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Anerkennung: Der Kampf um eine Lebensquelle, Teil 2

Wie sehr geistige und soziale Notwendigkeiten verbunden sind, damit in einem wechselseitigen Prozess etwas entsteht, das die Gesellschaft zusammenhält, zeigt diese Untersuchung über Anerkennung.

Text Barbara Strohschein

Schwarz-Weiß-Bild von Dr. Barbara Strohschein.

Dr. Barbara Strohschein ist Philosophin und Expertin für Wertefragen. Sie ist in Forschung und Beratung tätig. Warum wir Anerkennung brauchen und wie wir mit Kränkungen umgehen können – das sind ihre Hauptthemen.

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as heißt Anerkennung? Angedeutet habe ich es schon im ersten Teil dieses Beitrags: Anerkennen bedeutet weit mehr als Lob und Bestätigung. Im Begriff Anerkennung selbst ist „Erkennung“ und „Erkenntnis“ enthalten. Erkenntnis ist ein Grundthema der Philosophie. Man würde trotzdem nicht sofort annehmen, dass Philosophen sich ausführlich mit diesem so psychologisch anmutenden Allerweltsthema befasst haben: wie z.B. Hegel, Honneth, Frazer, Riceur, Ikäheimo und andere.

Ich habe nicht die Absicht, hier die verschiedenen Ansätze zu referieren. Vielmehr will ich die Grundstruktur der Anerkennungsproblematik zur Sprache bringen: Mit dem Ziel, Sie anzuregen, sich mit der Vielschichtigkeit dieses existentiellen Problems zu befassen und für sich selbst Schlüsse zu ziehen.

Anerkennung (nicht nur) als philosophisches Problem

Zunächst frage ich nach den im Wort Anerkennung liegenden Bedeutungen: Das Erkannte wird anerkannt, also nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch akzeptiert. Dem Erkenntnisakt allein folgt nicht unbedingt auch ein Akt der Akzeptanz. Erkennen und Anerkennen sind nicht identisch. Jede Erkenntnis kann auch abgelehnt werden und wird damit – streng genommen – hinfällig. Denn wenn Sie etwas erkannt haben, was Sie nicht akzeptieren, was tun Sie dann?

Gehen wir noch weiter: Dem Erkennen müssen zwei Akte vorausgehen, damit es überhaupt stattfinden kann: Sehen und Wahrnehmen. Das Sehen ist ein Aspekt des Wahrnehmens, aber keineswegs der einzige. Wer hinsieht, sieht zwar etwas. Aber ist damit auch Hinhören, Hinspüren, Hinfühlen verbunden? Nicht unbedingt. Am Beispiel der Eltern-Kind-Beziehung ist dies gut deutlich zu machen. Wenn Eltern wissen, dass ihr Kind Liebe, Recht und Wertschätzung braucht, um auf bestmögliche Weise heranzuwachsen, dann heißt dies noch lange nicht, dass sie mit dem Kind mitempfinden können und dementsprechend handeln.

  • Ein Mann schüttelt einer Frau die Hand.
  • Blick von unten auf eine Hauswand, an mehreren Fenstern klatschende Menschen.

Anerkennung ist mit einem Vorgang verbunden, der den ganzen Wahrnehmungs-, Sinnes, Vernunftapparat des Menschen erfordert.

Dazu kommt, wie schon gesagt, ein weiterer notwendiger Schritt: das Handeln. Was nützt es, wenn etwas erkannt und anerkannt wird, ohne dass die Anerkennung einen Ausdruck findet? Was bringt es, wenn Eltern die Hilfsbedürftigkeit eines Kindes zwar anerkennen, aber keine Zeit für das Kind haben? Was kommt dabei heraus, wenn ein Staat einen anderen per Vertrag anerkennt, aber bei der nächstbesten Gelegenheit mit ihm einen Krieg anfängt? Wenn ein Politiker die Menschenrechte abstrakt anerkennt, aber seine Parteigenossen entwertet, weil er die Konkurrenz zu ihnen nicht erträgt?

Wir können also an diesen und vielen weiteren Beispielen sehen, dass Anerkennung erst unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt möglich ist und dass sie mit verschiedenen Akten verbunden sein muss, damit von ihr die Rede sein kann: sehen, wahrnehmen, erkennen, akzeptieren und handeln. Wenn einer dieser Akte wegfällt, lässt sich streng genommen nicht mehr von Anerkennung sprechen. Dann bleibt Anerkennung ein formaler Akt, ein Lippenbekenntnis ohne Folgen.

Anerkennen als geistige und soziale Notwendigkeit

Mit dieser Einsicht möchte ich eine weitere Perspektive eröffnen, um die Brisanz des Problems zu verdeutlichen. Anerkennung ist die Grundbedingung für eine friedliche Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen. Denn, wenn Person A Person B nicht sieht, nicht wahrnimmt, nicht erkennt, nicht akzeptiert, dann entsteht keine Beziehung oder eben: Missachtung. Das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und Nationen.

Die Beziehungslosigkeit – durch Nichthinschauen und Nichtverstehen oder die Missachtung führen logischerweise zu massiven Konflikten. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die Struktur der Anerkennung vor Augen führt:
Anerkennung geht von Individuen aus, bezieht sich auf Individuen: Ich erkenne mich an, ich erkenne dich an. Sie findet in intersubjektiven Beziehungen statt: Zwischen Paaren, Kollegen, Gruppenmitgliedern, Staaten, Parteien. Sie setzt zahlreiche Fähigkeiten voraus: Sehen, Unterscheiden, Erkennen, Akzeptieren, Handeln. Sie ist verbunden mit: emotionalen, sinnlichen, kognitiven Vorgängen. Mit Empathie, Hinfühlen, Hinspüren, Hinhören, Hinsehen, Begreifen und Verstehen, worum es geht und mit einem vernunftgesteuerten Handeln, das über die eigenen Interessen hinausgeht.

Sie hat verschiedene Ausdrucksformen wie: Liebe, Freundschaft, Lob, Zuneigung, Wertschätzung, Rechts- und Regelformen. Sie findet in verschiedenen Bezugsfeldern statt wie: im Privat- und Berufsleben, in der Öffentlichkeit, in den Medien und der Politik. Fehlende Anerkennung drückt sich aus durch: verbale Angriffe, Misshandlungen, Entrechtungen, Ausschließungen, Entwürdigung und Beleidigung. In dieser kurz zusammengefassten Übersicht erweitere ich die Struktur des Sozialphilosophen Axel Honneth, die er in seinem Buch „Kampf um Anerkennung“ vorschlägt.

Konflikte, die durch mangelnde Anerkennung erstehen

Wie verwoben diese Strukturaspekte sind, sehen wir in den Konflikten, die durch mangelnde Anerkennung entstehen: Krieg, Gewalt, Streit, Mobbing, psychische und körperliche Krankheiten. Mangelnde Anerkennung erweist sich so als ein Existenzproblem schlechthin.

Dennoch gibt es Hoffnung und Gründe, nicht zu resignieren: Der geistige Prozess, der mit Anerkennung verknüpft ist, baut auf die grundsätzlich vorhandene Fähigkeit des Menschen auf, zwischen sich und einem anderen, dem Nicht-Ich, zu unterscheiden. Diese Fähigkeit erlaubt den Einsichtigen, sich sowohl als getrennt als auch verbunden mit anderen Menschen zu erleben. Die Trennung wird dann als Problem aufgehoben, wenn die Andersartigkeit des Anderen gesehen, verstanden und akzeptiert wird. Anerkennung ist somit eine gesteigerte Form der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, auf die – zumindest theoretisch – gebaut werden kann.

Frau hat entspannt die Augen geschlossen und hält ihre Hände vor der Brust.

Anerkennen als wechselseitiger Prozess

Wer nicht nur tief, sondern auch sehr weitsichtig erkannt hat, welche enorme Rolle die Anerkennung in der Gesellschaft spielt, war der junge Hegel. In seiner fast unverständlich geschriebenen „Phänomenologie des Geistes“ gibt es ein Kapitel, durch das Hegel Weltgeschichte geschrieben hat: Der Kampf um Anerkennung zwischen Herr und Knecht. Und zwar deshalb, weil Karl Marx diese darin enthaltenen Ideen weiter ausgeführt hat.

Nun mögen Sie vielleicht sofort einwenden, dass diese altertümlichen Begriffe und der in ihnen liegende Kampfgeist heute obsolet wären. Nein, das sind sie nicht. Hegel hat mit „Herr und Knecht“ nicht nur die Rollen zwischen Oben und Unten, Herrschen und Dienen bezeichnet, sondern die wechselnden Positionen von Macht und Ohnmacht. Der Einfachheit halber bleibe ich bei diesen Begriffen, um die Grunddynamik zu verdeutlichen. Hegel macht in diesem Kapitel mittels seines dialektisches Denkens deutlich, dass wir keineswegs von einer unverrückbaren Machtposition des Herren ausgehen dürfen. Der Herr braucht den Knecht, der für ihn arbeitet. Der Knecht muss anerkennen, dass er seine Arbeitskraft verkaufen muss, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Er unterwirft sich dem Herrn, um seiner Existenz willen.

Aber der Knecht eignet sich durch seine Arbeit Fähigkeiten an. Damit überholt er den Herrn, der, weil er nicht arbeitet, über diese Fähigkeiten nicht verfügt. So entsteht ein Kompetenzgefälle, in dem der Knecht über den Herrn – zumindest theoretisch – hinauswächst. Der Herr ist aber – salopp gesprochen – aufgeschmissen ohne die Arbeit des Knechtes.

Die Quintessenz ist – und das ist nur die Spitze von dem enorm großen Eisberg der Hegelschen Erkenntnis: Es ist unvermeidlich, dass der Herr den Knecht anerkennt als Notwendigkeit für seine Existenz, und der Knecht den Herrn anerkennt für die Sicherung seiner Existenz.

Hegel macht auf eine existenzielle Abhängigkeit der Menschen voneinander aufmerksam, gleich, in welcher Position sie sich jeweils befinden. Aus dieser Grundabhängigkeit kann sich – in letzter Konsequenz – niemand davonschleichen. Sie ist immer vorhanden, unüberwindbar und wird über weite Strecken vollkommen verkannt. Es geht aber genau früher, heute und in Zukunft darum, diese Abhängigkeit voneinander als existenziell anzuerkennen und die Schlüsse daraus zu ziehen: Anerkennung ist in diesem globalen Abhängigkeitssystem lebensnotwendig. Eine Einsicht in die Stärke und Schwäche des Menschen zugleich.

Anerkennung als Utopie oder Notwendigkeit

Mir geht es hier um diese Frage, die in engem Zusammenhang mit dem Thema meines letzten Buches stehen: „Die gekränkte Gesellschaft“: Wie kann Anerkennung zum Gegenpol der Kränkung werden?

Durch die Beschäftigung mit Hegel wurde mir klar, dass Anerkennung nicht nur ein psychologisches, sondern auch ein brisantes politisches Thema ist: Was geschieht, wenn der eine Staat den anderen in seiner Politik, Kultur, Religion nicht anerkennt? Was passiert, wenn sich verantwortliche Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft um der Anerkennung willen, sich nur um die eigene Macht bemühen und nicht die Interessen ihres Volkes oder ihrer Mitarbeiter im Visier haben? Welche Folgen hat es, wenn Erkenntnis, eine Voraussetzung von Anerkennung, schon im Vorfeld eines politischen Handelns gar nicht stattfindet?

Dann gibt es Krieg, Kampf, Zerstörung und Chaos. Genau das, was heute an allen Ecken und Enden der Welt stattfindet.

Wie wollen wir miteinander leben?

Die Philosophie ist als Theorie weitsichtiger als das reale durchschnittliche Denk-und Handlungsvermögen. Das ist einerseits ein großer Vorteil: Philosophen machen auf etwas Noch-Nicht-Gedachtes und Nicht-Gesehenes aufmerksam.

Andererseits ist es ein großer Nachteil. In den philosophischen Entwürfen werden die Begrenztheit des Alltagsdenkens, die Triebhaftigkeit und die Irrationalität der Menschen nicht hinreichend in Betracht gezogen. Weil Anerkennung so komplex ist, sehr viele Fähigkeiten vom Menschen abfordert, bleibt sie sehr oft nur eine Idee, aber noch keine in die Tat umgesetzte Haltung und Handlung.

Es ist eben unmöglich, vernünftig und verantwortlich zu handeln, wenn man nichts begriffen hat. Umso wichtiger wird es, sich umfassend mit Anerkennung zu befassen, um nicht in der Theorie stehen zu bleiben. Anerkennung wird damit nicht nur zu einer seelischen, individuellen Aufgabe und zu einem erstrebenswerten Ziel des persönlichen Handelns. Sie ist eine politische Kategorie, die erkannt und geübt sein will.

Dabei geht es um eine übergeordnete Frage: Wie wollen wir miteinander leben? Mit Verachtung oder mit Anerkennung als Strategie des Miteinanders? Um das zu wollen und zu erreichen, sind Analyse, Verstand, Vernunft und Empathie gleichermaßen nötig.

Wer anerkennt, schafft Frieden und schöpft aus einer wichtigen Lebensquelle.

Fotos: iStock, Unsplash / George Pagan

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