ANNA CHROMY – THE CLOAK OF CONSCIENCE
Es gibt ein Kunstwerk, in dem alles oder nichts zu finden ist, je nachdem, über welches Bewusstsein man verfügt. Geschaffen wurde es von der Malerin und Bildhauerin Anna Chromy. Eine Begegnung und ein Abschied.
Text Hans Christian Meiser
Anna Chromy (1940 Krumau – 2021 Monaco) war eine bedeutende Vertreterin des phantastischen Realismus. Als Malerin und Bildhauerin schuf sie Werke, die in aller Welt zu sehen sind. Als ihr Hauptwerk gilt die Skulptur „Cloak of Consience“.
1991 – Ella tobt durch die 23-Zimmer-Villa in Cap Martin. Sie hat eine Katze erspäht.
Irgendwo im Haus klirrt Porzellan. Einen Augenblick später geht etwas Gläsernes in die Brüche. Entsetzt blicke ich den Fotografen an, dessen Hund dieses Malheur verursacht hat. Anthony Paul sieht die Sache gelassen. „Ella ist versichert“, gibt er zum Besten.
Eigentlich warten wir auf Anna Chromy, jene Malerin, zu der der Großmeister des Surrealismus sagte: „Sie sind die erste Frau, die mit der Kraft eines Mannes malt – Sie werden in die Kunstgeschichte eingehen.“
Weil Anna Chromy noch beim Einkaufen auf dem Markt ist, hat uns Corinna, das Hausmädchen, schon einmal hereingebeten – unvorsichtigerweise. Eine Türe fällt schwer ins Schloss, und wir hören, wie sich der Jungendstil-Lift behäbig in den zweiten Stock des Hauses begibt: Anna Chromy tritt auf! Sie sieht die Bescherung – und lacht. In diesem Augenblick kehrt Ella schwanzwedelnd zurück, gottseidank ohne Beute.
Schuldbewusst versuchen wir die Ereignisse zu erklären, doch Anna Chromy nimmt uns charmant den Wind aus den Segeln. „Ich habe selbst zwei Hunde,“ meint sie, „da bin ich manches gewöhnt.“
Wie aufs Stichwort nahen Puma und Tasso, die beiden riesigen Wächter der Villa, werfen uns einen kurzen, misstrauischen Blick zu, machen sich jedoch sogleich auf bekannte Weise mit der Hundedame vertraut, welche die beiden Herren offenbar schnell in ihr Herz schließt.
DIE WELT DER KUNST
Uns geht es mit Anna Chromy nicht anders: Man muss sie einfach mögen. Nicht, weil sie „everybodys darling“ wäre, sondern weil diese schöne Frau so natürlich und ungekünstelt wirkt, dass man von ihrem Wesen spontan eingenommen ist.
Wer ist Anna Chromy? In europäischen und amerikanischen Kunstzentren ein fester Begriff. Dort zählt sie zu den führenden Vertretern jener Kunstrichtung, die alles Symbolhafte unter dem Namen „Surrealismus“ vereint, ganz nah verwandt dem „Phantastischen Realismus“. In Deutschland ist sie eher unbekannt.
Die Warum-Frage ist nicht einfach zu klären. Sie hängt aber, wie der gesamte Kunstmarkt, mit dem Zusammenspiel von Galeristen, Kunsthändlern, Kunsthistorikern, Medien etc. zusammen – und hier ist für den Surrealismus seit Salvadore DalÍ eben kein Platz.
In der Tschechoslowakei wurde Anna Chromy geboren, gerade zu einer Zeit, als dieses Land dem Großdeutschen Reich angegliedert wurde. Die Eltern zogen nach Wien, wo Anna aufwuchs.
Mit 17 Jahren begann sie hier Kunst zu studieren. Holland, Belgien, USA, Kanada und Frankreich hießen die weiteren Stationen ihrer Ausbildung, der bald Ausstellungen in der ganzen Welt folgten.
Die Villa, in der wir sie besuchen und in der Ella „ihr Unwesen treibt“, thront am höchsten Punkt einer kleinen Halbinsel zwischen Menton und Monte Carlo. Eineinhalb Hektor Park umgeben das Anwesen, das den Namen „Le Verger“ trägt – Obstgarten. Hier züchtet Anna Chromy Orangen, Pampelmusen und Limonen.
Auf dem Grundstück befinden sich die Reste des ältesten Bauwerks der Küste – die Ruine einer Basilika aus dem Jahr 1061, deren Fundamente um 360 n.Chr. zu datieren sind. Hier züchtet die Künstlerin Blumen, baut Gemüse an und gibt sich ihrer Katzenmutterpflicht hin.
24 Exemplare sind es mittlerweile (beinahe wären es nur noch 23 gewesen …), allesamt bislang heimatlos. Wie Brigit Bardot in Saint Tropez sich um herrenlose Hunde kümmert, so sorgt sich Anna Chromy um streunende Katzen. Nicht aus einem Spleen heraus etwas wie ihre Malerkollegin Leonor Fini, sondern aus wirklichem Mitleid für die arme Kreatur.
Jede Katze trägt einen Namen und ihre Beschützerin kann sie tatsächlich auseinanderhalten. Ich entsinne mich z.B. des Kätzchens „Rocky“, das mit seinem melancholischen Blick dem Namensgeber Sylvester Stallone zur Ehre gereicht.
LEIDENSCHAFT, LIEBE, TOD
Anna Chromys Mann, Wolfgang Stein, ein international erfolgreicher Unternehmer, unterstützt seine Frau bei allem, was sie tut, egal, ob es die Katzen oder die Kunstwerke sind.
Er weiß, dass sich die Malerin keine splendid isolation geschaffen hat, im Gegenteil. Das Haus ist jederzeit für Freunde und Bekannte offen und strahlt, allein schon der Bilder Anna Chromys wegen, starke Lebendigkeit aus. Es ist wohl die Kraft der Einheit, welche die Villa so wohnlich macht.
Die Kunstwerke sind in die Räume integriert, fast möchte man meinen, die Zimmer seien um sie herum gebaut. Die Einrichtung selbst stellt eine gelungene Mischung aus erlesenen Antiquitäten und modernem Wohndesign dar.
„Wir alle brauchen unsere Träume,“ sagt Anna mit einem Augenzwinkern, „schon allein, um unsere eigenes Ich zu retten.“
Sie hat sich ihren Traum erschaffen und sie weiß, dass sie es sich selbst, ihrem Wolfgang, ihren Freunden und ihrem ehemaligen Tutor Dalí schuldig ist.
Ihr ständiger innerer Balanceakt, von dem sie gerne spricht, ist ihr dabei eine große Hilfe. Sie hat auch eine schwere Krankheit überstehen müssen, die sie drei Jahre am Malen hinderte.
Dennoch hatte diese Zeit – Schicksal als Chance – auch etwas Gutes, wie sie meint: Nun malt sie noch intensiver, setzt sich noch bewusster mit den Lebensthemen Leidenschaft, Liebe und Tod auseinander und will – gleich Faust – erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, dann aber in Kunst umsetzen.
EINE KÜNSTLERIN, DIE NICHT NUR WILL, SONDERN KANN
Die Erotik ist dabei ein wesentlicher Faktor. Nicht nur innerhalb der bildlichen Darstellung, sondern auch im Verhältnis zur eigenen Arbeit. Denn ohne innere sensuelle Liebe wäre sie gar nicht möglich. Die von Amor, Eros und Tod geprägten Werke erzielen heute Höchstpreise.
Das Atelier im obersten Stockwerk der Villa ist so angelegt, dass die Sonne von allen Himmelsrichtungen einfallen kann. Dieses Licht braucht die Malerin, um aus den in Öl und Tempera grundierten Bildvorlagen ihre eigenen Phantasiewelten hervorzuholen.
Die in der Mischtechnik der alten Meister entstehenden Werke sind als im Grunde Metamorphosen der Seele der Schöpferin. Gänzlich zufrieden, saturiert, ist sie indes nicht.
Denn trotz des Flairs, das sie umgibt, und trotz des Charismas, das sie ausstrahlt, sagt sie leise: „Manchmal fühle ich mich auf meinem Balkon wie eine Brieftaube, die darauf wartet, eine Botschaft weiterzutragen, doch sie weiß die Adresse nicht, noch kennt sie den Inhalt.“
Ohne Zweifel: Anna Chomy ist eine ungewöhnliche Frau. Nichts an ihr ist Berechnung, Affekt oder Lüge. Sie lebt für die Kunst. Sie ist eine reine Künstlerin, aber eine, die nicht nur will, sondern auch kann, wie ihre Bilder beweisen. Es ist ihr eigener Stil, den ich „Annachromysmus“ nenne …
„ALS MAHL BEGANNS – UND IST EIN FEST GEWORDEN, KAUM WEISS MAN, WIE …“
Anna zeigt uns die Video-Aufzeichnung ihrer Ausstellung in Bratislava. Was wir zu sehen bekommen, ist unglaublich. So müsste einmal eine Ausstellung hierzulande eröffnet werden: Musikanten spielen auf, ein gewaltiges Buffet wird gestürmt, Wodka fließt wie Donauwasser, plötzlich beginnt man, russische Weisen zu tanzen, liegt sich in den Armen, küsst sich. Ein bacchantischer Taumel, eine Vernissage als dionysisches Fest.
Nun wird Ella gefüttert. Gierig, wie sie nunmal ist, verschlingt sie aber auch das Fressen von Puma und Tasso, die im Park gerade auf ihrem Wache-Rundgang sind. Anna Chromy hat auch hierfür Verständnis und kocht neue Rinderherzen. Wir sitzen am Pool und blicken auf die verzauberte, südfranzösische Landschaft. Ein leichter Wind treibt die Hitze des Tages davon.
Mitten im Gespräch über die Vegetation bezeichnet Anna ihre Pinienbäume als „etwas zu große geratene Broccoli“ – und da weiß ich, weshalb mir die Schöpferin vieler Meisterwerke von Anfang an so sympathisch war: Nicht, weil sie mit der Kraft eines Mannes malt, sondern weil bei ihr Kunst und Leben identisch sind, weil sie das Leben künstlerisch umarmt – einen so „schlimmen“ Hund wie Ella miteingeschlossen.
DREISSIG JAHRE SPÄTER
Obigen Text verfasst ich im Jahr 1991, als ich, fast noch ein Teenager, Anna Chromy zum ersten Mal begegnete. Schon damals faszinierte mich ein 1982 entstandenes Gemälde mit dem Titel „To be or not to be“. Im Vordergrund liegt eine nackte Frau mit langem, fast goldenem Haar, im Hintergrund ist gotische und Renaissance-Architektur zu sehen, vor der wiederum eine Gestalt sitzt, sie ist in einen grünlich schimmernden Mantel gehüllt.
Betrachtet man diese Figur genauer, ahnt man, dass der Mantel keinen Träger hat, sondern wie das Bewusstsein selbst den Nicht-Anwesenden einfängt. Man erschaudert kurz, fängt aber danach an, intensiv darüber nachzudenken, was denn Sein oder Nicht-Sein für einen selbst bedeutet.
THE CLOAK OF SCIENCE
Jahre später hat Anna Chromy diesen Mantel gewissermaßen aus dem Bild herausgelöst und ihn in eine Skulptur verwandelt, die heute in unterschiedlicher Materialausführung und Namen in verschiedenen Städten der Welt zu finden ist (u.a. Salzburg, Athen, Prag, Monte Carlo, Peking).
Schließich schuf sie aus dieser Figur eine fast fünf Meter hohe, begehbare Kapelle, die aus dem Marmor, den schon Michelangelo verwendete, gebildet wurde. Wo sie letztlich ihre Heimat finden wird, ist zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Artikels noch nicht gänzlich geklärt. In Frage kommen Prag oder Nizza.
Die Entstehung dieses einerseits fast unheimlichen, andererseits auch befreienden Meisterwerks, zeigt folgendes Zeitdokument:
Vor einigen Monaten musste ich nun erfahren, dass diese wunderbare Frau am 18. September 2021 in Monaco gestorben ist. Ich dachte an unsere Begegnungen zurück, an eine Ausstellung, die ich einmal in München für sie organisiert hatte, an die intensiven Gespräche über die Kunst an sich und das Leben im Allgemeinen im „Le Verger“.
Dabei kamen mir die oben erwähnten Broccoli-Bäume in den Sinn und ich suchte und fand meinen Text von 1991 wieder. Als ich ihn las, war ich sehr bewegt. Denn ich entdeckte nicht nur die eigene Jugend wieder, sondern auch den einzigen Weg, der Endlichkeit (zumindest für einige Zeit) zu entgehen: Entweder durch Nachkommen oder dadurch, dass man Bleibendes schafft. Anna und Wolfgang hatten sich für den letzteren Weg entschieden.
Und, wie es aussieht, wird es auch bald im Kloster Strahov in Prag ein Museum geben, in welchem die wichtigsten Werke von Anna Chromy dauerhaft zu sehen sein werden. Der „Mantel des Bewusstseins“ wird dann hoffentlich dafür sorgen, dass wir von der Bewusstheit der Anna Chromy lernen, das, was ist, als Geschenk zu sehen anstatt es immer und immer wieder zerstören zu wollen.
„Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen,“ sagte einst Friedrich Nietzsche. Heute müsste man seinen Gedanken umwandeln: Wir haben die Kunst, damit uns die Wirklichkeit bewusst wird und wir endlich damit beginnen, sie zu achten und nicht mehr zu zerstören. Wie das geht, das kann man in den Werken der Anna Chromy erleben.
Fotos: Anna Chromy