde bindend sind? Die ernüchternde Antwort lautet: es gibt sie, aber sie haben kein Durchsetzungsvermögen mehr. Die Institution der Vereinten Nationen zum Beispiel, die gegründet wurden, um den Weltfrieden zu sichern, erweist sich durch das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder als wenig wirkungsvoll.

Sie ist zudem keine moralische Institution ersten Ranges, da es seit ihrer Gründung 1945 mehr Kriege als jemals zuvor mit schätzungsweise 25 Millionen Toten gab (andere Quellen sprechen sogar von 40 Millionen).

Wer bietet Wertschöpfung?

Die einzig verbliebene, weltweite moralische Instanz, die katholische Kirche, hat mit den Folgen von Skandalen wie Kindesmissbrauch und Prunksucht zu kämpfen. Deshalb haben die Gläubigen ihrer Kirche in den letzten 15 Jahren millionenfach den Rücken gekehrt. Beide christlichen Großkirchen müssen sich vorwerfen lassen, dass sie sich immer mehr in die Politik einmischten und ihre wahre Aufgabe als Seelsorger vernachlässigten.

„Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird schnell Witwer“, sagte der Philosoph Friedrich Nietzsche – und trifft damit den Kern der Gottesferne des modernen Individuums, das sich bei aller Libertinage in ethischen Fragen durchaus Orientierung wünscht.

Nährboden für Extremismus

Doch wer soll diese noch geben? Die Eltern? Die Lehrer? Die Universitäten? Woher sollen sie ihre Kenntnisse, ihre Überzeugungen, ihre Haltungen beziehen, wenn sie diese ebenfalls nicht tiefgreifend vermittelt bekommen haben? So entstehen dann Meinungen, die letztlich Ansichten über Ansichten sind. Sie tragen kaum dazu bei, den schwierigen Fragen des Lebens gegenüber Haltung zu beziehen. Daraus resultiert wiederum Verunsicherung und diese ist der Nährboden für Extremismus, deren Vertreter gerne womit hantieren? Richtig: Mit Werten.

Jahrhunderte alte Handlungsmuster

Beinahe hätte ich „vermeintliche“ Werte geschrieben, doch ich habe es unterlassen. Weshalb? Weil ich damit gesagt hätte, dass es Werte gibt, die wertvoller sind als andere. Oder ist es doch so? Betrachten wir die westlichen Grundwerte, die die Demokratie hervorbrachten. Sie wurden durch die Französische Revolution in das Bewusstsein der Menschen gebracht und lauten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Wir, die wir damit groß wurden, halten diese Werte für unantastbar.

Das Problem: Es treten neue gesellschaftliche Kräfte auf, die uns zeigen wollen, dass ihre Werte wesentlich besser und stärker sind, und dass die westlichen letztlich nur zur Dekadenz führen. Diese Werte lauten Unfreiheit, Ungleichheit, Unbrüderlichkeit.

Jemand blickt im Abendrot mit einem Fernglas auf eine Stadt.

Motive für eine Werteordnung

Und während sich ganze Kommissionen darüber Gedanken machen, durch welchen Begriff man in einer gendergerechten Welt die „Brüderlichkeit“ ersetzen könnte (Ergebnis: „Geschwisterlichkeit“), sieht sich ein Teil der modernen Welt der Gefahr ausgesetzt, in vordemokratische, mittelalterliche, unterdrückende Zeiten zurückzufallen. Die Toleranz, ebenfalls eine ungeheure Errungenschaft der Demokratie, steht in Gefahr, ausgenutzt und unterlaufen zu werden, damit Gruppierungen gleich welcher Art Macht erlangen und intolerant agieren können.

Das offene System führt sich sozusagen selbst ad absurdum, aber ein geschlossenes System kann auch nicht punkten, denn es ist gerade durch seine Abschottung ein totes System, das sich nicht weiterentwickeln kann.

Wertegemeinschaft und Werthaltung

Kleineren Wertegemeinschaften fehlt es an Aufmerksamkeit. Manche Experten sagen aber auch, dass vor allem die großen Kirchen bessere Marketingarbeit leisten und sich auf ihre Kernkompetenz „Seelsorge“ rückbesinnen müssten. Ich füge hinzu: auch und vor allem auf die Wertevermittlung.

Im Buch- und Filmklassiker „Ben Hur“ fragt der Römer Messala, wie man das aufkommende Christentum bekämpfen könne. „Ihr könnt den Leuten den Kopf einschlagen“, antwortet Ben Hur, „Ihr könnt sie festnehmen und ins Gefängnis werfen, aber Ihr könnt ihre Gedanken nicht einsperren. Wie kann man eine Idee bekämpfen? Und besonders eine neue Idee?“ „Ihr fragt, wie man eine Idee bekämpfen kann“, sagt daraufhin Messala. „Mit einer anderen Idee.“ Womit wir genau bei unserer Fragestellung sind, nach dem Wert der Werte.

„Wahre“ Werte verwirklichen

Werte haben keinerlei Wert, wenn sich niemand an sie hält – so meine These. Denn Werte stellen ein ethisches System dar, das durch sein Eingebundensein in kulturelle, soziologische, psychologische, politische wie theologische Umstände und Verhältnisse zumindest vordergründig einem Wandel unterliegen können.

Gibt es trotz der Verschiedenheit der Ansatzpunkte ethischer Systeme eine relative Gleichartigkeit der Inhalte? Kann man trotz der Mannigfaltigkeit sittlicher Lehren eine mögliche Übereinstimmung ihrer Aussagen feststellen und sagen, dass Werte etwas allgemein Verbindliches sind? Gibt es Werte, die einen universellen Anspruch haben, der für alle Kulturen und für alle Zeiten gilt? Oder dienen sie nur Herrschern zur Untermauerung ihrer Macht, die mit dem Aufstellen einer Werteordnung das Gewissen ihrer Untertanen beeinflussen wollen? Damit wollen wir uns im zweiten Teil unserer Untersuchung beschäftigen.

Fotos: iStock, Unsplash/Nikita Kachanovsky

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