Unsere Denk- und Verhaltensmuster können wir verändern
Amelie Sanktjohanser ist überzeugt von der Transformationskraft, die in jedem vorhanden ist, um uns negativ beeinträchtigende Überzeugungen so zu lösen, dass nachhaltige Veränderung im privaten und beruflichen Bereich möglich wird. Wie das funktioniert, berichtet sie hier.
Dr. Amelie Sanktjohanser ist Ärztin und Therapeutin und erforscht die Funktionsweisen und Zusammenhänge komplexer Systeme. Ihre Methode Transformation2be wendet sie in Beratung, Konfliktmanagement und Therapie europaweit an.
Täglich denken wir 60 bis 70 Gedanken, von denen laut dem Epigenetiker Dr. Bruce Lipton nur 5 % bewusst und 95% unbewusst ablaufen. Diese 95% sind als Denkmuster, Programme, Überzeugungen im Gehirn gespeichert.
Wie geschieht das? Wenn wir denken, versenden unsere Nervenzellen – auch Neuronen genannt – über sogenannte Neurotransmitter Informationen untereinander, verbinden sich über Schaltstellen (Synapsen) und bilden ein Neuronengeflecht.
Je öfters man nun einen Gedanken denkt, umso stärker bildet sich dieses Nervenzellengeflecht mit einem bestimmten Muster aus, die Informationen eines Gedankens werden in diesem Muster gespeichert.
Unsere Gene entwickeln sich weiter
Was ist „Epigenetik?“ Hier wird untersucht, inwiefern unsere Gene und deren Ausprägungen von der Umwelt, den individuellen Erfahrungen mit den daraus resultierenden emotionalen und gedanklichen Mustern, von Ernährung etc. beeinflusst und verändert werden.
Man geht heute davon aus, dass unsere Gene zwar die Grundlage für unser Verhalten und unsere charakterlichen Eigenschaften bilden, diese sich jedoch permanent, beeinflusst durch Umwelt und eigene Lebensbedingungen, weiterentwickeln. Dies wiederum führt zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit unseres Gehirns.
Die Rolle der Epigenetik
Dr. B. Horsthemke, Leiter des Instituts für Humangenetik der Universitätsklinik Essen, sagt hierzu: “Die Umwelt hinterlässt in unserem Genom Spuren – wie wir uns ernähren oder ob wir gestresst sind. Außerdem spielt die Epigenetik mit ihren vorgeburtlichen und frühkindlichen Entwicklungsbahnen eine große Rolle.
Und A.K. Braun, Professorin an der Universität Magdeburg für Entwicklungs-Neurobiologie ist der Überzeugung: „Das Zusammenspiel von Genen und Umwelt bestimmt das Ausmaß und die Richtung, in die das Wachstum der Nervenzellen und Synapsen gesteuert wird.“
Erinnerungen vererben?
Dies geht sogar so weit, dass persönliche Erlebnisse, die unterbewusst gespeichert sind und später durch äußere Umstände bewusst erinnert oder unbewusst getriggert werden, sich auf genetischer Ebene so manifestieren können, dass die Erinnerungen an das Ereignis und die darauf basierenden Symptome an die nächste Generation weitergegeben werden.
Hierzu gehören z.B. Kriegserlebnisse mit den Erfahrungen von Flucht, Verletzung und Verlust bis hin zu bildhaften Erinnerungen und Symptomen. Vermeintlich unbegründete Depressionen, Ängste und Aggressionen von Kindern oder körperliche Schmerzen finden hierin öfters als man denkt ihre Erklärung.
Durch neue Muster die Gene verändern
Auch alltägliche Verhaltens- und Stimmungsmuster werden im täglichen Miteinander wechselseitig übertragen bzw. übernommen und können sich über die Zeit genetisch manifestieren.
Wenn also unsere Umwelt, unsere Erfahrungen und unsere Denkmuster unser Verhalten beeinflussen und sich dies genetisch manifestieren kann, haben wir dann nicht auch die Chance, durch Änderung unserer Gedanken- und Verhaltensmuster unsere Gene wieder so zu verändern, dass emotionale und körperliche Gesundheit, die Auflösung von individuellen und globalen Traumata und ein gutes Miteinander im weitesten Sinn möglich werden?
Wie sich Gedankenmuster einprägen
Wie entstehen Überzeugungen? Sie werden nicht nur durch Erziehung, Traditionen, Geschichte, Gesellschaft und den hier gültigen Werten geprägt, sie entstehen insbesondere auch auf Grund von Erfahrungen in unserem Leben, die unsere persönlichen Grenzen überschritten und unsere Handlungsmöglichkeiten überfordert haben.
Ist das, was man in dieser Situation gebraucht hätte, nicht möglich oder gesteht man es sich nicht zu, verletzen wir einen Teil unserer Persönlichkeit. In solchen Momenten, die in dieser Form einem nie wieder passieren dürfen und deswegen von da an zu vermeiden sind, bilden wir Glaubenssätze und Gedankenmuster, die unser Denken, Fühlen und Handeln nachhaltig prägen. Sie bilden unsere Realität und lassen uns unser tägliches Tun und Erleben sowie die Resultate hiervon so interpretieren, dass wir uns selbst permanent unsere Glaubenssätze bestätigen.
Diese Bestätigung suchen und finden wir auch in von uns kreierten Situationen, nach dem Motto „wusste ich es doch“, was wiederum zu ihrer Manifestation und Einflussnahme auf unsere Gene führt.
Das individuelle Erleben
Da jeder von uns die grenzüberschreitenden Momente ganz individuell erlebt, sind auch die daraus resultierenden Glaubenssätze ganz individuell. Dies erklärt die unterschiedlichen Gefühls- und Verhaltensmuster trotz gleicher Erfahrung.
Hierzu ein Beispiel:
Es fallen drei Kinder von der Schaukel und tun sich weh, die Mutter eilt hinzu, um zu helfen.
Das erste Kind fühlt sich bis dahin alleine und bildet den Glaubenssatz: „Keiner hilft mir“.
Das zweite Kind würde am liebsten aufstehen und zur Mutter gehen, bleibt aber vorsichtshalber sitzen, bis sie da ist. Hier könnte der Glaubenssatz sein: „Ich kann nicht wie ich will“.
Und das dritte Kind? Es ist von dem plötzlichen Sturz so überrascht, dass sich in ihm verankert und denkt: „Es ist immer Vorsicht geboten“. Dies geschieht – natürlich auch altersabhängig – bewusst oder unbewusst.
Glaubenssätze und damit verbundene Chancen
Von da an wird im positiven wie eventuell auch negativen Sinne das Dasein von einem Denkmuster beeinflusst, sowohl die persönlichen Werte und Motive, als auch Handlungs- und Entscheidungsspielraum, Selbstentfaltung und Selbstbewusstsein, Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, Resilienz. Die Wahrnehmung und Interpretation der Realität beeinflusst die Begegnung und den Umgang mit Menschen privat wie beruflich, die Offenheit und Flexibilität.
Alles hat seine zwei Seiten: jemand, der immer vorsichtig sein muss, hat damit die Chance, gefährliche Situationen rechtzeitiger zu erkennen als manch anderer. Jemand, der glaubt, dass ihm keiner hilft, ist vielleicht autarker und progressiver.
Unsere Glaubenssätze sind ein Teil unserer Motive, die uns im besten Falle zum Erfolg in all unseren Lebensbereichen führen können. Sie bestimmen unsere Werte und hierauf basierende Handlungen mit. Für jemanden, der „nicht kann wie er will“ ist vielleicht Hilfsbereitschaft wichtig und er hilft später einem anderen, in seinem Leben weiter zu kommen und dessen Bedenken, er könnte es nicht schaffen, aufzulösen.
Wie Situationen triggern
Es gibt jedoch auch Situationen, die wie ein Trigger wirken: Sie erinnern einen unbewusst an das zu vermeidende, grenzüberschreitende Erlebnis, was den Betroffenen dann zu einem, in der jetzigen Situation unangepasstem Denken, Fühlen und Verhalten veranlassen kann. Meine Werte, die mir bisher Beständigkeit und Halt vermittelt haben und das Motiv meines Handelns waren, werden hierdurch vermeintlich in Frage gestellt.
Mit und ohne Trigger können uns unsere Glaubenssätze leider auch negativ beeinflussen. Konflikte in allen Lebensbereichen sowie körperliche und emotionale Symptome können hiervon die Folge sein, das Wohlbefinden in der Gemeinschaft (=Gemeinwohl) irritiert werden.
Wenn ich glaube, „ich kann nicht wie ich will,“ werde ich vielleicht auf Dauer depressiv verstimmt, neidisch gegenüber „Erfolgreichen“, lebe privat wie beruflich nicht mein eigentliches Potential.
Wenn „Vorsicht geboten ist“, kann ich dann Beziehungen wirklich eingehen, mich auf mich selbst oder mein Gegenüber verlassen? Wie sehr behindert mich das in der Umsetzung meiner privaten und beruflichen Ziele?
„Wenn mir keiner hilft“ – dann mache ich es eben alleine, bin aber vielleicht dadurch weniger teamfähig oder rutsche in einen Burnout, weil ich ja alles alleine bewältigen muss.
Konflikte als Wegweiser betrachten
Sehen wir diese Situationen, unsere Konflikte und Symptome weniger als Kontrahenten sondern als Wegweiser, die uns zu der eigentlichen Ursache – dem grenzüberschreitenden Ereignis – führen wollen, hat man die Chance, zu einer wirklichen und damit nachhaltigen Lösung zu kommen: durch Integration der Anteile, die von der grenzüberschreitenden Erfahrung heute noch für den Betroffenen so relevant sind, dass sie ihn täglich wie ein Motor am Laufen halten, fällt die Basis der hierdurch entstandenen Glaubenssätze weg. Der Motor kommt zum Stillstand.
Wir können Ereignisse bewusst integrieren
Durch Integration des auslösenden Ereignisses muss ich nicht mehr all die Kraft zur Vermeidung einer vermeintlich gefahrvollen Situation und zur Verdrängung meiner Gefühle aufwenden. Vielmehr steht mir diese Kraft nun zur Nutzung und Aufrechterhaltung meiner Ressourcen zur Verfügung.
Es entsteht Raum, unsere Glaubens- und damit Verhaltensmuster entsprechend unserer individuellen Persönlichkeit umzuwandeln, wir kommen zu unserer Authentizität und unserem gesamten Potential.
Durch Integration des bedrohlichen Ereignisses verlieren Angst und Vermeidungsstrategien ihre Wertigkeit. Wir erlangen den Freiraum, entsprechend unserem Ich zu denken und zu fühlen. Basierend auf der erlangten Authentizität und der hierdurch geprägten Glaubenssätze können wir mit Respekt und Achtsamkeit uns selbst und unserer Umwelt gegenüber diese in Taten umsetzen.
Durch die Nachhaltigkeit der Integration und der darauf basierenden Veränderungen können sich Stress, Symptome, Konflikte bis hin zu Generationstraumata auflösen und sich unsere Gene entsprechend verändern.
Wie Marc Aurel bereits sagte: „Das Universum ist Transformation, unser Leben ist das, wozu unsere Gedanken es machen.“
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