DIE HELDEN DER BERGE

Senioren erklimmen mit E-Bikes ungeahnte Höhen, Bergwanderer verlieren den Pfad, weil Google Maps nicht funktioniert. Der Run auf Bayerns Gipfel stellt die Bergwacht vor neue Herausforderungen.

Text Gerd Giesler

Michael Hornsteiner ist hauptberuflich Notfallsanitäter, seit 1991 der Bergwacht Bereitschaft Krün-Wallgau treu sowie Ressortleiter für die gesamte Erste-Hilfe-und Lawinenausbildung der Region.

Michael Hornsteiner ist gerade von einer privaten Skitour zurück, als per Piepser die Durchsage kommt: „Lawinenunfall am Soiern. Person eingekeilt im Steilgelände.“

Los geht’s zurück ins schroffe Karwendelgebirge, denn das zählt zum Einsatzgebiet der Bergwachtbereitschaft Krün, Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Michi, wie ihn alle dort nennen, ist ein erfahrener Ausbildungsleiter, kennt sich mit Lawinen aus und auch mit der Bergung von Verletzten aus schwierigem Gelände. Was ist passiert?

MIT TURNSCHUHEN AUF DEM SCHNEEBRETT

Zwei 25-jährige Trailrunner waren bei schwerem Schnee in Turnschuhen von der Soiernscharte gestartet, um die 2.200 Meter hohe Reißende Lahnspitze zu erklimmen. Einer der beiden rutschte auf einem Schneebrett die steilen Altschneefelder abwärts, bis er vor einer 250 Meter tiefen, senkrecht abfallenden Abbruchkante wie durch ein Wunder zum Stehen kam.

„Ein Team ist mit dem Quad terrestrisch aufgebrochen, während ich mit dem Veitl im Hubschrauber angeflogen bin. Oberhalb der Gefahrenstelle habe ich mich aus dem Heli abwinschen lassen, einen Ski-Anker gebaut, mich gesichert und den jungen Mann per Rettungssitz befreit. Seinen Spezl oben auf dem Grat haben wir auch noch rausgeflogen. Das fanden die cool. Aber dass die Sache Spitz auf Knopf stand, haben sie nicht umrissen.“

Die Bergwacht gibt es seit über 100 Jahren. Spektakuläre Einsätze wie die Rettung des Johannes Westhauser aus der 1.000 Meter tiefen Riesendinghöhle, die die Nation in Atem hielt, sind die Ausnahme. Dagegen häufen sich die Fälle der Selbstüberschätzung:

Ein Paar will den Watzmann überqueren, aber die Rucksäcke sind zu schwer. Es setzt einen Notruf ab und löst einen fast achtstündigen Rettungseinsatz aus. Bergwacht-Alltag heute.

12.000 BERGWACHTEINSÄTZE PRO JAHR IN BAYERN

Als Fritz Berger am 14. Juni 1920 im Münchner Hofbräuhaus die Organisation gründete, ging es eher um den Schutz der Berge vor dem Menschen. Ziel war es Ordnung, Sitte und Anstand im Gebirge wieder herzustellen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Holz-, Vieh- und Edelweißdiebstahl, Wilderei und Hütteneinbrüche enorm zugenommen. Heute zählt die Bergwacht in Bayern als Teil des Roten Kreuzes 5.000 Mitglieder, organisiert in 111 Bereitschaften mit rund 12.000 Einsätzen pro Jahr.

Bereitschaftsleiter Bernhard Riesch

ES iST EINE EHRE, BERGWACHTLER ZU SEIN

Der Ort Krün war vor einigen Jahren Schauplatz des größten Bergwachteinsatzes aller Zeiten: Eine Bank auf dem Rathausplatz erinnert noch an die Ansprache des damaligen US-Präsidenten Barack Obama beim G7-Gipfel. Für Bernhard Riesch, Bereitschaftsleiter der 97 Mitglieder starken Truppe ein unvergessliches Ereignis, „weil ganze Ortschaften zur Sperrzone wurden, hunderte von Rettungsmannschaften über Wochen im Einsatz waren und nichts dem Zufall überlassen blieb.“ Bernhard ist seit frühester Jugend vom Bergsteigen fasziniert und hat Leidenschaft und Ehrenamt miteinander verbunden.

„Die Chance, in alpinem Gelände Menschenleben zu retten, hat nicht jeder. Für mich ist es eine Ehre dabei zu sein, bei den Übungs- und Kameradschaftsabenden, beim Glühwein- und Dax’n-Verkauf (bayerisch für Tannenzweige) im Advent. Und ein Zuckerl ist unsere Diensthütte oben am Soiern-See, eine der schönsten Diensthütten Bayerns.“

Auch für den Hornsteiner Michi war es die Kletterei, das Skifahren und „klar, alle meine Freunde waren dabei.“ Heute geht es mehr um die Spezial-Ausbildung, die Superalpinisten und Allrounder sind eher selten geworden, findet der Ausbilder.

Die 22-jährige Grundschullehrerin Franziska Müller war nach dreijähriger Ausbildung schon mit 17 Vollmitglied. „Das Schöne ist ja, dass diese Gemeinschaft Jung und Alt eint. Sogar der Großvater ist noch dabei und „hütet das Bild-Archiv der Bereitschaft“. Für Franzi, ihren Bruder und acht weitere Jugendliche wurde Krüns erste Jugendgruppe ins Leben gerufen. Das war mit ein Verdienst vom Schweiger Hubert, einem jener erfahrenen Bergwachtler mit Weitsicht, die sich, auf gut bayerisch „das Maul nicht verbieten lassen, aber das Herz am rechten Fleck tragen.“

Bergwachtlerin, seit sie 17 wurde: Franziska Müller.

MEHR FRAUEN BEI DER BERGWACHT

Franzi empfindet das Ehrenamt nicht als Aufwand. Sie lässt gerne für einen plötzlichen Einsatz alles stehen und liegen. Ihr Traumziel ist die Zusatzausbildung zur Notfallsanitäterin. Erst 1995, erinnert sich Michi, hat die erste Frau in Bayern die Bergwachtprüfung absolviert. Da ging ein Raunen durch die eingeschworenen Männerseilschaften. Gemauert wurde beidseitig: „Jetzt muaß i mit oana Frau auf’d Diensthütt’n. Die ko ja nix“ – und die Weiblichkeit konterte: „Da sind ja bloß Typen, was soll ich da.“

In der Bereitschaft Krün liegt die Frauenquote mittlerweile bei 10 Prozent. In der Nachbargemeinde Mittenwald de facto noch bei null. „Das liegt an der Mentalität und der Denkweise im Isartal“, erklärt Franzi ein Phänomen, dessen Einfluss radikal schwindet, je mehr man in den Einzugsbereich der größeren Städte kommt.

ALLZEIT BEREIT DANK EHRENAMT

Ist die Bergwacht nicht ein Auslaufmodell und das Ehrenamt durch festangestellte Profis zu ersetzen?

Das Bayerische Rettungsdienstgesetz sichert der Wacht in den Bergen eine Monopolstellung zu. Private Rettungsdienste kommen hier nicht zum Zuge. Ganz anders in der Schweiz: da sind über 130 Rettungsdienste im Auftrag der Gemeinden tätig und Hubschraubereinsätze können ohne Entscheidung einer Leitstelle geflogen werden.

HOHES AUSBILDUNGSLEVEL LOCKT JUGEND

Dafür lastet auf der Bergwacht aber auch die Verpflichtung, 365 Tage im Jahr rund um die Uhr Rettungseinsätze zu leisten. Dafür steht in Krün Bernhard Riesch gerade. Über Nachwuchsprobleme muss er sich allerdings nicht beklagen. Seine Bereitschaft ist attraktiv. Nicht zuletzt ist die vom Freistaat finanzierte Ausstattung höchst professionell.

Vorbei die Zeiten, als die Kameraden wie Bergfexe mit dem Holzschlitten zu Hilfe eilten! Heute sind Spezialtrupps im Einsatz, vom Kriseninterventionsteam bis zur Spürhundstaffel. Ausgerüstet mit modernstem Gerät, vom Allrad-Rettungswagen über Quads, Helikopter mit Nachtsichtgerät sowie Drohnen und Wärmebildkameras.

VOM BERGRETTER ZUM DIENSTLEISTER

Das macht aus der Bereitschaft, auch optisch, schnell eine Task Force. „Heute werden wir oft als Dienstleister angesehen und Hilfe eher konsumiert“, weiß Hannes Mikenda zu berichten. Der SPA Direktor vom Luxushotel Schloss Elmau ist zugleich stellvertretender Bereitschaftsleiter in Krün. Er erinnert sich an eine Gruppe E-Biker, die mit platten Akkus nahe der Elmauer Alm ganz selbstverständlich die Bergwacht alarmierte.

Der Begriff „Task Force“ ist vielleicht irreführend. „Wir haben kein Exekutivrecht. Die Achtung vor der Natur ist eines unserer zentralen Anliegen. Aber wenn im Naturschutzgebiet Bergwanderer kampieren und Lagerfeuer machen, kann ich sie nur höflich aufklären, wegschicken darf ich sie nicht“, sagt Hannes gelassen, als würde er zu einer Yoga-Klasse im Schloss sprechen. Für ihn ist die Bergwacht ein Teil seines alpinistischen Tuns, um sich gesellschaftlich einzubringen.

OHNE KAMERADSCHAFT GEHT ES NICHT

„Als Division vom Roten Kreuz sind wir zur Unparteilichkeit verpflichtet und das ist gut so. Wir helfen jedem Menschen in Not. Unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und auch dem Grund für die Situation“, sagt Hannes. „Die Medien spitzen das manchmal zu. Dann ist von Leichtsinn die Rede und der armen Bergwacht, die das ins Reine bringen muss. Nein, wir helfen, um zu helfen, und nicht nur, wenn jemand unverschuldet in Not gerät.“

Dabei spielt Kameradschaft als Motor eine wichtige Rolle. Kameradschaft ist „die Grundlage für Vertrauen“, bringt Bernhard die Sache auf den Punkt. „Ich weiß, ich gehöre dazu und ich habe meine Aufgabe“, sagt Franzi. „Und wenn du im Seil an der Wand hängst, musst du dich 100-prozentig auf deine Kameraden verlassen können“, ergänzt Hannes. „Gerade in schwierigen Situationen spielt dieser Zusammenhalt, dieses Sich-auf-den-anderen-verlassen-Können, das Wissen um ein eingespieltes Team, in dem jeder Handgriff sitzt, eine entscheidende Rolle.“

Gibt es dennoch Situationen, in denen man einen Einsatz abbrechen muss?

Das Risiko eines Einsatzes am Berg muss immer kalkulierbar bleiben. Der Eigenschutz des Hilfeleistenden und der gesamten Einsatzgruppe geht immer vor, das ist eine der Grundsatzregeln.

„Aber es kann durchaus sein, dass du eines Tages allein vor der Frage stehst: Geh ich da jetzt rein oder nicht? Es ist immer ein situationsbedingtes Abwägen beim Einsatz. Und dass man unter Zeitdruck, vor allem wenn Gefahr im Verzug ist, etwas tut, was man sonst nicht tun würde. Super safe wäre es vielleicht, die Aktion zu unterbrechen und am nächsten Morgen weiterzumachen, aber möglicherweise ist der Verunglückte dann bereits an Verletzungen und Unterkühlung gestorben“, erklärt Hannes Mikenda.

EIN DANKE MOTIVIERT ABER AUCH

Manche Geretteten sind sich dieser Situation, in denen ihr Leben quasi an einem seidenen Faden hing, durchaus bewusst. Wie der junge Mann aus Hannover, der an einem strahlenden Wintertag zu einer Schneeschuh-Wanderung zur Wallgauer Alm aufbrach und in den steilen Canyon eines kleinen Wasserfalls stürzte, aus dem er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte.

Es gelang ihm, nach 40 Fehlversuchen, mit dem Handy einen Notruf abzusetzen, der in Tirol einging und eine spektakuläre flächendeckende Suche von ehrenamtlichen Helfern der Krüner Bergwacht auslöste. Nach mehreren Stunden konnte der Mann spät nachts aus seinem Schneegefängnis fast unverletzt befreit werden.

„Der kommt seitdem jedes Jahr bei uns vorbei, um mit seinen Lebensrettern ein Bier zu trinken“, erzählt Hannes nicht ohne eine Spur von Stolz in der Stimme. Diese spontan entgegengebrachte Dankbarkeit ist nicht nur ein Gegenwert für die vielen in der Freizeit ehrenamtlich geleisteten Stunden, sie ist auch eine starke Motivation für die Ehrenamtlichen.

Um die Bergwacht macht sich Hannes Mikenda indes keine Sorgen: „Klar, wir müssen uns ändern und die Ausbildungslevel werden ja auch immer höher. Aber gerade bei der nachfolgenden Generation hat ja das Sinn-Thema einen höheren Stellenwert bekommen.

Job und Geld sind nicht alles und das Ehrenamt ist plötzlich wieder sehr attraktiv geworden – dieses Bedürfnis, sich ganz individuell sinnvoll einzubringen.“

Fotos: Alamy, Getty Images/2014 Bergwacht Bayern, Bergwacht Bereitschaft Krün-Wallgau

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