Gemeinwohl und Gesunde Marktwirtschaft
Egal, ob nach Corona oder mit Corona, unser Gesundheitssystem muss neu gestaltet werden! Hier lesen Sie, wie das gelingen kann und worauf zu achten ist.
TEXT: Ellis Huber
Dr. Ellis Huber ist Arzt, Gesundheitspolitiker und seit 2007 Vorstandsvorsitzender des Berufsverbandes Präventologen e. V.. Er plädiert für eine beziehungsstarke Medizin und Pflege nach der Devise: »Liebe statt Valium«
Moderne Gesundheitspolitik gestaltet das Gesundheitssystem als gesellschaftlichen Organismus, der subsidiäre Solidargemeinschaften einem öffentlichen Markt von Leistungsbeweisen und Erfolgsberichten aussetzt. Dies hat einen Wettbewerb um gute Heilkunst und wirksame Krankenhilfe zur Folge.
Eine Gemeinwohlökonomie im Gesundheitssystem führt zu einem gesunden Ausgleich zwischen den egoistischen Impulsen einer kapitalistischen Produktionswirtschaft und den mitmenschlichen Bedürfnissen oder Gemeinschaftsidealen der Bürgerinnen und Bürger in der Informationsgesellschaft.
Ein so gestaltetes Gesundheitssystem minimiert gesellschaftliche Destruktivität und optimiert gesellschaftliche Produktivität. So gesehen dürfte eine preiswert erreichte psychosoziale Gesundheit in Deutschland auch neue Produktivkräfte für die künftige Volkswirtschaft entfalten. Das Instrumentarium des freien Marktes bleibt, aber die Maßstäbe ändern sich. Kontinuierlich und transparent gemessen wird dann nicht der Profit in Euro oder Dollar, sondern der Nutzen für die Gesellschaft mit einem gemeinwohldienlichen Maß. Die Messwerkzeuge sind im Grundsatz von der Gemeinwohlökonomie bereits entwickelt.
Wertschöpfungsprozess der Heilkunst
Ich plädiere also dafür, das Gesundheitssystem als soziales Projekt zu definieren und eine bewusst gestaltete „Non-Profit-Gesundheitswirtschaft“ anzustreben. Wettbewerb um Leistungen der Heilkunst soll sein, nicht aber Wettbewerb um möglichst lukrative Profitraten. Die Zukunft einer integrierten Gesundheitsversorgung wird ein neues Miteinander unterschiedlicher sozialer und gesundheitlicher Berufe herausbilden und das Verhältnis zwischen Krankenkassen und Diensten verändern.
Die gegenseitige Bereitschaft, Leistungen im Wertschöpfungsprozess der Heilkunst gewissenhaft zu definieren und sinnvoll zu belohnen, dürfte die Produktivität des Versorgungssystems spürbar steigern und gleichzeitig neue Qualitäten erreichen lassen.
Das soziale Immunsystem
Das Unternehmen Gesundheit für Deutschland hat seine Zukunft jenseits der Krebszellökonomie als kooperatives Netzwerk. Wer in diesem System arbeitet, tut dies im Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Das Ganze ist mehr als die Summe aller Teile. Jeder zeigt sich bereit, seinen Beitrag für den Erfolg des Versorgungsnetzes zu liefern und die Funktionstüchtigkeit des gesamten Systems zu stärken.
Kooperativer Wettbewerb um Leistungen und Ergebnisse in der Gesundheitsversorgung lösen die heutige Konkurrenz um Finanzierungspfründe und profitable Versorgungsnischen ab. Das Leitbild des sozialen Immunsystems beschreibt die realistische Utopie, die Gemeinwohlökonomie liefert dafür Konzepte und Instrumente und möglich wird eine „Gesunde Marktwirtschaft“.
Kommunikation und Kooperation
Die Gesundheitsversorgung von morgen ist dabei keine von oben gestaltete und beherrschte Versorgungsmaschinerie mehr, sondern ein von unten gebildetes, ständig wandelbares, sich selbst organisierendes komplexes System, ein lebendiger Organismus. In der Zukunft werden voneinander abhängige und aufeinander bezogene Problembewältigungsgruppen zum Versorgungsträger, die gesundheitliche und soziale Arbeit im Wissen um die gemeinsame Aufgabe ins Werk setzen.
Die Fähigkeit zur Kommunikation und Kooperation, das Wissen und Können der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erhalten mehr Anerkennung im Versorgungssystem als strukturelle Machtausübung, Befehlshierarchien oder berufsständische Herrschaftsansprüche.
Die heilsame Kraft von Vertrauen und Zuversicht
Die Arbeit mit Not leidenden Patienten und die Sorge für Kranke vermitteln einen besonderen Kontakt zum Kern des Menschlichen. Krankheit, Hinfälligkeit und Tod stellen die elementare Gefährdung des einzelnen Menschen dar, die ihm seine Bezogenheit auf die Mitmenschen sinnlich vermitteln. Daher besitzt das soziale und solidarische Gesundheitswesen in der Bevölkerung so viel Zuspruch. Es sichert die Human-Ressourcen und stärkt die inklusiven und produktiven Kräfte der modernen Gesellschaft.
Gesundheit als Ziel bildet ein Bindegewebe, das die Menschen jenseits von ökonomischen und privaten Beziehungen miteinander verbindet.
Ein systemisches Verständnis der Organisationen des Gesundheitswesens und eine Führungskultur, die ihre Qualitätsmaßstäbe an humanistischen Werten ausrichtet, sind entscheidend. Akteure wie Krankenkassen, Ärzteschaft, Pflegedienste, Krankenhäuser oder Sozialstationen müssen den Wandel von der geldgesteuerten Optimierung ihrer Partikularinteressen hin zu einer wertgesteuerten Optimierung der individuellen und der sozialen Gesundheit angehen.
Das ist eine Herausforderung für das System, das gegenwärtig noch hinter dem Geld herrennt und in der Krebszellenökonomie gefangen ist.
Gemeinwohlökonomie
Die Idee der Gemeinwohlökonomie entwickelt sich demgegenüber gerade zu einer kraftvollen Bewegung. Sie mit der sozialen Gesundheitsbewegung zu integrieren könnte eine gemeinwohlbasierte Gesundheitswirtschaft stärken und die Kultur einer Gesunden Marktwirtschaft konkret und praktisch entwickeln.
„Die Gemeinwohlökonomie beruht auf denselben Grundwerten, die unsere Beziehungen gelingen lassen: Vertrauensbildung, Wertschätzung, Kooperation, Solidarität und Teilen. Nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind gelingende Beziehungen das, was Menschen am glücklichsten macht und am stärksten motiviert“, so der Begründer der Gemeinwohlökonomie Christian Felber.
Das alles stärkt nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Salutogenese auch die Gesundheit und die Resilienz von Communities und Gesellschaften.
Eine neue Vertrauenskultur
Die bestehende Kultur des Misstrauens lähmt gegenwärtig die Innovationspotentiale im Gesundheitswesen. Ein vertrauensförderliches Qualitätsmanagement als Bestandteil der Gemeinwohlökonomie zielt darauf ab, diese Landschaft von Angst, Missgunst, Konkurrenz und Verteilungskämpfen in eine Kultur von Vertrauen, Kooperation, Offenheit und sozialer Verantwortlichkeit zu wandeln.
Die Entwicklung einer neuen Vertrauenskultur in einem hochkomplexen System benötigt Zeit und kommunikative Instrumente ganz neuer Art. Es geht um eine bewusste Werteorientierung und eine offene Kommunikation unter den beteiligten Akteuren, um Beziehungsqualitäten und lernende Organisationen mit nachhaltiger Glaubwürdigkeit: um Leitbilder und Berufsordnungen für die helfenden Berufe, die berufsständische Identitäten überwinden lassen.
Ein systemisches Qualitätsmanagement muss kontinuierlich Vertrauen schöpfen und eine lernende Beziehungskultur fördern. Ich schlage dafür Leistungsversprechen mit einem offenen, ehrlichen und konsequenten Zufriedenheitsmanagement vor: Vertrauen ist besser und Selbstkontrolle immer auch effizienter, effektiver und billiger als jede Fremdkontrolle oder bürokratische Überwachung.
Controlling als Herrschaftsinstrument wird durch ein offenes Selbstcontrolling abgelöst.
Die fünf Leistungsversprechen
Die salutogen basierten fünf Leistungsversprechen für Ärzte, Sozialstationen, Krankenhäuser und Therapeuten sollten etwa so formuliert sein:
„Wir behandeln Sie immer so, wie wir in gleicher Lage selbst behandelt werden wollen.
Wir sagen Ihnen jederzeit die Wahrheit und nehmen Sie so an, wie Sie sind, unvoreingenommen, zugewandt und mit Wohlwollen.
Wir respektieren Sie als individuelle Persönlichkeit mit Leib, Seele und sozialen Beziehungen und achten Ihre Biographie und Ihr spirituelles Leben.
Wir sehen bei unserem fachlichen Denken und Handeln auch Ihre Stärken und Ihre Selbstheilungskräfte. Ziel unserer Arbeit ist es, dass Sie Ihr Leben trotz Handicap selbstbewusst und selbstständig meistern und sich selbst treu bleiben können.
Unser Behandlungskonzept ist dabei grundlegend auf Ihre Mitarbeit, Ihr Vertrauen und Ihr eigenes Wollen angewiesen. Daher erwarten wir, dass Sie sich selbst einbringen und sich auch angenommen fühlen.“
… und ihre Sicherung
Diese Haltung als Verpflichtung für alle Dienstleistungsprozesse wird überall dargestellt und jedem „Kunden“, Klienten oder Patienten nahegebracht. Die Information endet mit der Aufforderung: „Wenn Sie nun den Eindruck oder das Empfinden haben, dass wir diesen Versprechen bei unserem Verhalten und Tun nicht gerecht werden, rufen Sie bitte das Patiententelefon unserer „Aufsichtsbehörde“ an, die unsere Qualität beobachtet und unsere Dienstleistung überprüft.
Die unabhängigen, der Qualität unseres Versorgungssystems verpflichteten, Fachleute werden sich individuell um Ihr Problem kümmern und mit Ihnen zusammen nach besseren Lösungen suchen. Ihre offene und ehrliche Rückmeldung ist Voraussetzung dafür, dass wir unsere Arbeit kontinuierlich verbessern und Ihnen gerecht werden können.“
Gesunde Marktwirtschaft
Eine solche Selbstverpflichtung von gesundheitlichen Diensten und Versorgungseinrichtungen mit einer konsequent umgesetzten Systementwicklungs-Praxis pflegt kontinuierlich das Vertrauen der beteiligten Menschen untereinander und dieses Verfahren der Qualitätsentfaltung durch offene Kommunikation und gegenseitigen Dialog ist nachhaltig und ökonomisch, wirksam und preiswert.
Wir können es umsetzen und damit eine Gesundheitswirtschaft begründen, die alltäglich beweist, was Gemeinwohlökonomie und Gesunde Marktwirtschaft zu leisten vermögen: sie sichern das individuelle und soziale Wohl für Alle und es wächst die Fähigkeit der Menschen, in ihren Lebenswelten mit Viren, Bakterien und anderen Krankheitserregern ohne Angst fertig zu werden.
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