Frau mit lila blauen Haaren

„KULTURELLE ANEIGNUNG“ – EIN WIDERSPRUCH (IN SICH)?

Zusätzlich zu Political Correctness, zum Gendern und zur Frage nach der biologischen Bestimmung des menschlichen Geschlechts erregt seit geraumer Zeit die so genannte „Kulturelle Aneignung“ die Gemüter. Eine Betrachtung.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Unterschiedliche Wahrnehmungen
  • Kulturelle Aneignung in der Geschichte
  • Kulturelle Anerkennung

Text Hans Christian Meiser

Portrait in Schwarz-Weiß von Hans Christian Meiser

Dr. Hans Christian Meiser ist Philosoph und Publizist, zudem Herausgeber und Chefredakteur von PURPOSE, dem Magazin für Sinnhaftigkeit. Dieses Thema zieht sich durch sein gesamtes Werk.

In das bundesdeutsche öffentliche Bewusstsein und die daraus folgende Debatte drang die Thematik, als die Berliner Sängerin Ronja Maltzahn von einer Ortsgruppe der Umweltbewegung „Fridays for Future“ bei einem Konzert wegen ihrer Dreadlocks nicht auftreten durfte. Man legte ihr nahe, sich die Haare abzuschneiden, dann würde auch ihrer künstlerischen Darbietung nichts im Wege stehen. Einige Monate später wurde in Bern ein Konzert der Gruppe „Lauwarm“ vom Veranstalter unterbrochen und für beendet erklärt, da die Mitglieder der Band nicht nur Rasta-Haarpracht trugen, sondern auch noch Reggae-Musik darboten.

KULTURELLE ANEIGNUNG

Diese beiden Beispiele zeigen in Kürze das auf, was das Thema „Kulturelle Aneignung“ ausmacht. Es geht im Grunde um die Übernahme von kulturellen, identitätsstiftenden Symbolen oder Ausdrucksmitteln durch eine überlegene (meist weiße) Kultur, welche durch ihr Handeln die Ursprungskultur weder würdigt, noch sie nicht an einem möglichen Gewinn beteiligt, wie z.B. im Fall des Chanel Bumerangs. Die französische Modefirma hatte das Kulturgut der australischen Ureinwohner als Accessoire mit Firmenlogo für $ 2000 in ihrem Sortiment. Heute kann man es bei diversen Onlineshops für ca. die Hälfte erwerben.

KULTURELLE ÄCHTUNG

Generell ist die Kritik an der „Kulturellen Aneignung“ nicht zu verdammen, denn nur allzu oft wurden und werden dadurch die Primärkulturen nicht respektiert, sondern eher lächerlich gemacht, wie z.B. der „Sarotti-Mohr“ zeigt, der mittlerweile zu Recht von der (Werbe)Bildfläche verschwunden ist. Aber muss man deswegen auch Winnetou oder andere, aus fremden Kulturen stammende Symbole, Rituale oder (fiktive) Personen für immer verbannen, Bücher umschreiben oder Kulturveranstaltungen bereinigen?

Dass das „Zigeunerschnitzel“ (hoffentlich) nicht mehr auf Speisekarten auftaucht, ist sicher richtig, doch soll man so weit gehen wie die Firma Bahlsen, und den Keks „Afrika“ aus den Supermarktregalen entfernen? Oder wie die Bundestagsabgeordnete Sülmez Dogan (Bündnis 90/Die Grünen), die kürzlich forderte, den Begriff „Schwarze Schafe“ nicht mehr zu verwenden, da hier ein unterschwelliger Rassismus zu vermuten sei?

KULTURELLE AUSGRENZUNG

Gegner des Vorwurfs der „Kulturellen Aneignung“ führen ins Feld, dass die gesamte Geschichte der Menschheit aus „Kultureller Aneignung“ bestünde und dass es ohne diese keinerlei Weiterentwicklung gäbe. Die Griechen übernahmen viele Aspekte der ägyptischen Kultur, die Römer wiederum bauten ihr Imperium auf denen der Griechen und anderer Kulturen auf. Wer eine Kultur ohne fremde Einflüsse fordere, rücke damit schon in den Dunstkreis des Faschismus, der ja gerade alles nicht Eigene als „entartet“ darstellt.

Man könne ja auch sagen, Spaghetti dürften nur von italienischen Herstellern gekauft oder von italienischen Köchen zubereitet werden. Oder Reggae dürfe nur von jamaikanischen Musikern gespielt werden. Oder Verlage dürften keine Bücher über andere Kulturen publizieren. Denn wenn dem so wäre, gäbe es jene Ausgrenzung, die Autokratien die Legitimation verleiht, alles Fremde zu verbannen, aus dem Land zu jagen, zu töten. Wozu „Kulturelle (ethnische) Säuberung“ führt, haben wir zuletzt im Balkankrieg erlebt.

Sozilogen und Historiker wissen, dass es eine „reine“ Kultur nicht geben kann. Denn nichts entwickelt sich aus sich heraus ohne Impulse von außen. Einen Waren- und Ideenaustausch gab es schon lange vor der uns bekannten, heutigen, weltumspannenden Globalisierung, etwa an der Seidenstraße. Schon vor Hunderten und Tausenden von Jahren wurde mit kulturellen Eigenheiten Handel getrieben. Ein Grund dafür ist nicht nur das Bedürfnis des Menschen nach Gütern, sondern auch seine Neugierde nach „Anderem“, „Fremden“, „Neuem“.

Wenn Menschen sich z.B. in Frankreich des 19. Jahrhunderts an Möbeln aus China erfreuten, so muss das nicht unbedingt mit einer „Kulturellen Aneignung“ zusammenhängen, sondern u.U. auch mit „Kultureller Anerkennung.“

  • Frau mit indigener Kleidung
  • mit Henna bemalte Hände

KULTURELLE ANPASSUNG

Gerade diese hat im Westen immer wieder dazu geführt, dass sich Menschen mit Symbolen schmückten, um ihre Solidarität mit anderen Kulturen auszudrücken: das Palästinensertuch etwa in den 1970er Jahren oder der Afrolook der Hippie-Ära. Natürlich kann man auch hier anführen, dass die Produzenten des Palästinensertuchs ihre Gewinne nicht an die Arafat-Bewegung abführten, oder die Friseure nicht an unterdrückte Völker mit Kraushaar dachten. Oder dass die, die sich dieser Symbole bedienen, gar nicht verstehen würden, worum es in Wirklichkeit eigentlich geht. Und genau hier scheint mir ein innerer Widerspruch in der Kritik vorzuliegen.

KULTURELLE ANMAßUNG

Wenn „Fridays for Future“ eine Sängerin wegen ihrer Haarpracht mit der Begründung der „Kulturellen Aneignung“ von einem Konzert ausschließt, so muss man sich fragen, wer dieser Bewegung überhaupt den Auftrag dazu erteilt hat. Haben sich jene Kulturen, in denen Dreadlocks zum kulturellen Erben gehören (es gibt da weit mehr als nur die Jamaikaner), zusammengetan und die Umweltbewegung aufgefordert, den Auftritt der Sängerin zu verbieten? Gewiss nicht.

Genau aus diesem Grund handelt der, der „Kulturelle Aneignung“ kritisiert, selbst kulturell aneignend.

Denn er übernimmt (ungefragt) das Leid der unterdrückten Kultur und macht sich zum Sprecher derselben, ohne von dieser dazu legitimiert worden zu sein. Diese Übergriffigkeit ist eine Grenzüberschreitung, die den handelnden Personen meist nicht bewusst ist. Sie sind der Meinung etwas Gutes zu tun, haben dafür aber keinerlei Legitimation und betreiben „Kulturelle Anmaßung.“

Zudem – und das ist besonders wichtig – unterstellen sie, dass sich die, von denen sie meinen, dass sie angegriffen würden, nicht wehren könnten, weshalb sie den Kampf dagegen ungebeten übernehmen müssten. Man hält die andere Kultur für so schwach und minderbemittelt, dass man in ihrem Namen zu sprechen müssen meint. Und genau das ist selbst wiederum „Kulturelle Aneignung“. Diesem inneren Widerspruch kann sich niemand, der andere „Kulturelle Aneignung“ vorwirft, entziehen, denn er ist gewissermaßen systemimmanent.

Der Autor und Filmemacher Drew Hayden Tayler vom Stamm der nordamerikanischen Anishinabe, sagt zu diesem Thema: „Die meisten, die ein Problem mit der Bezeichnung „Indianer“ haben, sind Weiße. Wir selbst verwenden den Begriff alltäglich und machen uns auch darüber lustig, aber er ist nun mal Teil indigener Realität. Wir werden uns nicht umbenennen, bloß weil irgendwelche Weißen, die nie unsere Wirklichkeit geteilt haben, den Begriff als diskriminierend empfinden.“

Winnetou in einer Höhle

KULTURELLER AUSTAUSCH

Gewiss ist es richtig und wichtig, ausgebeutete Kulturen nicht weiter auszubeuten, ihnen ihre identitätsstiftenden kulturellen Artefakte (Beutekunst) zurückzugeben und damit Wertschätzung und Respekt auszudrücken. Aber Menschen zu verbieten, sich mit anderen Kulturen auseinander (oder besser: zusammen) zusetzen, führt geradewegs zu weiterer Ausgrenzung, also zu dem, was eigentlich verhindert werden soll.

Menschsein bedeutet nicht Leben in „Reinkultur“, sondern ist im Wesentlichen Dasein mit Einflüssen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Es gibt keine Kultur, die ohne solche etwas entwickelt hätte, egal auf welchem Gebiet. Kultureller Austausch ist die Grundlage für Zivilisation, kulturelle Abgrenzung die Basis für Zerstörung und Krieg. Wir müssen kulturelle Ausbeutung vermeiden, kulturelle Anerkennung fördern und kulturellen Austausch betreiben.
Jede Kultur hat etwas, was die andere nicht hat. Wir können voneinander nur lernen, um in einer Welt voller Gefahren zu überleben. Tun wir es nicht, wird die Menschheit schon vor dem Eintreten der Klimakatastrophe sich selbst auslöschen.

KULTURELLE ANERKENNUNG

Kulturelle Ausbeutung muss verhindert werden, Kulturelle Anerkennung und Kultureller Austausch hingegen sind heute wichtig denn je. Alle Menschen eint die Tatsache, dass sie geboren werden und sterben müssen. Wir sollten die Zeit dazwischen nicht damit vergeuden, andere auszugrenzen, für minderwertig zu erklären oder sie lächerlich zu machen.

Wir teilen alle – ob wir es wollen oder nicht – dasselbe Schicksal. Um dieses so gut wie möglich zu gestalten, sollten wir ständig voneinander lernen, denn Bildung führt zu Wohlstand und Wohlstand bedingt dauerhaften Frieden. Und den haben wir heute nötiger denn je. Er kann aber nur dann für immer eintreten, wenn Menschen einander als das anerkennen, was sie sind: Vernunftbegabte Wesen, die ohne gegenseitige Hilfe nicht lebensfähig sind – egal aus welcher Kultur sie stammen und welche Kultur sie entwickeln.

Dann stellt sich auch die Frage nach „Kulturelle Aneignung“ nicht mehr. Denn Kultur ist für alle da. Aus diesem Grunde gibt es auch die UNESCO Liste der nicht-materiellen Kulturgüter, die niemanden ausgrenzt, sondern die Errungenschaften der Kulturen allen zugänglich macht, damit wir voneinander lernen können. Denn nur dann, wenn wir einander verstehen und unsere Kulturen gegenseitig achten (und uns gegenseitig z.B. nicht als „Spaghettifresser“ oder „Krauts“ bezeichnen), kann man von einer geistigen Entwicklungsstufe sprechen, die vielleicht in der Lage ist, die wirklich dringlichen Probleme der Welt zu lösen. Dann wird auch „Cultural appreciation“ „Cultural appropriation“ unnötig gemacht haben.

Fotos: Alamy, Unsplash / Miguel Bruna, Vitaliy Lyubezhanin, Maxzzerzz

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