Ein Gesicht aus Fäden geformt.

Die Digi­tali­sierung der Arbeit und die neue Autonomie

Die Veränderungen der Arbeitswelt eröffnen spannende Chancen, bieten aber auch erhebliche Herausforderungen für Mitarbeitende, für Unternehmen und für unsere gesamte Gesellschaft. Eine Untersuchung von Julian Rautenberg.

Schwarz-Weiß-Portrait von Julian Rautenberg.

Julian Rautenberg ist Leiter Private Banking bei der Privatbank DONNER & REUSCHEL. Er hat Betriebswirtschaft, Politik und Philosophie an der LMU München studiert. Für Purpose schreibt er regelmäßig über wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen.

Die Corona-Pandemie brachte uns Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen und Eingriffe in unseren Alltag wie wir es uns alle nie hätten vorstellen können. Auch der Arbeitsalltag hat sich für alle Menschen drastisch verändert, wenn man sich Maskenpflicht, Mindestabstände, Lokal- und Geschäftsschließungen, Homeoffice, Home-Schooling, Videokonferenzen und digitalen Veranstaltungen vor Augen führt.

Dabei lohnt sich ein Blick darauf, welche Veränderungen unseres beruflichen Alltags durch Corona ausgelöst oder beschleunigt wurden und trotz einer überwundenen Pandemie nicht mehr zurückkehren werden. In den Bürogebäuden wird im Grunde nichts mehr wieder sein wie es einmal war.

DIE ELEMENTARE VERÄNDERUNG DER ARBEIT

Die Begründung hierfür ist so simpel wie offenbar: digitale Arbeitsformen generieren erhebliche ökonomische Effizienzgewinne. Durch die Zwangs-Lockdowns waren alle wirtschaftlichen Akteure innerhalb von Tagen gezwungen, jegliche Möglichkeiten zur Digitalisierung eines Vorgangs im Unternehmen zu prüfen und zu nutzen.
Corona hat unmittelbar den häufigsten Grund des Scheiterns von Veränderungsprozessen ausgehebelt: den kulturellen Widerstand in Unternehmen und Gesellschaft. Die viel zitierte Alternativlosigkeit hat nicht nur ermöglicht, sondern erfordert, alles in Frage zu stellen. Vielerorts wurden Jahrzehnte alte, papierhafte Prozesse binnen Tagen digitalisiert. Geschäftsreisen, Kundentermine, Bewerbungsgespräche, Seminare und viele weitere Veranstaltungen wurden durch Videokonferenzen und digitale Formate ersetzt.

Homeoffice ist keine Philosophiefrage mehr und selbst der letzte Skeptiker wird anerkennen, dass Menschen offensichtlich auch zuhause zu produktiver Arbeit in der Lage sind.

Anders formuliert: sehr vieles funktioniert digital besser als gedacht.

UNTERNEHMEN BEFÜRWORTEN HOMEOFFICE

Als Konsequenz aus diesem arbeitsorganisatorischen und sozio-kulturellen Zwangsexperiment ist davon auszugehen, dass viele Unternehmen ihre Büroflächen reduzieren und neue Arbeitsmodelle etablieren werden. Laut einer Umfrage des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) wollen 71 Prozent der 500 befragten Unternehmen auch in Zukunft ihren Mitarbeitenden mehr Möglichkeiten des Arbeitens im Homeoffice ermöglichen, fast doppelt so viele wie vor einem Jahr.

Das Maß an physischer Anwesenheit von Mitarbeitenden im Büro wird künftig vor allem auf bewusste, soziale Interaktionen fokussiert sein. Man geht ins Büro zur Team-Besprechung oder zum persönlichen Kundengespräch, jedoch nicht um Anwesenheit zu demonstrieren. Dies ist ein kultureller Wandel, dessen Geist nicht mehr zurück in die Flasche gehen wird.

  • Ein Smartphone.

ALLTAGS-AUTONOMIE

Was für Unternehmen ökonomische Vorteile bietet, eröffnet den Mitarbeitenden völlig neue Gestaltungsräume und Freiheiten. In den mehrmonatigen Lockdown-Zeiten wurden wir zur digitalen Arbeit zwangsverpflichtet. In einer nachpandemischen Welt wird aus dem Zwang zum Homeoffice jedoch die Freiheit zur digitalen Arbeit, was ein sehr großer Unterschied ist. Wir haben es schätzen gelernt, nicht mehr täglich viel Zeit auf dem Weg zur Arbeit verbringen zu müssen. Wir vermissen den Flieger um 6:15 Uhr nicht, der uns zu einem zweistündigen Meeting in irgendeine Stadt gebracht hätte.

Wir werden wieder die Möglichkeit zu einer persönlichen Begegnung haben. Jedoch haben wir unter Corona-Zwang gelernt, wie gut Vieles auch digital funktioniert – mit weniger organisatorischem, finanziellem und zeitlichem Aufwand. Diese Erkenntnisse in Verbindung mit einer völlig neuen kulturellen Akzeptanz des mobilen Arbeitens versetzen uns perspektivisch in eine neue Lage. Ökonomisch formuliert können nun auch Mitarbeitende Effizienzgewinne heben, indem sie sich eine Fülle von Transaktionskosten wie Arbeitswege, Dienstreisen etc. sparen. Diese zeitliche Einsparung eröffnet dem Einzelnen erheblich mehr Freiheit in der Gestaltung seines Alltags, die persönliche Autonomie erhöht sich.

FÄHIGKEIT ZUR SELBST-GESETZGEBUNG

Der Philosoph Immanuel Kant hat in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ die Begriffe Freiheit und Autonomie in einer Konsequenz inhaltlich belegt, wie es gerade uns Deutschen eventuell nicht immer bewusst ist. Kant beschreibt – stark vereinfacht – die Fähigkeit des Menschen zur Selbst-Gesetzgebung (Auto = selbst; Nomos = Gesetz) als wesentliches Unterscheidungsmerkmal von uns Menschen gegenüber dem Tierreich.

Der Mensch ist als einziges Lebewesen in einem derartigen Maße in der Lage, sich selbst Regeln aufzuerlegen und zum Beispiel Pläne aufzustellen, wann er essen, schlafen, arbeiten, Sport treiben, entspannen will oder im äußersten Fall selbst bestimmt, wann er sein eigenes Leben beendet. Aus dieser Autonomie leitet Kant letztlich die Freiheit und Würde des Menschen ab, die in Deutschland als einzigem Land der Welt eine derart prominente Stellung in der Verfassung, unserem Grundgesetz, einnimmt.

EIN PLUS FÜR FAMILIEN

Wenn wir nun auf die oben beschriebene neue Arbeitsrealität blicken, lässt sich im Kantschen Sinne unsere Verantwortung als Menschen ableiten, die neu gewonnene Freiheit und Flexibilität als das zu begreifen, was sie ist: die Möglichkeit zur autonomeren Gestaltung unseres Arbeitsalltags.

Die neue Alltags-Autonomie stellt es uns frei, ob wir morgens, mittags oder abends Sport treiben, ob wir einen längeren Text am Schreibtisch, auf der Couch oder im Garten lesen, ob wir eine Telefonkonferenz für einen Spaziergang nutzen oder eine nicht-zeitkritische Aufgabe erst nach Sonnenuntergang erledigen, wenn die Kinder im Bett sind.

Gerade mit Blick auf das Familienleben wird die neue Autonomie fassbar. In den Lockdown-Phasen der letzten Monate haben viele Eltern minderjähriger Kinder zum ersten Mal im Alltag mit ihren Kindern gemeinsam zu Mittag gegessen und Kinder teilweise zum ersten Mal erfahren, dass Mama oder Papa nicht jede Woche mehrere Tage auf Geschäftsreise sind.

DIE ARBEITSWELT IM PARADIGMENWECHSELS

Wir haben durch die Pandemie in vielen Bereichen zum ersten Mal den persönlichen, individuellen Mehrwert der zwangsverordneten Digitalisierung erkannt. Künftig werden wir digitale Tools völlig selbstverständlich einsetzen, nur wird es keine Pandemie mehr geben. Wir können dann – grundsätzlich frei und autonom – definieren, welchen Teil unserer Arbeit wir wann, wie und wo erledigen wollen.

Laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom geht diese Erkenntnis bereits jetzt bei jedem fünften Arbeitnehmer so weit, dass er sich einige grundsätzliche Gedanken über den eigenen Wohnort macht. Laut Umfrage wären 21 Prozent der Befragten dazu bereit umzuziehen, wenn er in Zukunft größtenteils im Homeoffice arbeiten könnte.

UNSER TAKT ZÄHLT

Betrachtet man die Geschichte der Arbeit, von der Jahrtausende lang betriebenen Landwirtschaft über das aufkommende Handwerk im Mittelalter bis hin zur Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhundert, wird die Dimension des Paradigmenwechsels deutlich. Wir kommen in einer post-industriellen Arbeitswelt an, in der wir unsere Tätigkeiten in einem bisher nicht gekannten Maße an unsere persönlichen Lebensumstände anpassen können und nicht unser gesamtes Leben der Taktung und den Vorgaben der Arbeit unterordnen. Der Rhythmus der Stechuhr wird durch unseren eigenen Takt ersetzt.

Die Rahmenbedingungen ermöglichen es uns künftig, ohne große Umstände einen Arzttermin tagsüber wahrnehmen zu können, ein Kind ohne schlechtes Gewissen und kritischen Kollegenblick um 16 Uhr von der Kita abzuholen oder während eines tristen Novembers eine Woche von einem wärmeren, sonnigeren Ort aus zu arbeiten.

Wir haben eine einmalige Chance auf ein selbstbestimmteres und autonomeres Arbeitsleben in einem Maße, wie es sich unsere Eltern niemals hätten vorstellen können.

Die Frage ist, was wir als Gesellschaft, als Mitarbeitende und Unternehmen aus dieser Chance machen.

FREIHEIT BEDEUTET VERANTWORTUNG FÜR ALLE

Für jeden Einzelnen bedeutet diese neue Freiheit auch ein neues Maß an Verantwortung. Mehr Selbstbestimmung und weniger Sozialkontrolle steigern sowohl das Risiko, in Untätigkeit oder Ablenkung zu verfallen, als auch die Gefahr, sich von der Arbeit zu sehr vereinnahmen zu lassen.

Im besten auto-nomen Sinne gilt es, einerseits eine intrinsische Grundmotivation und Freude an der Arbeit aufrechtzuerhalten und andererseits Grenzen zu setzen und sich bewusst Raum für andere Tätigkeiten zu geben. Gerade bezüglich der ständigen, nie abreißenden Multikanal-Kommunikation muss jeder sein richtiges Maß finden.

Die Verantwortung der Unternehmen liegt somit auch darin, ihre Mitarbeiter mit diesen Herausforderungen nicht allein zu lassen. Empowerment ist in diesem Zusammenhang das Wort der Stunde, was letztendlich nichts anderes bedeutet als die Befähigung von Arbeitenden, sich in einem digitalisierten Arbeitsumfeld zurechtzufinden und darin erfolgreich zu sein.

Die Technologie des neuen Arbeitsumfelds bietet bisher ungeahnte Möglichkeiten, zugleich verlangt es aber von den Arbeitenden ein neues Set an Fähigkeiten. Dazu gehören Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit und Selbstverantwortung – alles Skills, die noch nie so gefragt waren wie heute.

GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNGEN

Für uns alle bringen die neuen Freiheiten ebenfalls erhebliche Herausforderungen mit sich, da vor allem der Zusammenhalt der Gesellschaft auf eine weitere Probe gestellt wird. Der westliche Liberalismus führt seit Jahrzehnten zu einer immer stärkeren Individualisierung der Gesellschaften. Der Anteil von Singles an der Gesamtbevölkerung steigt seit Jahren, während die Anzahl derer, die in Vereinen oder Parteien engagiert sind, zurückgeht.

Der amerikanische Philosoph Michael Sandel benannte diese Entwicklung des Einzelnen im Liberalismus als unencumbered self, also als ungebundenes oder losgelöstes Selbst. Diese Entwicklung stellt eine Tendenz dar, die durch die oben beschriebenen Veränderungen der Arbeitswelt verstärkt wird.

Einhergehend mit dem Weg zur weiteren Individualisierung oder Ver-Einzelung entsteht die Gefahr einer Teilung der Gesellschaft. Und zwar zwischen denjenigen, die die hier beschriebenen Freiheiten nutzen können und digital, örtlich ungebunden arbeiten; auf der anderen Seite stehen diejenigen, deren Arbeit physische Anwesenheit erfordert, sei es in der Gastronomie, in der Bauwirtschaft, in Krankenhäusern oder in Produktionshallen.

Inwieweit Teile dieser Berufe angesichts technologischer Weiterentwicklungen und demographischen Wandels in einigen Jahren oder Jahrzehnten überhaupt noch von Menschen ausgeführt werden, sei dahingestellt. Für eine gewisse Zeit werden die tendenziell ohnehin bestehenden materiellen Unterschiede zwischen wissensbasierten Digitalarbeitenden und physisch geforderten Arbeitenden um ein weiteres Konfliktfeld verschärft.

GESELLSCHAFTLICHE CHANCEN

Ein positiver gesamtgesellschaftlicher Aspekt der Arbeitsdigitalisierung sollte nicht übersehen werden. Die weltweiten Lock-Downs haben im Jahr 2020 dazu geführt, dass der CO2-Ausstoß in der EU um 11 Prozent zurück ging, im Wesentlichen im Verkehrssektor und hier vor allem in der Luftfahrt.

Selbstverständlich wird das Reise- und Flugaufkommen nach Corona wieder deutlich ansteigen. Die Summe der künftig weltweit eingesparten Arbeitswege und geschäftlichen Flugreisen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt wird jedoch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Reduktion des CO2-Ausstoßes leisten.

FLEXIBLE MODELLE

Im politischen Diskurs erwecken etliche Akteure nicht den Eindruck, die gesamte Dimension und vor allem die Chancen der neuen Arbeitswelt realisiert zu haben. Zum Beispiel böten die aktuellen Entwicklungen die Gelegenheit, die seit Jahren steigende Diskrepanz zwischen Stadt- und Landentwicklung zu mildern. Ländliche Regionen würden in einer digitalen Arbeitswelt allein durch schnelle Internetverbindungen an relativer Attraktivität gewinnen – mit sehr interessanten Implikationen zum Beispiel für Umwelt, Verkehr, Immobilien- und Mietpreise, etc..

Eine weitere gesellschaftliche Chance besteht darin, durch die Flexibilisierung der Arbeitsmodelle endlich vergleichbare berufliche Aufstiegschancen für Frauen und Männer zu ermöglichen. Die digitale Arbeit eröffnet eine erheblich bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gibt Hoffnung, dass der viel zitierte Schwangerschafts-Karriereknick der Vergangenheit angehört.

Dies ist sowohl gesellschaftlich als auch ökonomisch eine historische Chance. Wir können es uns nicht leisten, dass regelmäßig sehr gut ausgebildete Frauen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, weil Beruf und Kind nur unter größten Belastungen vereinbar sind. Mangelnde technische und organisatorische Möglichkeiten können hierfür auf jedenfalls nicht mehr als Erklärung dienen.

DIE ZUKUNFT AKTIV GESTALTEN

Die Veränderungen durch die Digitalisierung bringen eine Fülle von neuen Chancen und Möglichkeiten, Gefahren und Risiken für jeden Einzelnen von uns, für viele Unternehmen und für uns als Gesellschaft mit sich. Sicher ist, dass die Veränderungen stattfinden. Wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, darüber diskutieren und miteinander daran arbeiten, die besten Lösungen für uns alle zu schaffen.

Dies ist einerseits Aufgabe der Politik und Gewerkschaften. Es ist jedoch vor allem dort eine Aufgabe, wo Arbeit stattfindet: in den Unternehmen. Hier ist es dringend geboten, einen aktiven Diskurs darüber zu führen, wie man künftig zusammenarbeiten möchte. Ein solcher Dialog muss von der Unternehmensleitung, über die Führungskräfte, die Arbeitnehmervertreter bis hin zu jedem einzelnen Mitarbeitenden gestaltet werden. Verantwortung bedeutet im Besonderen, sich um die Zukunft zu kümmern.

Die Zukunft der digitalen Arbeit hat bereits begonnen. Höchste Zeit für uns alle, Verantwortung zu leben.

Fotos: iStock, Unsplash / Robynne Hu, Rodion Kutsaev

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