Mut als Erfolgsfaktor in der Zeitenwende
Das Märchen „Der Geist im Glas“ der Gebrüder Grimm zeigt, wie eine positiv-mutige, selbstbewusste und vertrauensvolle Einstellung das Leben erfolgreich lenken kann, wenn sich die Zeiten ändern – damals wie heute!
Hier erfahren Sie mehr über
- Einen Generationenvertrag
- Schlagfertigkeit
- Großherzigkeit
Text Irmela Neu
Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zu emphatischer Kommunikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de
Die Ausgangslage im Märchen
Das Märchen „Der Geist im Glas“ beginnt mit folgenden Worten: „Es war einmal ein armer Holzhacker, der arbeitete am Morgen bis in die späte Nacht.“
Das sauer und über viele Jahre Ersparte wollte der für die Ausbildung seines Sohnes verwenden, damit aus ihm „etwas Rechtschaffenes“ würde und er darüber hinaus seinen im Alter gebrechlichen Vater, also den armen Holzhacker, unterstützen und ernähren könnte.
Hier zeigt sich das Generationen-Denken und -modell, das für traditionelle, von der Landwirtschaft geprägte Lebensformen durchaus auch noch heute in verschiedenen Kulturen lebendig ist. Das bedeutet für den Sohn, nach seiner Ausbildung wieder zur Familie, seinem Vater zurückkehren zu sollen, um seine Pflicht als treusorgender Sohn zu erfüllen. Der Vater bestimmt, bezahlt dessen Ausbildung, der Sohn folgt. Eine klare Abmachung, die dem Vater vorschwebt.
Hält sich der Sohn daran? Wird er rebellisch oder geht er einfach seiner Wege?
Vertrauen als mutige Einstellung gegenüber dem Leben
Eines sei vorweggenommen: der Sohn, unser Held, ist überaus mutig, und zwar im umfassenden Sinn des Wortes. Wenn wir uns die weiter gefasste Bedeutung der Qualität „Mut“ anschauen, ist damit nicht nur der einmalige Schritt als so etwas wie eine Mutprobe gemeint, sondern eine gesamte Haltung, eine Einstellung und Seelenlage, die wir heute als „positiv“ und „optimistisch“ bezeichnen. Das mittelhochdeutsche Wort „muot“ hat seine semantische Bedeutung in Adjektiven bewahrt, die uns auch heute noch geläufig sind – etwa in Bezeichnungen wie „wagemutig, sanftmütig“ etc..
Schauen wir, wie unser Held vorgeht.
Zunächst nimmt er die Herausforderung, sprich den Vorschlag seines Vaters an, das Geld für eine Ausbildung („Schule“) zu verwenden. Er schließt diese mit Bravour ab – allerdings ohne ein Abschlusszeugnis, weil das Geld für den letzten Teil der Ausbildung fehlt. Also geht er zu seinem Vater zurück, der natürlich betrübt ist, ihm nicht das Geld für den letzten Teil der Ausbildung geben zu können.
Der Sohn gibt sich indes keinesfalls geschlagen, ganz im Gegenteil; er begegnet der traurigen Bemerkung seines Vaters mit folgenden Worten: „ …wenn’s Gottes Wille ist, so wird’s zu meinem Besten ausschlagen.“
Mit viel Gottvertrauen nimmt er die neue Sachlage an. Seine positiv-mutige und vertrauensvolle Einstellung zum Leben führt ihn auf ganz neue Wege. Schauen wir uns diese näher an.
Das mutige Beschreiten eines neuen Weges
Obwohl unser Held seine Ausbildung aus Geldmangel nicht abschließen konnte und deshalb wieder im Haus seines Vaters landet, opponiert er nicht; vielmehr bietet er seinem Vater Hilfe an, als dieser in den Wald geht, um Brennholz zu schlagen. Da der Vater die teure und daher kostbare Axt von seinem Nachbarn leihen wollte, und da sein Sohn an diese Art der Arbeit nicht gewohnt war, die Axt also vielleicht beschädigen würde, lehnt der Vater das Hilfsangebot seines Sohnes ab.
Zuversichtlich ermutigt ihn jedoch sein Sohn, sich die Axt in jedem Fall beim Nachbarn auszuleihen – „bis ich mir selbst eine verdient habe,“ wie er sagt. Welch eine Zuversicht! Der Vater beherzigt seinen Rat und leiht sich die Axt beim Nachbarn aus. Daraufhin gehen beide in den Wald, um ihr Tagwerk zu verrichten.
Während der Vater nach ein paar Stunden Arbeit eine Mittagspause vorschlägt, macht sich unser Held selbständig, um alleine die Schätze des Waldes zu erkunden; dies behagt seinem Vater nicht; er bezeichnet ihn als ahnungslosen „Geck“: statt sich auszuruhen, will er Kräfte zehrend herumzustreunen, das geht ganz und gar nicht in seinem Weltbild der festgelegten Ordnung! Nun, unser Held lässt sich davon nicht abhalten und geht seiner Wege tiefer in den Wald.
Welchen Herausforderungen muss er sich nun stellen?
Die Falle des blinden Vertrauens
Frohgemut und gut gelaunt gelangt er zu einer alten, mächtigen Eiche, die seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht; plötzlich vernimmt er eine Stimme. Nach etwas Suchen entdeckt er im Wurzelwerk eine Glasflasche, aus der die Stimme heraustönt. Er hebt die Flasche auf, hält sie ins Licht und sieht in ihr eine froschähnliche Gestalt, die darin auf und ab springt und flehentlich bettelt: „Lass mich heraus, lass mich heraus.“
„Der Schüler, der an nichts Böses dachte“, öffnet die Flasche. Was dann passiert, damit hat er wahrlich nicht gerechnet.
Es entweicht ein Geist aus der Flasche, der in Windeseile zu einer gigantischen Größe heranwächst und ihn bedroht. Von Dankbarkeit keine Spur! Hinterhältig fragt er ihn: „Weißt du, was dein Lohn ist, dass du mich herausgelassen hast?“ Unser Held bleibt völlig unerschrocken und furchtlos; er lässt sich noch nicht einmal beeindrucken, schon gar nicht einschüchtern, als der übermächtige Flaschengeist ihm eröffnet: „… den Hals muss ich dir dafür brechen.“
Was dann folgt, ist, so würden wir heutzutage sagen, eine Lektion in mutiger, ja listiger Schlagfertigkeit, die sich wie nachfolgend beschrieben gestaltet.
Listige Schlagfertigkeit als Teil von Mut
Als erstes entgegnet ihm unser Held, dass sein Kopf keineswegs durch ihn, den bösen Geist, fallen werde; vielmehr sollten vorher „mehr Leute gefragt werden“ – sozusagen, ob die Drohung des Geistes rechtens sei.
Das empört den Flaschengeist, der nun richtig wütend wird. Er eröffnet unserem Helden, dass er zur Strafe in die Flasche gesteckt und somit dingfest gemacht wird, um die Umwelt vor seinen üblen Taten zu schützen. Großspurig gibt er an: „Ich bin der mächtige Merkurius, wer mich loslässt, dem muss ich den Hals brechen.“
Doch die drohenden Worte lassen unseren Helden kalt. Geistesgegenwärtig sagt er erst einmal: „Sachte … so geschwind geht das nicht.“ Er wolle erst einmal überprüfen, ob er wirklich der „rechte Geist“ mit herausragenden Fähigkeiten sei. Er schlägt ihm deshalb vor, dass er zur Demonstration seiner Herrlichkeit erst einmal wieder klein werden und in die Flasche zurück schlüpfen solle. Erst dann sei er bereit, dessen Fähigkeiten zu akzeptieren und mit sich machen zu lassen, was er ihm angedroht hat.
Damit hat er den Flaschengeist an seiner Ehre gepackt. Großspurig und „mit Hochmut“ lässt er sich herab und verkündet stolz: „Das ist eine geringe Kunst“. Also macht er sich wieder so klein, dass er siegesgewiss in die Flasche kriecht. Sie ahnen schon, geneigte Leser, was nun passiert. Behende und geschwind verschließt unser Held die Flasche wieder. Da war der ach so große Geist wieder gefangen.
Tja, „Hochmut kommt vor dem Fall“, wie das Sprichwort besagt. Das ist aber noch nicht das Ende der Geschichte.
Erfolg durch Mut
Und wie geht es weiter? Natürlich bettelt der wieder eingeschlossene Flaschengeist erneut um seine Freilassung. Doch im Unterschied zum ersten Mal ist unser Held nun nicht mehr so naiv und gutgläubig, dass er dessen Worte Glauben schenken würde. Der Geist lässt indes nicht locker und schlägt ihm eine ganz besondere Belohnung vor. Soll er den Geist freilassen, um diese zu erhalten? Er zögert nicht lange, sagt zu sich selbst: „Ich will’s wagen, vielleicht hält er Wort, und anhaben soll er mir doch nichts.“ Sehr selbstbewusst und mutig, der junge Herr! Gedacht, getan.
Er erhält vom Flaschengeist etwas ganz Besonderes, ja Magisches: ein Wundertuch, wie der Geist ausführt. Mit der einen Seite könne er „Stahl und Eisen in Silber verwandeln“, mit der anderen Seite „eine Wunde bestreichen’“, um diese augenblicklich zu heilen.
So ganz glaubt ihm unser Held dessen Ausführungen nicht; er überprüft geistesgegenwärtig die versprochene Wirkung des Zaubertuches, indem er die Rinde eines Baumes anritzt und sie mit dem Tuch bestreicht. Tatsächlich: sie verschließt sich augenblicklich.
Nach erfolgreichem Test gibt er dem Geist kund und zu wissen: „ … jetzt können wir uns trennen.“ Er verabschiedet sich dankend und sucht seinen Vater auf. Wie würde dieser reagieren?
Zwei Formen von Verhalten
Der Vater reagiert – Sie haben es sicher schon geahnt, liebe Leser – ziemlich harsch und wütend. Er bezichtigt seinen Sohn der Faulheit, weil er die Arbeit des Holzfällens nicht ausgeübt hat. Als der Sohn ihm seine Tüchtigkeit beweisen will, indem er die Axt mit dem einen Ende des ihm vom Geist gegebenen Wundertuches bestreicht, und damit einen kräftigen Baum fällen will, verbiegt sich diese. Sein gut gemeintes Vorhaben, seine von ihm erwarteten Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, scheitert im wahrsten Sinn des Wortes krachend.
Unseren Helden ficht auch dieses nicht an, im Gegenteil. Er sagt voller Zuversicht zu seinem Vater: „Werdet nicht bös, die Axt will ich schon bezahlen.“ Natürlich trumpft der Vater auf und bezeichnet ihn als „Dummbart“, der vom Studieren zwar so etwas wie Flausen im Kopf hat, „… aber vom Holzhacken hast du keinen Verstand.“
Klare Ansage! Dies ist die traditionelle Sichtweise eines Holzfällers; doch die ist keinesfalls mit der seines Sohnes identisch! Dies kommt nachfolgend noch sehr klar zum Ausdruck.
Von der traditionellen zur Mut orientierten Handlungsweise
Zunächst einmal ist der Sohn im Wald schon noch von den Kenntnissen seines Vaters abhängig. Er kennt den Heimweg nicht. Als sich die Wut des Holzfäller-Vaters gelegt hat, begeben sich beide gemeinsam auf den Heimweg – nicht ohne dass dem Sohn vom Vater vorher noch dessen Leid geklagt wird. Die nun nicht mehr gebrauchsfähige Axt habe keinen hohen Verkaufswert auf dem Markt mehr; für den Werteverlust müsse er hart arbeiten, um dem Nachbarn die geliehene Axt zu ersetzen.
Auch auf diese von Verbitterung und Angst geprägte Seelenlage seines Vaters geht unser Held nicht ein. Vielmehr begibt er sich mit der verbogenen Axt schnurstracks zum Goldschmied, der sie auf die Waage legt und ihren Wert mit 400 Talern festlegt. Sie ist ja dank des Wundertuches aus Silber! 300 Taler hat der Goldschmied in bar zur Verfügung, 100 bleibt er dem Sohn schuldig. Großmütig schlägt ihm unser Held vor: „Gebt mir, was ihr habt, das Übrige will ich euch borgen.“ So geschieht es.
Mit dem Geld in der Tasche geht er zu seinem Vater heim. Die Axt des Nachbarn sollte „einen Taler und 6 Groschen“ kosten – woraufhin der nun reiche Sohn dem Nachbarn das Doppelte bezahlen will, also „2 Taler und 12 Groschen.“ Seinem Vater gibt er „einhundert Taler“ mit den Worten: „Es soll euch niemals fehlen, lebt nach eurer Bequemlichkeit.‘“
Auf die Frage des Vaters nach dem Ursprung des Geldes erzählt er ihm alles und „wie er im Vertrauen auf sein Glück einen so reichen Fang getan hätte.“ Wie der Vater darauf reagiert, wird nicht erwähnt. Wohl aber, was unser Held mit dem übrigen Geld macht: er investiert es in den Abschluss seiner Ausbildung.
„Weil er mit seinem Pflaster alle Wunden heilen konnte, ward er der berühmteste Doktor.“
Mit dieser Feststellung endet das Märchen.
Erfolgsfaktor Mut in der Zeitenwende
Ja, unser Held hat wahrlich auf sein Glück vertraut – und dabei gewonnen. Gleichzeitig hat er nicht gegen seinen Vater opponiert, sondern ihn von Anfang an unterstützt. Auch danach, als reicher Mann, bedenkt er seinen Vater – wohl auch dankbar, weil er ihm ja zum Weg raus aus dem Holzfäller-Dasein verholfen hat, auch wenn dies nicht selbstlos geschah.
Der Vater ist in seinem Denken und Handeln in seiner eigenen Tradition verwurzelt. Sein Sohn, unser Held, verlässt den vorgezeichneten Weg und macht sich selbständig. Dabei geht er furchtlos, selbstsicher und mutig vor. Sein Mut ist seine Unerschrockenheit und seine Fähigkeit, mit kühlem Kopf existentiellen Herausforderungen zu begegnen.
Von Angst keine Spur! Ganz im Gegenteil; er ist fähig, seinem Widersacher eine Falle zu stellen. Auch von seinem Vater und dessen Wut lässt er sich nicht beeinflussen. Er bleibt ihm fürsorglich, ja liebevoll verbunden. Sein Mut zeigt sich im Bewahren seiner positiven, vertrauensvollen Grundstimmung, die ihm das rechte Handeln im rechten Moment ermöglicht.
Mit diesen Qualitäten ist er ein Beispiel für Erfolg in der Zeitenwende. Die bäuerliche Verhaftung an Hierarchien und traditionellen Verhaltensweisen führen nicht aus der Armut. Wagemut, Spekulation auf Gewinn, Zuversicht und Vertrauen sind gefragt. Das Zeitalter der von Geld bestimmten Wirtschaft, der Macht der Börse, der Aktien setzt sich immer mehr durch und verdrängt endgültig die alte Ordnung des feudalen Systems. Damit gerät auch das Generationen-Modell der Familie ins Wanken. Zeitenwende eben!
Heutzutage erleben wir wieder eine Zeitenwende – die der Digitalisierung und KI. Mehr denn je sind die Qualitäten von Mut gefragt: Annehmen von unveränderbaren Gegebenheiten, Gestalten, was möglich ist, Wagemut, Großmut als Großherzigkeit, emotionaler Gleichmut im Sinne von Harmonisierung unserer Emotionen. Mut als Zuversicht und Optimismus!
Wir sind auf- und herausgefordert, diese Qualitäten in unserem Leben zu verankern. Viel Freude beim Ebnen dieses Weges! Und wenn Sie jemals einem Geist in einer Flasche begegnen, wissen Sie ja jetzt, was zu tun ist …
Fotos: Unsplash / David Boca, Alexander Grey, Milan Popovic, Yeshi Kangrang