JUNGES GEMÜSE IM KOPF
Sterneküche lässig, vegetarisch und Co2 neutral – stirbt die steife Tischdecken-Haute Cuisine aus? Sogar der Guide Michelin vergibt jetzt Bio-Sterne. Eine kulinarische Antwortsuche mit Starkoch Viktor Gerhardinger.
Text Gerd Giesler
Viktor Gerhardinger, Münchner Gemüse-Rebell und Küchenchef im Veggie-Restaurant Tian, das mit einem grünen Michelin Stern für Nachhaltigkeit ausgezeichnet wurde.
„Zuerst esse ich im Kopf“, erzählt Viktor Gerhardinger, als sei Essendenken das Normalste auf der Welt. Man müsse sich das so spannend vorstellen wie Geschmacks-Memory, wenn man nach und nach die Kärtchen aufdeckt, die zusammenpassen.
„Nehmen wir einmal Brokkoli und Paprika, beides nicht sehr beliebte Gemüse. Herkömmlicher grüner Paprika ist eher grasig, bitter, nicht sehr aromatisch. Aber wir haben das Glück mit Produzenten zusammenzuarbeiten, die uns immer wieder Aha-Erlebnisse bescheren: „Tschakka! Genau, so geil soll grüner Paprika schmecken.“
Man spürt förmlich wie der 30-jährige Koch aus dem niederbayerischen Passau, die Geschmacksexplosion durchlebt. „Und dann kommt der Brokkoli ins Spiel. Wie schmeckt er roh – und wie verändert er sich, wenn ich ihn verschiedenen Garprozessen unterziehe?“
VEGETARISCHE KÜCHE MIT TIEFGANG
Seit Februar 2020 steht Viktor Gerhardinger als Küchenchef im Tian am Herd. Tian bedeutet auf Chinesisch „Himmel“. Zumindest für seine vegetarisch-vegane Küche mag das durchaus zutreffen.
Strategisch günstig, im Living Hotel „Das Viktualienmarkt“, am gleichnamigen Münchner Spezereien-und Gemüsemarkt gelegen, hält das Tian-Team seit drei Jahren einen Michelin-Stern und seit kurzem auch einen grünen Stern für besonders nachhaltiges Kochen.
Er gehört einer Generation von Köchen an, die nicht mehr die Gourmet-Küche eines Eckart Witzigmann, Heinz Winkler oder Dieter Müller im Mindset haben und trotzdem luxuriös kochen wollen. Nur mit anderen Mitteln. Anstelle von Gänsestopfleber, Hummer, Rehrücken und Waggyu-Rind setzt der Nichtvegetarier, der in der Küche ganz leger in Sneakers und fair produzierten Arbeitsklamotten hantiert, auf komplett vegetarische Gerichte, die weder Geschmack, noch Tiefgang und schon gar nicht Finesse vermissen lassen.
EIN GANZHEITLICHES ERLEBNIS
Viktor Gerhardinger drückt sich freilich anders aus und bringt damit das Tian-Credo auf den Punkt: „Es soll Genuss sein, es soll irrsinnig lecker sein und es soll ein bisserl über den Tellerrand hinaus, um die Ecke gedacht sein. Die Leute wollen heute abgeholt werden, den Alltag für kurze Zeit hinter sich lassen. Es soll ein ganzheitliches Erlebnis sein, wie ein Theaterstück.“
Moderne Gastronomie gehe dahin, dass die Grenzen zwischen Koch und Kellner immer mehr verschwimmen, dass man verstärkt zusammen arbeite an der Art der Präsentation, an den Gerichten selbst und an den Weinen oder der alkoholfreien Begleitung. Sie solle „menschlich und warm sein, aber im rechten Moment aufblitzen lassen: Hey, die verstehen was von ihrem Handwerk“, das findet Gerhardinger cool.
Er geht gern auswärts essen. Aber dann zu Köchen, die ihn wirklich interessieren. Zum Beispiel zu Rebecca Clopath in Graubünden. Für ihn eine der besten Schweizer Jung-Köchinnen, „weil mich in den letzten drei Jahren kein Essen so emotional abgeholt hat und so nah an meinen eigenen Vorstellungen ist.“ Die Kollegin hat sich voll in die alpine Küche vertieft und sammelt Moose, Hanf und Walderdbeeren quasi vor der Hoftür.
UMDENKEN KÖNNEN!
Eigentlich ist Viktor Gerhardinger über Jamie Olivers „Naked Chef“ und seine eigene Facharbeit zum Thema „Ernährungskonzept für Schulen“ zum Kochen gekommen. In München bei den Geisel Hotels hat er die solide Grundlage erfahren, im Königshof, in der Vinothek und im Werneckhof. Dann ging er als Souschef ins Wiener Traditionshaus Mraz & Sohn und verbrachte anschließend zwei sehr prägende Jahre als Küchenchef (14 Punkte im Gault & Millau) im Walter und Benjamin. „In den beiden Jahren habe ich zusammen mit meinem jetzigen Souschef den Grundstein bzw. den Anfang der Entwicklung zu unserem jetzigen Küchenstil und der dahinterstehenden Philosophie gelegt. Dort begannen wir auch, einen Großteil unseres heutigen Lieferantennetzwerks zu erschließen.“ Im Herbst 2019 war Viktor Gerhardinger bereit für Christian Schagerl und das Tian.
„Heute sollte man in der Gastronomie breiter und flexibler aufgestellt sein und umdenken können“, findet Gerhardinger. „Wenn die Gäste nicht zu dir kommen, musst du eben zu den Gästen gehen und die Zutaten für 3-Gänge-Menues in der Box samt Link zur Online-Kochanleitung zu ihnen nach Hause liefern. Das haben wir fast ein Jahr lang gemacht, als sonst nichts mehr ging.“
KLAR UND FAIR: DIE TIAN PHILOSOPHIE
Mit der Vision und dem inneren Bedürfnis einen Ort für hochwertiges gesundes vegetarisches Essen zu schaffen, gründete Christian Halper 2011 das erste Tian Restaurant in Wien. In Sachen Ethno-Food hatte ja bereits Haja Molcho drei Jahre zuvor mit ihrer israelisch-levantinischen Meze-Küche am Naschmarkt und den „Neni Restaurants“ kulinarisch reüssiert.
Halper und sein Alter Ego Paul Ivic´ träumten indes ihren eigenen Traum vom fleischlosen Genuss. So nahm die Sehnsucht nach einer klaren, vegetarischen Küche, die ethischen Einflüssen folgt und gleichzeitig Rücksicht auf natürliche Kreisläufe nimmt und biologisch fair produziertes Soulfood auf den Teller bringt, ihren Lauf. Die Idee schwappte nach München über und wieder zurück nach Wien ins trendige Spittelberg Viertel und schwuppdiwupp war Tian eine Marke.
„Unser Markenkern ist Integrität und Ehrlichkeit“, analysiert Victor Gerhardinger, „und die Gäste kommen nicht ausschließlich wegen des Kochs, sondern weil unser Markenversprechen einfach einen anderen Umgang mit Gemüse garantiert.“
Mit Matze, Paul und Flo in Wien tauscht er sich alle zwei Wochen bei einem legeren Meeting aus und da tut es keinen Abbruch, dass sie komplett verschiedene Charaktere sind. „Alles easy. Alles gut.“ Schließlich verbindet sie alle ein Thema.
ZERO WASTE VON DER WURZEL BIS ZUM BLATT
Aber „Nachhaltigkeit fängt bei uns im Kleinen an. Wir haben im Münchner Restaurant 30 Plätze und sind meist ausgebucht. Das bedeutet, ich kann sehr gut mit den Mengen kalkulieren und wir minimieren den Bio-Abfall.“
Im Tian holt man wirklich alles heraus aus dem Gemüse. Von der Wurzel bis zum Blatt. Die Schalen wandern in den Gemüsefond, andere Teile werden fermentiert oder entsaftet um damit Essige, Öle oder Sirup anzusetzen.
Bei den Weinen ist der lokale Bezug nicht dogmatisch. Auf Neue-Welt-Weine verzichtet das Tian allerdings. „Wir haben ein sehr gutes Bewusstsein für regionale, saisonale Lebensmittel und auch unseren CO2 Abdruck. Da kann man sich dann auch einmal Feigen aus Italien oder Morcheln aus der Türkei gönnen, da das Produkte sind, die man in unseren Breiten nur sehr schwer in dieser Qualität bekommt.“ Und weiter: „Nachhaltigkeit heisst ja auch eine Bewusstheit für die Quelle zu entwickeln und ihr nur das zu entnehmen, was sie selbst auch wieder produzieren kann.“
PAPRIKA MIT SONNENBRAND
Zurück zu Brokkoli und grünem Paprika. In der vegetarischen Küche muss man sich nicht immer neu erfinden. Eher wird man erfinderisch und fügt zusammen, was man bekommt.
„Das mit dem grünen Paprika kam so, dass Martin, unser Gärtner von Hand und Erde vom Ammersee gesagt hat: Viktor, ich habe einen Satz grüner Paprika. Die sind herrlich. Leider haben sie alle Sonnenbrand und ich kann sie deswegen nicht verkaufen. Willst du die 15 Kilo?“
Und Gerhardinger war auf der Suche nach einem neuen Hauptgang. Also hat er sie genommen, für Kompott. Kurz ansautiert, ein wenig Zwiebel und Salbei. „Dann brauchten wir was Cremiges mit ein bisserl Struktur und Brokkoli ist so ein schönes Sommergemüse. Dann etwas Knackig-Frisches mit Biss, was Knuspriges und etwas Würze und Fett“.
Schon ist Gerhardinger gedanklich in die Checklisten der Konsistenzen, Geschmacksnoten und Temperaturen vertieft.
DIE REGIONALEN BIO-LIEFERANTEN
Doch das A und O ist das Netz der Produzenten. Und die müssen die gleiche Philosophie teilen und leben. Da wäre der Mogli vom Billesberger Bio-Bauernhof in Moosinning, der in der Anfangszeit noch mit dem Caddy seine Ware ausfuhr und in München Restaurants akquirierte, die er gut fand. „Heute bringt er uns im Elektro-Sprinter Eier, Mehl aus alten Sorten, Gemüse, Streuobst und Säfte.“
Soja und Tofu liefert das Ehepaar Angermaier aus Walpertskirchen. Die Naturlandgärtnerei Hand und Erde bei Windach buddelt in der Erde und zieht Gemüse im Manufakturbetrieb auf, ganz ohne Einsatz von Maschinen. Die Kartoffeln stammen von Nachbar Caspar Plautz, direkt vom Viktualienmarkt. Oder Peter Kunze, der auch schon das Tantris beliefert hat mit seinen Kräuterschalen.
Der Gemüse-Versteher gerät ins Schwärmen: „Am Dienstag bekomme ich chinesische Keule, das sind Gemüse, die wir mit unseren Produzenten entdecken. Dann Feigenblätter zum Aromatisieren von Süßspeisen und natürlich Giersch.“ Den ‚Gärtnertod’ kennen die meisten seiner Gäste nur als Unkraut.
Doch auch wenn im Tian viel mit Wildkräutern gearbeitet wird, „gehen wir rein kulinarisch vor und sagen nicht, da könnte jetzt Gundermann passen, dann geht es der Leber und dem Stoffwechsel gut“.
KEINE KOHLMONOTONIE
Klar, im Winter hat man Kraut und Rüben und das ganze Spektrum an Kohlsorten. „Da stecken tolle Stoffe zum Karamelisieren und Fermentieren drin und dann bediene ich mich aus der Vorratskammer mit den Dingen der Natur, die wir im Sommer haltbar gemacht haben – von eingelegten Fichtenspitzen bis zu Bärlauchkapern. Wir wecken Früchte und Blüten ein in süß, sauer, salzig.“
Und dann zaubert er die ganze Klaviatur an Technik aus der Kochmütze, um einfach das Ultimative an Textur und Geschmack heraus zu kitzeln, von Gels aus Agar-Agar, vom Sous-vide-Beutel für fermentierten Rettich bis hin zur Espuma-Flasche für feine Schäumchen.
DU BIST, WAS DU ISST
Viktor Gerhardinger hofft, dass immer mehr seiner Kollegen künftig tierische Produkte maß-und respektvoll als Beilage oder würzend einsetzen. Die Star-Rolle auf dem Teller gehört in Zukunft dem Gemüse! „Wir sollten erkennen, was Gemüse alles kann und was es mit unserem Körper anstellt. Du bist was du ist.“
Schon blitzen seine Augen wieder auf und er erzählt von seiner jüngsten Kreation: Spinat und Spiegelei, aber anders. Man nehme: Neuseelandspinat von der Gärtnerei Hand und Erde, ein gebeiztes Eigelb, das zwei Stunden in Salzlake geruht hat und bei 75 Grad konfiert wird und setzt es in ein Nest aus Spinat und einem Esslöffel feinst geschnittener Kartoffel-Würfel.
Die krossgebratenen Kartoffelwürfel sind plötzlich ebenbürtig mit Kaviar.“ Er grinst: „Geniales Mundgefühl, einfach, aber fucking good!“
Fotos: Tian