Aufgeschlagenes Buch, dessen Innenseiten zu einem Herz gefaltet sind.

MAKE LOVE, NOT WAR (4.0) –

Globale Ethik in Krisenzeiten

Welche Art von Ethik kann die Welt von heute noch zusammenhalten? Eine grundlegende Betrachtung angesichts der vielen Krisen, die uns beschäftigen.

Text Giò von Beust

Schwarz-Weiß-Bild von Giò von Beust.

Giò von Beust ist u.a. Bankkaufmann, Taxifahrer, Volljurist, Kommunalpolitiker, Weltreisender, Autor/Publizist/Verleger, Unternehmer/Realtor, Künstler, Gedankenalchimist, Wilddenker und Suchender.

Also sprach der Herr: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“
Schon das gemeinsame erste Gebot der „Buch“-Religionen Islam, Christentum und Judentum weist auf eine Grundproblematik der „Gebote“ als Grundlage für eine globale Ethik hin: Der gemeinsame Gott der Juden, Christen und Moslems beansprucht für sich den Alleinvertretungsanspruch in Sachen Göttlichkeit.

Die Formulierungen der Thora, des Alten Testaments und des Korans mögen zwar leicht anders klingen, jedoch ist der göttliche Absolutheitsanspruch ist allen drei „Gottformen“ gemein.

Die Weltsicht und Regeln der Buchreligionen

Die trennende, auf sich selbst bezogene und auf andere projizierte Weltsicht hat sich schließlich auch innerhalb dieser blutsverwandten Religionen breitgemacht und zu vielfältigen Auseinandersetzungen untereinander bis hin zu hasserfüllten Kriegen geführt.

Angefangen von den Kreuzzügen bis hin zum sunnitischen Islamischen Terrorstaat, der die Sache heute auf die Spitze treibt, indem er seine schiitischen Glaubensbrüder und andere Islamvarianten zu Ungläubigen deklariert.

Nicht anders agierte die katholische Kirche nach ihrer Machtergreifung im christlichen Universum im Gefolge des zweiten Konzils von Konstantinopel, das im Jahre 553 mehrere christologische Varianten – also die Frage nach der menschlichen und/oder göttlichen Natur von Jesus und ob sich diese Naturen getrennt oder ungemischt äußerten – als Häresie brandmarkte. Die Beschlüsse dieses Konzils werden übrigens bis heute sowohl von den orthodoxen und katholischen als auch evangelischen Kirchen anerkannt.

Der Dekalog als moralphilosophische Basis einer globalen Ethik?

Im Zuge dessen wurden auch so schöne Ideen wie die von Clemens von Alexandria (um 150 bis ca. 215 n. Chr.) und Origines (185 bis ca. 254) vertretene Vorstellung der Apokatastasis verworfen, der letztendlichen oder gar grundsätzlichen Allaussöhnung „Gottes“ mit allen Geschöpfen.

Keine Sünde mehr am Ende, alles vergeben. Diesen Ausfall des Jüngsten Gerichts konnten die Kirchenoberen nicht zulassen, da doch ohne Sünde und Bestrafung Sodom und Gomorrha an allen Ecken und Enden auszubrechen drohte.

Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstands, dass sich rund 55 % der Weltbevölkerung oder 3,7 Milliarden von 6,7 Milliarden Menschen (Stand 2010) zum Christentum oder Islam bekennen (Judentum: 0,2 %), lohnt es sich, die zehn Gebote (wobei die verschiedenen Gruppen sich nicht einig sind, wie viele es nun sind, ob z.B. der Vorstellungssatz „Ich bin JHWH, dein Gott“ als Gebot dazuzählt), einmal näher anzusehen und zu prüfen, ob sich der Dekalog als moralphilosophische Basis einer globalen Ethik eignet.

Ist die Rede von Geboten oder Verboten?

Eine allgemeingültige, eine von allen Menschen – Frauen wie Männern – akzeptierte und auch praktizierte bzw. praktizierbare Ethik, müsste zu allen Zeiten, in allen Kulturen, unter allen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen und in jedweder individuellen, ganz persönlichen Situation Gültigkeit beanspruchen können.

Abgesehen davon, dass sich nur sechs der zehn Gebote mit ethischen Fragen beschäftigen und Katholiken und Protestanten das Begehrensverbot von Nummer 9 auf die Frau (Katholiken) bzw. das Haus des anderen (Protestanten) bezogen wissen wollen, wird selbst bei oberflächlicher Betrachtung deutlich, dass das monumental in Stein gemeißelt an Moses übergebene Regelwerk nicht hält, was es verspricht.

Der Dekalog umfasst – neben der Selbstvorstellung Jahwes tatsächlich sieben VERbote und nur zwei GEbote, nämlich die Eltern in Ehren zu halten und jede Woche einen Feiertag einzulegen. Der Rest sind entweder Verbote, wie sie sich in jedem Strafgesetzbuch wiederfinden – Mord, Diebstahl, Meineid –, oder Verbote, die Promiskuität und Neid unterbinden sollen.

Wie der Fußball den Dekalog an seine Grenzen führt

Dass Frauen scheinbar durchaus ungestraft Männer begehren dürfen, ist vermutlich der patriarchalen Grundanlage des Gesamtkonstrukts geschuldet; männliche Logik stolpert eben manchmal über sich selbst, nicht nur in ethischen Fragen … begehrt werden ist schön und gut (weil es einen selbst erhöht), begehren aber hässlich und schlecht.

Im christlichen Kontext wird das Bildnisverbot ohnehin in schöner Regelmäßigkeit missachtet (unter anderem schwelgerisch in Kirchen), wie auch das Verbot, Gottes Namen bei jeder x-beliebigen Gelegenheit als Füllwort einzusetzen – was Fußballer gerne tun, die beim Betreten und Verlassen des Platzes oder Erzielen eines Tores gestenreich Gottes Namen anrufen.

Wobei italienische Fußballer bei einem Fehlschuss auch schon einmal die Variante „Dio Cane“ – Hundegott – in dem Mund nehmen. Über 300 Millionen Menschen spielen weltweit Fußball – Männer im Wesentlichen – also ist das in diesem Zusammenhang durchaus relevant.

Das lange Wochenende der Buchreligionen

Auch der Islam, dessen Gott, was oft vergessen wird, derselbe ist wie der des Christen- und Judentums, kennt die Zehn Gebote, wenn auch nicht expressis verbis, sondern verstreut über den Koran (z.B. Suren 2,42 und 20,131).

Interessant ist hier lediglich, dass der Koran keinen Feiertag, sondern nur ein Pausieren im Kaufmannsgeschäft vorsieht: nämlich fürs Freitagsgebet (Sure 62,9).

Da Feiertage aber immer gut sind, ist der ansonsten arbeitsame Freitag inzwischen auch in der islamischen Welt zum Sonntag mutiert. Da Juden ihren Sonntag am Samstag haben, könnte man insgesamt von einem langen Wochenende der Buchreligionen sprechen.

Verlassen wir also die Sphäre des nahöstlich-patriarchalen Monotheismus – schließlich suchen wir nach Regeln, die für alle Menschen und nicht nur von Männern für Männer erdacht wurden – und sehen noch weiter östlich weiter, wo rund 22% der Weltbevölkerung andere Vorstellungen hegen (15% Hindus und 7% Buddhisten).

Was ist mit dem Hinduismus?

Das mächtige und uralte religiöse Gebäude des Hinduismus kristallisiert sich aus Hundertausenden von Versen, Sutren und Mantren, Opfergaben und Ritualen, unendlich vielen Helden, Asketen, Heiligen, Halbgöttern und Göttern heraus.

Seine Verhaltensnormen leiten sich oftmals aus Kastenzugehörigkeit und persönlichem Lebensabschnitt ab. Zudem spielen die Reinkarnationsvorstellung und das Gesetz des Karmas eine wichtige Rolle, was ethisches Verhalten über mehrere Leben hinweg Wirkung entfalten lässt, mit der Folge, dass die jeweils nächsten Leben davon stark beeinflusst werden.

Schwache Charaktere sind dazu verdammt, endlos den Kloputzer geben zu müssen. Ist auch hier wieder männliche Logik am Werk gewesen? Das ist zu vermuten, denn auch das hinduistischen Kastengebäude kennt nur Brahmanen, Krieger, Kaufleute und Kloputzer, keine Brahmaninnen, Kriegerinnen, Kauffrauen und … halt: Klotzputzerinnen kennt es doch.

Ein weiteres religiöses Gebäude, das seine ethischen Normen auf ausgesprochen patriarchale Vorstellungen stützt, also die Hälfte der Weltbevölkerung außen vorlässt. Wir müssen weitersuchen.

Das Leitziel von Ethik

Bevor wir vielversprechendere Ansätze für eine globale Ethik betrachten, müssen wir vorab dazwischenschieben, was denn die Verhaltensnormen, denen die Menschen folgen sollen, erreichen wollen?
Was ist das Leitziel der jeweiligen Systeme, die Metaethik, das höchste angestrebte Gut, aus dem sich alles andere ergibt, an dem sich alles ausrichtet? Alle transzendent ausgerichteten religiösen Systeme haben hier ein Problem.

Sie verlangen von den Menschen ethisches Verhalten hier und jetzt, um eines Ziels im Jenseits willen. Wer sich gut verhält, wird aus dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt entlassen oder kommt ins Paradies, bzw. wird ewiglich aufs Rad der Wiedergeburt geschnallt oder brät in der Hölle.

Die Wurst, nach der der Mensch schnappen soll oder den Horror, den er fürchten soll, bleibt virtuell und seiner Lebenserfahrung entzogen – wobei er allerdings sein Leben durchaus als Vorgeschmack auf das Kommende (oder als Ergebnis von Vergangenem) deuten soll.

Der Mensch in dieser religiösen Vorstellungswelt soll sich also nicht wegen des Eigenwerts von Handlungen und Unterlassungen ethisch verhalten, sondern aus Nützlichkeitserwägungen und Zweckorientierung. Dass das nur bedingt funktionieren kann, liegt auf der Hand. Wem verboten wird, an den blauen Affen zu denken, wird sich ihn, im Bestreben nicht an ihn zu denken, immer denken müssen und zwangsläufig scheitern.

Und der Buddhismus?

Bleibt von den großen religiösen Systemen der Buddhismus, der eigentlich keine Religion ist, sondern eher eine Bewusstseinsschulung. Die menschliche Existenz wird hier als grundsätzlich leidbehaftet angesehen, da sie unausweichlich mit Krankheit, Alter und Tod einhergeht.

Die Nichtwiedergeburt – populär als Nirvana bekannt – wird erreicht, wenn der Mensch „erwacht“ und erkennt, dass das inkarnierte Leben – kurz gesagt – eine leidvolle Fata Morgana ist.

Der historische Gautama Buddha wollte sicherlich keine Religion gründen oder sich selbst zu einem gottgleichen Wesen überhöht wissen, als er die Bedingungen des Seins erforschte und schließlich einen Weg fand, wie dieses zu meistern seien.

Im berühmten Gleichnis vom vergifteten Pfeil [Majjhima Nikaya 63. (VII,3) Cúlamálunkya Sutta] erklärt er dem Mönch Malunkyaputto, dass metaphysische Spekulationen sinnlos sind.
Wenn einem ein giftiger Pfeil im Auge sitzt, geht es darum, ihn fachgerecht zu entfernen und nicht darum, erst einmal zu klären, wer ihn abgeschossen hat und welche Absicht der Schütze damit verfolgte.

Der Achtfache Pfad

So zog der der Thatagata, der „So-Gegangene“, denn auch nach seinem Erleuchtungserlebnis noch 40 Jahre durch die Dörfer und Städtchen Nordindiens, um den Achtfachen Pfad der Befreiung zu erläutern und den in Konditionierungen gefangenen Mitmenschen zu helfen, ihre Leben als lebenswert zu empfinden und zu meistern.

Der Achtfache Pfad bietet eine Menge sinnvoller Verhaltensvorschläge für alle Menschen. Aber reicht das als Grundlage für eine globale Ethik? Ist das buddhistische Gebäude nicht in einem kulturellen Umfeld entstanden, das eigenen Gesetzen folgt und nicht ohne weiteres weltweit übertragbar ist?

Nicht ohne Grund empfiehlt der Dalai Lama, dass jeder lieber bei seiner eigenen Religion bleiben sollte, also zum Beispiel besser ein guter Christ bleibt als zum Neubuddhisten zu werden – und, altersweise, dass es angesichts der Weltverhältnisse wohl für alle das Beste wäre, alle Religionen abzuschaffen.

Vier Hände zeigen Gebärden

Ethik jenseits von Regeln, Geboten und Verboten?

Gebote oder religiös begründete Moralkonzepte können ganz allgemein keine globale Ethik tragen oder zu einem gedeihlichen Miteinander der Menschen beitragen.

Gleiches gilt für trübe Moralphilosophien, erdacht von einigen, meist älteren Männern aus dem europäischen Mittelmeer-Kulturkreis (angefangen mit Aristoteles/Platon, Kant usw.), die zwar brillant denken können, aber eben nur: denken.

Zugestanden, Grenzüberschreiter wie Nietzsche, Goethe und Rilke waren bestrebt, menschliches Sein und Verhalten in Zusammenhängen zu verorten außerhalb eines kulturspezifischen oder soziologischen Patrizier- oder Bürger-Parameters.

Jedoch erst in neuerer Zeit haben sich, nicht zuletzt durch die Forschungen der Quantenphysik, Psychologie und Neurologie weitere Horizonte aufgetan.

David Bohm und Krishnamurti

In den 1970er und 1980er Jahren haben der Quantenphysiker David Bohm und der „Weltenlehrer ohne Anhänger“ Krishnamurti in einem mehr als 20-jährigen Dialog versucht, die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu betrachten.

Nachdem sie feststellten, dass in einer dynamisch-chaotischen Welt Regeln bedeutungslos bzw. „gutes“ menschliches Verhalten immer vom Kontext abhängt, lösten sie sich von der Fragenstellungen: was ist „richtiges/akzeptables“ moralischen Verhalten, und befragten sich gegenseitig über die Grundlagen, auf denen dieses aufbaut: was ist „Wirklichkeit“, was heißt „Wahrheit“, wie konstituiert sich „Bewusstsein“, was sind „Gedanken“ überhaupt, wie funktioniert „Wahrnehmung“ und nicht zuletzt: was ist „Zeit“?

Wirklichkeit und Wahrnehmung

Das Ergebnis ihrer Betrachtungen? Es scheint so zu sein, dass das, was wir als Wirklichkeit ansehen, nicht anderes ist als die geistige Repräsentation einer von uns per se nicht wahrnehmbaren Wirklichkeit und Wahrheit.

Aber auch: wie diese Wirklichkeit aussieht, die wir in unserem individuellen (und kollektiven) Bewusstsein entstehen lassen oder abbilden und damit auch „verwirklichen“ (also in unseren gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Systemen realisieren), ist davon abhängig, ob unsere Psyche bzw. unser Geist keiner verzerrten Wahrnehmung von sich selbst und des Wahrgenommenen unterliegt.

Die Moral der Geschichte?

Ethik und Moral sind demnach keine Frage äußerer Regeln, sondern der „Stimmigkeit oder Gestimmtheit“ von inneren Strukturen und Prozessen im Individuum und des interkonnektiven Umfelds, in das es intrinsisch eingebettet ist.

Und was könnte für eine solche „innere Stimmigkeit“ sorgen?

Die Antwort liegt auf der Hand: Die Liebe in ihrer höchsten Form als Bewusstseinszustand und als Lebenspraxis zugleich, Liebe als Zentrierung im Herzen, als Lebenseinstellung.

Liebe als radikale Empathie, als das willentlich eingeübte Einfühlungsvermögen in das „Andere“, als das Wissen um die Einheit allen Seins, als die Überzeugung, dass alles Trennende eine Illusion ist.

Liebe leben?

Und wie gelingt es, Liebe in diesem Sinne zu leben? Durch Authentizität und Mut zur Selbstwerdung, durch Selbstliebe.

Brené Brown, Grundlagenforscherin in den Bereichen Mut, Verletzlichkeit, Scham und Empathie sagt uns:

Authentizität erlangen wir, wenn wir uns unseren Schamgefühlen stellen und keine Beschämung mehr zulassen, denn diese führen immer in eine Abtrennung von uns selbst und von den anderen. Diese Abkoppelung bewerkstelligen wir meistens, indem wir uns betäuben: mit Ablenkung, Suchtmitteln, Fressen, Saufen, Arbeitswut, Anhäufung von Dingen usw.

Die Bedeutung der Authentizität

Der Weg zur Authentizität erfordert Mut, denn die Selbstwerdung wartet dort, wo wir am empfindlichsten, am verwundbarsten sind, wo wir ungeschützt, blank und bloß sind. Dort sind wir authentisch, und hier ist die Quelle all dessen, was uns ausmacht, hier liegen unsere größten Stärken.

Wenn wir uns selbst lieben lernen, wir uns selbst in aller Verwundbarkeit, Schwäche, Unvollkommenheit annehmen, dann haben wir die Voraussetzung geschaffen, um wahrhaft lieben zu können.

Und wer wahrhaft lieben kann, erzeugt die oben erwähnte innere Gestimmtheit, aus der wie von selbst ein ethisches Verhalten folgt, das auch in schwierigsten Konfliktlagen die richtigen Entscheidungen treffen kann. Und dieses Verhalten wiederum erzeugt eine Wirklichkeit, wie wir sie uns alle wünschen.

Fazit

Eine globale Ethik, die auf diesem Verständnis von Liebe aufbaut, ist womöglich der einzige Weg, den die Menschheit noch beschreiten kann.

Fotos: iStock, Unsplash / Aung Soe Min, Tyler Nix

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