Die rollende Gesellschaft
Eigentlich hätte er schon vor 2000 Jahren erfunden werden können. Dass dies erst 1970 geschah ist an sich schon ein Phänomen. Seitdem ist er zum treuen Begleiter der mobilen Weltbevölkerung geworden. Eine Betrachtung über eine der unterschätztesten Erfindungen der Menschheit: den Rollenkoffer.
Hier erfahren Sie mehr über
- Rollkoffergeschichte
- Reisetrolleys und Hartschalenkoffer
- Lebensgefühl
Text Gerd Giesler
Gerd Giesler ist Inhaber der Agentur Journal International The Home of Content, leidenschaftlicher Reporter und Vielreisender von Berufs wegen. Rund 2400 km hat er bislang Koffer durchs Leben gerollt.
„Drum o Mensch, sei weise, pack die Koffer und verreise.“ Wilhelm Busch
Er bevölkert Flughäfen und Bahnhöfe, Hotellobbys, Messen, Fußgängerzonen. Er darf bei keiner Reise fehlen, denn wenn er verlorengeht, ist der Urlaub gelaufen. In beliebten städtischen Wohngegenden verstummt frühmorgens das Vogelkonzert, wenn eine Kohorte asiatischer Reisender mit Google Maps den Weg vom Airbnb zur U-Bahn-Station sucht.
DIE ROLLKOFFER-INVASION
Viele in der Gruppe ziehen das gleiche, geklonte Teil hinter sich her, schwarz und auf Rollen, die machen einen Höllenlärm. Besonders auf Kopfsteinpflaster, an Bordsteinkanten und in Häuserschluchten. Aus dem Touristenhotspot Dubrovnik, der einerseits durch die seefahrenden Venezianer, andererseits durch die Serie „Game of Thrones“ Weltberühmtheit erlangte, wurde er schon per bürgermeisterlichem Dekret verbannt. Wer sich nicht daran hält, zahlt bis zu 250 Euro Strafe. Und das pro Stück.
Es geht um die Invasion des Rollenkoffers, der die Welt im Handstreich erobert hat und zwar querbeet durch alle Gesellschaftsschichten, vom Clochard unter der Seine-Brücke, bis zum Tycoon, der sein Bordcase zum Privatjet rollt. Fluglinien haben weltweit ihre Ablagefächer mit dem schönen Namen „Overhead locker“ auf die Flut der modernen Eroberer eingestellt. 55 x 40 x 20 lauten die fast weltweit genormten Abmaße des berühmt-berüchtigten Rollkoffers.
Die Idee vom Rollkoffer entstand in der Karibik
Das Rollkoffer-Zeitalter begann 1970. Bernhard Sadow, Vizepräsident eines Kofferherstellers aus Massachusetts, kehrte mit seiner Familie vom Urlaub auf der Karibikinsel Aruba zurück. Beim Umsteigen am Flughafen von Puerto Rico hatte er Probleme beim Umladen seines schweren Gepäcks. Beim Zoll sah er einen Beamten, der ein schweres Gerät auf einem Rollwagen durch die Halle fuhr. Sadow dachte sich: „Ein Koffer auf kleinen Rädern, das wäre es!“
In der heimischen Werkstatt schraubte Sadow vier Rollen von einem Schrank, befestigte sie an der Unterseite eines Koffers, band einen Riemen daran und zog ihn wie eine Trophäe durch die Straßen – der Rollenkoffer war erfunden.
So bahnbrechend diese Erfindung auch war, die Sache kam erst viel später ins Rollen. Dabei war es schon bezeichnend, dass Carl Benz 1886 zwar das Automobil erfand, aber der Rollenkoffer erst soviel später seinen Durchbruch feierte. Und das, obwohl das Rad, als auch das Reisen mit Gepäck, seit mehr als 2000 Jahre der Menschheit hinlänglich vertraut sind.
Der Kunstname Trolley setzt sich durch
In den frühen 70er Jahren beschäftigten sich einige Tüftler mit dem rollenden Gepäck. Das Versandhaus Quelle warb mit seinem „Kofferroller“ als praktischem Gepäckträger für unterwegs. Bereits 1967 stellte Samsonite den ersten extrem leichten und unkaputtbaren Polypropylen-Koffer her und sieben Jahre später den ersten auf Rollen. 1972 gelang dem französischen Gepäckhersteller Delsey ein Wurf von ungeahnter Tragweite. Beim Ausziehen des versenkbaren Handgriffs des neuartigen Hartschalenkoffers wurden auf der gegenüberliegenden Seite zwei kleine Räder ausgeklappt. Trolley nannte Delsey seine Kreation. Der Name wurde im englischen Sprachraum zum Inbegriff für Koffer auf Rädern.
Sadows patentierte Konstruktion vom „Rolling Luggage“ floppte.
„Fast jedem Warenhaus in New York stellte ich meinen Rollkoffer vor, aber keiner biss an. Im Gegenteil. Kein Kunde wollte einen Koffer kaufen, den er wie einen Hund hinter sich herziehen musste.“ Darin waren sich alle einig. Das gab doch ein erbärmliches Bild ab und hätte zudem an Bahnhöfen, Flughäfen und vor den großen Hotels, wie dem Waldorf Astoria, eine ganze Schar professioneller Gepäckträger arbeitslos gemacht.
Und überhaupt: wer Gentleman war und über einen starken Bizeps verfügte, der legte eben selbst Hand an, um erst die Koffer und vielleicht später auch die Dame seiner Wahl über jede Schwelle zu tragen.
Doch dann nahm Macy’s, die größte Warenhauskette in den USA, Sadows rollende Truhe überraschend ins Programm auf und siehe da, vor allem Handelsvertreter rollten damit ihre Kollektionen direkt zum Kunden.
Ein Pilot hebt mit dem Rollkoffer ab
Es sollte jedoch noch fast 20 Jahre dauern, bevor aus dem Trolley ein Milliarden-Business wurde, entscheidenden Anteil daran hatte ein Pilot von Northwest Airlines namens Robert Plath. Er war die ewige Kofferschlepperei leid. Irgendwann griff er Sadows Idee mit der rollenden Kiste auf, allerdings stellte er sie hochkant auf zwei, anstelle von vier Rollen und verzichtete zugunsten einer Teleskopstange auf die Hundeleine. Und siehe da, diesen Trolley konnte man bequem hinter sich herziehen und durch die Gangway jedes Flugzeugtyps bis ins Cockpit rollen.
Genau hier kommt die Erfindung der französischen Feintäschner Louis und George Vuitton ins Spiel.
Im Jahre 1886 erfanden die beiden das legendäre Tumbler Schloss, was die edlen Überseekoffer erst sicher vor Langfingern machte. Jahrzehntelang war es das bevorzugte Verschluss-System eines jeden Rollenkoffers. Erst die Terroranschläge vom 11. September 2001 sollten dies ändern. Sie riefen die TSA, die Transport Security Administration auf den Plan, jene amerikanische Behörde, die für die öffentliche Sicherheit auf Highways, Bahnhöfen und vor allem an Flughäfen verantwortlich zeichnet.
Ebenso wie das Handgepäck nach dem Check-In wird auch am Schalter aufgegebenes Gepäck auf verbotene Gegenstände und vor allem Sprengstoff gescannt. Auffällige Koffer dürfen vom Sicherheitspersonal diesbezüglich geöffnet werden. Verfügt ein Koffer nicht über ein dreistelliges TSA-Schloss, zu dem die US-Behörde einen Generalschlüssel besitzt, darf das Gepäckstück notfalls aufgebrochen werden. Der entstandene Schaden geht zu Lasten des Besitzers, so das Gesetz.
Zurück zu Robert Plath. Er hängte seinen Pilotenjob an den Nagel und produzierte zunächst in der eigenen Garage, später in einem angemieteten Warenhaus mit seiner neugeründeten Firma TravelPro Rollenkoffer der neuen Generation und traf damit auf ein neues Lebensgefühl. Das Reisen, selbst in die entlegenen Winkel dieser Erde war nicht mehr länger das Privileg von Gutbetuchten. Es war der Beginn von Massentourismus und Billigfliegern. Hinzu kam das gesteigerte Bedürfnis nach Mobilität und der in Vogue geratenen Geschäftsreise, möglichst in Business oder First auf dem Upper Deck einer Boing 707. Selbst Frauen im Kostüm und Stöckelschuhen zogen ab sofort diese drolligen Trolleys hinter sich her, ohne dass Make-Up und Frisur darunter litten.
Wer seinen Koffer noch selbst trug war auf einen Schlag uncool geworden und zog im Wettlauf um den Anschlussflug in Charles de Gaulle, JFK, King Fahd, Kai Tak oder Heathrow oft den Kürzeren: „Sorry, you missed your flight!“. Man begann Meilen zu sammeln und traf sich in Frequent Traveller Lounges, natürlich untrennbar verbunden mit den Rollkoffern, die sich wie ein Ei dem anderen glichen.
Ein Rollkoffer aus Alu wird zum Kultobjekt
Da hoben sich Gepäckstücke aus Aluminium, dem Material aus dem Flugzeugbau, schon wohltuend von Stoff-und Ledervarianten ab. In dem James-Bond-Streifen „Die Welt ist nicht genug“ diente ein Samsonite-Koffer aus Alu dazu, Dollarbündel durch ganz Europa zu befördern.
Zu Kult kam allerdings ein anderer. Dieter Morszeck aus Köln ließ Alukoffer mit Rillen verstärken, so dass weder Champagnerflaschen noch gebügelte Hemden unter dem Transport auf Rollen litten. Die Verbindung von Funktionalität, Praktikabilität und Langlebigkeit haben den Rimowa-Rollenkoffer zum Statussymbol für Freiheit und grenzenlosem Reisen gemacht. Und zum wahren Kunstwerk, wenn er vintagemäßig verbeult, mit Aufklebern übersät, wie die Kühlschranktür in der Junggesellen-WG, vom Band in der Ankunftshalle ploppt.
Auch der Inhalt der legendären 55 x 40 x 20 Zentimeter war irgendwie uniformiert und als Urban Citizen zeigte man ihn gerne bei Entnahme der Flüssigkeiten vor den X-Rays. Er: Business-Ersatzhemd, Boxershorts, Jogging-Outfit und Financial Times. Sie: Chanel Kostüm, Feinstrumpfhose, Aerobic-Dress und Elle.
Von der Nordseekrabbe abgeguckt
Aber die Karawane zog weiter. Vorbei war die Zeit, als Flugreisen noch etwas Romantisches anhaftete und die Schlangen vor der Passkontrolle überschaubar waren. Der Rollkoffer hatte sich dem Chamäleon-artig anzupassen. Er bekam vier Rollen verordnet und wurde dadurch millimetermäßig manövrierbar, in jede Richtung, wie eine Nordseekrabbe. Man zog den High-Tech-Trolley auch nicht mehr länger in Schieflage hinter sich her, sondern scheinbar mühelos seitwärts neben sich, aufrecht und fast tänzelnd. Zwei Finger der einen Hand am Trolley, zwei Finger der anderen am iPhone. Dazu passten plötzlich die Knallfarben vom Lite Shock, Samsonites leichtestem Trolley der Welt, der mit seinen 1,7 Kilo Fliegengewicht das Reisen mit leichtem Gepäck einläutete.
Schon immer war der Rollkoffer Attribut einer mobilen Generation und hatte sich der Wahl des Transportmittels unterzuordnen. Aber sind die Zeiten nicht passé, als man für seine Company noch öfter pro Jahr im Hotel als zuhause übernachtete? Ausgelöst durch die Reisebeschränkung während Corona und dem steigenden Negativ-Image von Inlandsflügen setzt sich doch ganz offenbar eine Erkenntnis durch, dass nicht jede Dienstreise von Nöten ist.
Wozu Geschäftspartner besuchen, die selbst im Home-Office verweilen? Wozu in den Urlaub fahren, wenn das Metaversum ganz neue Erlebnisse verspricht? Das Transportmittel der Zukunft ist das Web 3.0, in dem wir nur mehr unsere Daten sicher auf Reisen schicken.
Rollkoffer adé? Trolley quo vadis?
Fotos: DALL-E