Ein Mann im Anzug richtet seine Krawatte.

ARBEITSWELT: EIGENVERANTWORTUNG VS. ANPASSUNG

Aufgrund des Fachkräftemangels bieten viele Unternehmen ihren Mitarbeitern umfangreiche Zusatzleistungen von der Chillout-Area bis zur Krabbelgruppe für den Nachwuchs. Doch das birgt für beide Seiten Risiken.

Text Julian Rautenberg

Schwarz-Weiß-Portrait von Julian Rautenberg.

Julian Rautenberg ist Leiter Private Banking bei der Privatbank DONNER & REUSCHEL. Er hat Betriebs­wirt­schaft, Politik und Philosophie an der LMU München studiert. Für Purpose schreibt er regelmäßig über wirt­schaft­liche, politische und gesell­schaft­liche Veränderungen.

Es gehört zu den prägenden Merkmalen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, dass der Staat und die Jurisdiktion von dem Grundsatz der Eigenverantwortung jedes Einzelnen ausgehen und den Bürgern auch die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer freien Entscheidungen zuschreiben. Je nach gesellschaftlicher Prägung und politischer Tradition werden diesen Selbstbestimmtheit und Risiko überlassen, wobei es z.B. mehr oder weniger staatliche Absicherungsmechanismen gibt, etwa im Gesundheitswesen oder bei der Ausgestaltung einer sozialen Grundsicherung.

REAL EXISTIERENDE UNTERNEHMENSKULTUREN

Das Verhältnis eines Bürgers zum Staat ist nur sehr bedingt mit dem Verhältnis eines Mitarbeiters zu seinem Arbeitgeber vergleichbar. Und doch gibt es gewisse Parallelen in der Frage, wie sehr sich ein Unternehmen für seine Mitarbeiter verantwortlich fühlt.
Handelt es sich eher um ein fürsorgliches, langfristiges Verständnis von Zusammenarbeit, wie es gerade in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg sehr häufig gelebt wurde und wird (hierzu gehörten Mitarbeiterwohnungen und Betriebssportvereine einerseits genauso wie lebenslange Loyalität zum Arbeitgeber andererseits) oder um eine Unternehmenskultur nach dem Prinzip „hire and fire“, wie es dem angelsächsischen Klischee entspricht?

UNTERNEHMEN WERDEN ZU „CARING-COMPANIES“

Zwischen diesen beiden Extremen hat sich in den letzten ca. zwanzig Jahren ein neues Verständnis des Verhältnisses von Unternehmen zu ihren Angestellten gebildet. Dieses fußt im Wesentlichen auf einer Ursache: dem demographischen Wandel in den westlichen Gesellschaften.

Der damit einhergehende Fachkräftemangel und dem Erfordernis, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, wenn man nicht dauerhaft auf 50% des Erwerbstätigenpotentials verzichten möchte, sind nur zwei logische Konsequenzen hieraus. In diesem Zusammenhang wird häufig von einem „war for talents“ gesprochen, der Unternehmen dazu bewogen hat, ihre Instrumente zur Mitarbeitergewinnung und -bindung massiv auszubauen.

Lockten Unternehmen früher mit Aktienpaketen, Boni und Dienstwagen, stehen heute hochwertige Kinderbetreuungsangebote, zusätzliche Baby-Zeiten, Gesundheitsprogramme und etliche weitere Annehmlichkeiten für Mitarbeiter im Raum. Unternehmen entwickeln sich zu „Caring Companies“, zu Fürsorge-Firmen, die sich um immer mehr Lebensbedürfnisse von Mitarbeitern und deren Angehörigen kümmern. Gerade große Konzerne und Firmen im ländlichen Raum versuchen verstärkt, Bindungen in das soziale Umfeld des Mitarbeiters zu knüpfen.

  • Drei Personen halten sich gegenseitig an den Armen.
  • Mehrere Menschen in einem modernen Büro.

MÜHELOSE KONZENTRATION AUF DEN JOB

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass viele Benefits für Mitarbeiter, zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsversorgung, zuerst in den USA und hier besonders bei jungen Techfirmen im Silicon Valley eingeführt wurden, wo es wenige sozialstaatliche Leistungen gibt. Die Angebote wurden immer weiter ausgebaut. Mit kostenlosen Betriebsrestaurants, Chillout-Areas, Kleiderreinigungsdiensten und Concierge-Services aller Art sollen sich Mitarbeiter voll und ganz auf Ihren Job konzentrieren können, ohne sich mit alltäglichen Mühen und Herausforderungen herumschlagen zu müssen.

Bei allen begrüßenswerten Entwicklungen, zum Beispiel zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sollten die „Caring-Aktivitäten“ der Unternehmen seitens der Mitarbeiter nicht falsch verstanden werden. Handlungsleitend für Unternehmen sind harte ökonomische Motive. Es geht um die Gewinnung und Bindung der besten Fachkräfte, um Know-How-Sicherung und die Generierung von Wettbewerbsvorteilen.
Mitarbeiter sollten sich dieser Dimension jederzeit bewusst sein. Auch für die Unternehmen ist diese Entwicklung nicht ungefährlich, wenn man bedenkt, welche mittel- und langfristigen Gefahren ein „Rundum-Sorglos-Paket“ für die Belegschaft birgt.

TENDENZEN ZU INFANTILISIERUNG, KONFORMITÄT UND ANPASSUNG

Der Managementberater Harald K. Sprenger sah bereits vor einigen Jahren die Gefahr, dass Mitarbeiter zunehmend wie Kinder behandelt werden, wenn er ausführt: „Erwachsene Leute organisieren Familien, sie bauen Häuser, sie übernehmen Verantwortung in Vereinen, fällen vernünftige und zukunftsorientierte Entscheidungen. Doch in dem Augenblick, in dem sie durch die Pforte des Unternehmens treten, werden sie infantilisiert und entmündigt, dass ich manchmal fassungslos bin. Man versucht sie zu erziehen, etwa durch übergriffige Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, durch Sinnstiftung, durch Identifikations-Geraune, Wohlfühl-Klimbim und Führungsstil-Pädagogik. Und dann wird diese Entmündigung als Fürsorge etikettiert.“ (Impulse, 2015)

RISIKEN AUF BEIDEN SEITEN

Diese Ausführung ist sicherlich extrem pointiert. Dennoch lohnt es sich, deren Kern genauer zu beleuchten. Tatsachlich ist eine Entwicklung nicht von der Hand zu weisen, nach der besonders große Unternehmen dazu neigen, durch breite Unterstützungsangebote für eigentlich private Belange in der Kombination mit vorgefertigten Karriere- und Entwicklungsschablonen und einer permanenten Feedback-Kultur eine neue Mitarbeitergeneration heranzuziehen, die in sehr hohem Maße konformistisch ist und sich perfekt an das jeweilige Ökosystem des Unternehmens angepasst hat. Assoziationen zu Charles Darwins „survival of the fittest“ (fittest = am besten angepasst) sind nicht zufällig.

Die systematische Ausbildung von Mitarbeitern und Managern in einem solchen Ökosystem führt zu erheblichen Risiken auf beiden Seiten: Für Mitarbeiter zum einen, weil die Transaktionskosten für einen Wechsel mit jedem Jahr in einem Unternehmensökosystem höher werden, wenn man zum Beispiel feststellt, dass die Betreuung des Kindes an das eigene Arbeitsverhältnis gebunden ist, und zum anderen, weil man zunehmend nur im bekannten Ökosystem funktioniert und nach den Regeln dieses Systems agiert und ggf. erhebliche Schwierigkeiten hat, in einer anderen Organisation, die stärker auf Eigenverantwortung setzt, zu „überleben“.

Unternehmen haben vordergründig ihr Ziel erreicht und die Gefahr eines Know-How-Verlusts durch Weggang des Mitarbeiters reduziert. Die Konsequenz hieraus stellt jedoch auch die größte Gefahr für sie dar. Weshalb?

Illustration einer Person, die auf Fangnetz fällt, das von zwei weiteren Personen gehalten wird.

„ZU VIEL“ FÜRSORGE IST EINE GROSSE GEFAHR

Es bildet sich über die Zeit eine konformistische Belegschaft heraus, innerhalb derer dem Einzelnen die Eigenverantwortung abtrainiert wurde. Dies kann lange Zeit funktionieren und führt in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten zu effizienten Prozessen. In der heutigen VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität) zählt aber für etliche Unternehmen mit etablierten Geschäftsmodellen die geistige Flexibilität der Mitarbeiter, Mut und Eigenverantwortung als Erfolgsfaktor zur Gestaltung der unsicheren Zukunft.

Es ist daher kein Zufall, dass kleinere und mittelständische Unternehmen, deren Personalentwicklung und gesamte Organisation nicht bis ins kleinste Detail durchorganisiert sind, tendenziell innovationsaffiner und weiterentwicklungsfähiger sind als Großunternehmen, die im Gegenzug dazu übergegangen sind, Innovationshoffnungen in eigene Start-Up-Labs auszulagern oder gleich zuzukaufen. Dies ist offensichtlich eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass von den eigenen Leuten in den etablierten Strukturen keine Innovationen zu erwarten sind.

Das Unternehmen von morgen macht man nicht mit den Institutionen, Strukturen und Denkmustern von gestern.

UNTERNEHMEN MÜSSEN AUF EIGENVERANTWORTUNG SETZEN

Was bedeuten diese Beobachtungen für Unternehmen und Mitarbeiter? Es geht um Eigenverantwortung, die von beiden Seiten getragen wird. Es braucht Mitarbeiter, die zu Eigenverantwortung bereit sind und es braucht Unternehmen, die Eigenverantwortung einfordern und in ihrer Konsequenz auch aushalten. Gelebte Eigenverantwortung lässt sich auf die bekannte Formel „love it, leave it or change it“ komprimieren.

Mitarbeiter, die mit diesem Credo ans Werk gehen, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit unbequemer im Alltag. Leute, die jedoch für ihre Überzeugungen eintreten, Veränderungen anschieben und um bessere Lösungen ringen, werden ein Unternehmen dafür garantiert zukunftsfähiger machen als eine Belegschaft, die keine eigenen Ideen vorträgt und den Status quo unreflektiert hinnimmt oder sich in ihm einrichtet.

FÜR WEN MÖCHTEN ARBEITGEBER ATTRAKTIV SEIN?

Unternehmen und Führungskräfte können hierfür einiges tun. Mitarbeiter sollten vor allem stärkenorientiert eingesetzt werden und nicht in die gleichen Schablonen gepresst werden. Unternehmerisches Handeln inklusive der Gefahr des Scheiterns muss gefördert werden und nicht Konformität und Bestätigung. Es muss eine Vertrauenskultur etabliert werden, die Fehler erlaubt, anstatt sich mit Rechtfertigungen aufzuhalten.

Eine solche Kultur fördert nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, vielmehr stellt sie eine echte Strategieoption als Arbeitgeber dar. Respektvoller Umgang und Anerkennung des Einzelnen als mündigen Erwachsenen sind in hohem Maße attraktiv – gerade für gute und sehr gute Leute. Ein solches Menschenbild führt in der Konsequenz zu einer höheren Arbeitgeberattraktivität als die x-te paternalistische Sozialleistung.

Dabei sollten sich Arbeitgeber auch fragen, für welche Charaktere sie attraktiv sein wollen – für kritische Freischwimmer oder sicherheitssuchende Konformisten?

ARBEITEN BEDEUTET „LEISTUNG GEGEN GELD“

Die soziale Marktwirtschaft inklusive aller Arbeitnehmerrechte hat einen zentralen Anteil an Deutschlands Wohlstand und vor allem an der – im internationalen Vergleich – geringeren Ungleichheit zwischen arm und reich. Die Bedeutung des sozialen Friedens innerhalb der Gesellschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Es ist gut und richtig, dass Unternehmen mit ihren Sozialleistungen einen erheblichen Beitrag dazu leisten und soziale Verantwortung für ihre Mitarbeiter übernehmen, z.B. durch die gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder durch betriebliche Altersvorsorgeinstrumente.

Es ist auch völlig legitim, dass sie Mitarbeiterbindungsinstrumente aus ökonomischen Motiven nutzen. Arbeitnehmer sollten sich dieser Motive jedoch bewusst sein und genau hinsehen, welche Rahmenbedingungen im Sinne der Unternehmenskultur mit zusätzlichen „social goodies“ einhergehen und vor allem nicht übersehen, worum es sich bei einem Arbeitsverhältnis im Kern handelt: um einen Vertrag zwischen mündigen, eigenverantwortlichen wirtschaftlichen Akteuren nach dem Grundprinzip „Leistung gegen Geld“.

INDIVIDUELLE FREIHEIT VS. PATERNALISMUS

Bei dieser Betrachtung drängt sich nochmals der Vergleich zum Vertrag zwischen Bürgern und Staat auf. In der aktuellen politischen Debatte und dem Angebot der verschiedenen Parteien zeigen sich durchaus Unterschiede darin, wie viel Eigenverantwortung dem Einzelnen zugestanden wird bzw. welches Maß an staatlicher Regulierung und Bevormundung von den Bürgern gewählt wird.

Somit ist eine politische Wahl hierzulande auch eine Wahl zwischen mehr individueller Freiheit und Autonomie einerseits und mehr staatlicher Regulierung und Paternalismus andererseits.

Fotos: iStock, Unsplash / Ben Rosett

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