SINNterview: NACHRUF AUF DIE ARKTIS
Ist die Arktis noch zu retten? Verändert sich unser Bewusstsein in Anbetracht des Klimawandels? Nur zwei von vielen Fragen an Birgit Lutz, die die Arktis so gut kennt wie wenige – und neben viel Wissen Hoffnung hat.
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- Nötiges Naturverständnis
- Das unnötige Gurkendilemma
- Neues Wir-Gefühl
Interview Hans Christian Meiser
Birgit Lutz (geb. 1974) fuhr auf Skiern von der Eisstation Barneo zum Nordpol und durchquerte Grönland. Als Journalistin spezialisierte sie sich auf die Arktis. Als Expeditionsleiterin hält sie Vorträge über das gefährdete Ökosystem. Ihr neues Buch heißt „Nachruf auf die Arktis“.
Ihr neues Buch „Nachruf auf die Arktis“ (btb Verlag) trägt den Untertitel „Noch können wir die Welt retten“. Wenn dem so ist, dann stimmt aber der Titel nicht, oder?
Der Titel stimmt; er ist ganz bewusst so gewählt. Denn Regionen der Arktis, wie sie nun lange existiert haben, verändern sich seit einiger Zeit so triefgreifend und schnell – schneller als alle anderen Regionen der Welt – dass man sich durchaus von dem Arktis-Bild, das man noch vor einigen Jahren hatte, verabschieden muss.
Die Welt aber, die können wir als Lebensraum für Menschen noch erhalten. Darum geht es ja jetzt: Dass dieser Planet bewohnbar bleibt. Meine Botschaft ist, dass das noch gelingen kann. Ich will keine Endzeitstimmung verbreiten, sondern die Motivation, etwas zu unternehmen, weil es noch nicht zu spät ist.
„Macht Euch die Erde untertan“ heißt es in Genesis 1,28. Hat hier das Problem, unter dem alle Menschen heute zunehmend leiden, nämlich der Klimawandel, seinen Anfang?
Das hätte ich gerne den deutschen Klimabischof gefragt, doch der wollte als einer der sehr wenigen Angefragten nicht mit mir sprechen. Aber ja, diese Haltung, sich die Erde untertan zu machen, führt natürlich nicht zu einer Gesellschaft, in der man rücksichtsvoll mit Ressourcen umgeht. Das sieht man auch daran, dass gerade die christlichen Parteien die größten Bremser sind, was Maßnahmen gegen den Klimawandel angeht, und die wenig umsichtig mit der Schöpfung umgehen.
Der Mensch lebt heute losgelöst von der Natur und hat nicht begriffen, dass in derselben, deren Teil er ist, alles miteinander in einer „Paninterliaison“ existiert, wie der Jesuit und Anthropologe Teilhard de Chardin die „horizontale Allverbundenheit“ nannte. Brauchen wir ein neues Bewusstsein hinsichtlich der Quellen, aus denen wir stammen und in denen wir leben?
Wir brauchen auf jeden Fall in Bezug auf die Natur ein neues Bewusstsein. Wir müssen lernen, dass wir nicht über der Natur stehen, sondern ein Teil von ihr sind. Der heutige Mensch sieht sich als ein Wesen, das die Natur nur am Wochenende nutzt. Keine Spezies auf dieser Erde handelt so. Demzufolge ist Naturschutz nicht etwas, das „nice to have“ wäre, sondern nötig, weil wir damit auch uns selber schützen. Der Mensch aber auch ohne diesen Selbstschutz nicht das Recht, den für sich wertvollen Planeten so negativ zu beeinflussen, wie er dies in den letzten Jahrhunderten getan hat. Er tut es aber, und darin liegt das Verhängnis.
Sie begleiten auf dem Forschungsschiff „Cape Race“ Touristen in die Arktis, um ihnen bei der Begegnung mit der Natur (und sich selbst) die Zusammenhänge zwischen Klima und unserem Verhalten klarzumachen. Verändert sich das Bewusstsein dieser Menschen während und nach der Reise?
Ja, das verändert sich. Wenn wir Plastik an den Stränden für mein Citizen Science Projekt beim Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung sammeln, zählen und wiegen, dann sind die Gäste nachhaltig entsetzt. Auch die Veränderungen, die wir ihnen zeigen, hinterlassen ihre Spuren. Dennoch frage ich mich immer mehr, ob diese Reisen noch sein müssen, und ob ich den Klimawandel nicht besser auf einer Alm erklären sollte, zu der ich mit dem Rad fahren könnte.
Weshalb ist uns „das Gespür für Schnee“, wenn ich diese Metapher verwenden darf, überhaupt abhandengekommen?
Es ist uns deshalb abhandengekommen, weil wir zumindest in unseren Regionen mit so vielen Hilfsmittel leben, dass wir glauben, ohne diese Naturelemente auskommen zu können. Wir haben Heizungen, Klimaanlagen, ein dichtes Dach über dem Kopf etc., so dass wir uns um die natürlichen Einflüsse nicht kümmern müssen. Das führt zu einer Abkoppelung von der Natur, zu einem Verlust der Verbindung und der Erfahrung, wie kraftvoll die Natur sein kann. Aber: Wenn man die Zusammenhänge der Natur durcheinanderbringt, wird sie sich bemerkbar machen, und man verliert u.U. sein Zuhause oder sogar sein Leben.
Ihr Buch hat mich sehr beeindruckt. Nicht nur wegen der umfangreichen Detailkenntnis der Arktis, sondern auch wegen der klaren Darstellung der Klimathematik und den wichtigen Interviews mit Forschern aller Art. Nach der Lektüre war ich aufgewühlt und fragte mich, ob das, was der Einzelne tut, reicht, um einen Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel zu leisten. Andererseits: Wenn wir nichts tun, gehen wir alle dem Untergang entgegen.
Von „Untergang“ möchte ich vorerst noch nicht sprechen, da man gegen die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels noch etwas tun kann. Und es wird ja auch etwas getan. Was der Einzelne tut, reicht natürlich bei Weitem nicht aus. Doch dieser Gedanke war und ist auch eine beliebte Ablenkungstaktik der Fossil-Industrie, die z.B. mit dem individuellen Co2-Fußabdruck die Aufmerksamkeit auf den Einzelnen richtete und von sich selbst ablenkte.
Der Einzelne möchte sich dann redlich bemühen und vergisst darüber die wirklichen Verursacher der Misere, nämlich die großen Emittenten, die ungehindert weiter so handeln. Hier kann der Einzelne wenig unternehmen, das müssen die Regierungen tun, z.B. indem sie sich nicht mehr von den Lobbyisten beeinflussen lassen. Der Einzelne muss sich deshalb dafür einsetzen, dass die Veränderungen im großen Stil stattfinden, indem er z.B. wählen geht oder seine Stimme gemeinsam mit anderen erhebt.
Sie schreiben, dass jeder Katastrophenfilm mit einem Wissenschaftler, dessen Warnungen nicht gehört werden, beginnt – bis das Unheil eintritt. Wie weit sind wir noch davon entfernt? Ist es schon „5 nach 12“?
Es ist jetzt 12. Das Unheil beginnt jetzt. Das wurde mir in den vergangenen Jahren in Spitzbergen sehr bewusst, als ich beobachtete, wie weitreichend aus den Fugen die Abläufe dort geraten sind. Das sind alles Vorboten, und erste Katastrophen erleben wir in mittleren Breiten ja nun auch. Das Ahrtal, Wasser-Rationierungen in Deutschland, monatelanges Ausbleiben von Regen, andauernde Hitze, das Verdorren der Bäume …
Würde man nun aber entschlossen und radikal handeln, könnten wir es zum jetzigen Zustand anhalten. Das ginge noch. Wenn wir aber nichts tun, wird es von nun an nur schlimmer. Es gibt da nur eine Richtung.
Wir wissen mittlerweile, dass sich das Klima radikal verbessern würde, wenn die Menschen auf Fleisch verzichteten. Das aber scheint trotz aller Aufklärung nicht möglich zu sein. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es ist aber ja schon so, dass es immer mehr Vegetarier oder Veganer gibt. Auf jeden Fall ist die Reduzierung des Fleischkonsums ein sehr großer Schritt hin zu einer Abmilderung der möglichen Katastrophe. Warum das immer noch so langsam geht, dafür habe ich höchstens die historische Erklärung, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg eine Errungenschaft war, Fleisch zu essen.
Fleisch war teuer und ein knappes Gut. Heute, da es sich jeder leisten kann, muss man über seinen Schatten springen, um darauf zu verzichten. Hinzu kommt, dass in unserer schnelllebigen Zeit nur Wenige die Muße haben, sich mit ihrer Ernährung zu beschäftigen und zu verstehen, wie man auch ohne Fleisch gut essen kann.
„Fridays for Future“ und die „Letzte Generation“ versuchen mit zum Teil drastischen Mitteln, die Politik zu bewegen, endlich aktiv bzw. noch aktiver als zuvor zu werden. Finden Sie die verwendeten Mittel, wie z.B. das Sich-ankleben auf Autobahnen, dafür geeignet?
Ob die verwendeten Mittel wirklich geeignet sind, den Klimawandel zu stoppen, das weiß ich noch nicht so recht zu beurteilen. Aber ich würde gerne dahinter blicken, was diese Menschen dazu bewegt, solche verzweifelten Aktionen zu unternehmen. Ich bin öfters an Schulen unterwegs und berichte dort über mein „Plastik-Projekt“ in der Arktis. Von einem jungen Schüler wurde ich einmal sehr anklagend gefragt: „Was können wir denn machen, nichts hilft und die Politik tut nichts.“ Und dann sagte er noch: „Es reicht doch nicht mehr, nur zu demonstrieren.“
Was sollte ich ihm antworten, zumal 100 Jugendliche mich anschauten und auf meine Lösung warteten? Mir fiel zunächst nicht viel ein, außer dass ich die Zuhörer zum Wählen ermunterte. Darüber waren sie aber ganz und gar nicht begeistert. Ich spürte bei den Jugendlichen, deren Augen auf mich gerichtet waren, eine ganz große Verzweiflung, da sie seit Jahren erleben, was da geschieht bzw. was nicht geschieht.
Es ist wie bei den Klimaforschern: Man sieht den Klimawandel, aber auch gleichzeitig, dass nicht adäquat damit umgegangen wird. Das ruft bei den Jugendlichen die „Klimaangst“ hervor, die mittlerweile auch zu einem erhöhten Aufkommen von Depressionen führt. Manche wissen nicht mehr, was sie noch tun können, um erhört zu werden. Die Nöte der Menschen, die sich irgendwo festkleben, verdienen es, gehört zu werden. Es ist entlarvend, dass ja nun genau diejenigen, die beim Klimaschutz so versagt haben, mit so großer verbaler Aggression auf diesen Protest reagieren und vollkommen unangebrachte Vergleiche, sogar mit der RAF, ziehen.
Es gibt weltweit Lobbyisten, die große Macht auf Regierende auszuüben in der Lage sind, weshalb auch bei Klimagipfeln meist nur wenig erreicht wird. Macht Ihnen das Angst und nimmt es Ihnen die Hoffnung?
Das macht mir keine Angst, das macht mich wütend, und es motiviert mich, mit dem Finger genau darauf zu zeigen. Denn welch großen Einfluss der Lobbyismus auf unser Denken hat, wie er mittlerweile agiert, das wissen die meisten Menschen gar nicht. Das gezielte Streuen von Mythen, das Säen von Zweifeln an eigentlich eindeutigen Fakten, hat Maßnahmen gegen den Klimawandel um Jahrzehnte verzögert.
Genauso wie es einst das Handeln gegen die Tabakindustrie verzögert hat, die ganz gezielt daran arbeitete, dass nicht so wirklich geglaubt wurde, dass Rauchen Krebs verursacht, selbst als es längst feststand. Das war das erste Mal, dass dies Strategie angewendet wurde: „Doubt is our product“. Heute kommt sie immer dann zum Einsatz, wenn irgendein Umstand – wie Kanzerogenität oder eben hohe Emissionen – dazu führen könnte, dass es neue Grenzwerte, Regelungen, Einschränkungen für Industrien gibt.
Die unternehmerische Freiheit soll mit aller Macht erhalten bleiben, im Grunde geht es überhaupt nicht um den Klimawandel. Er ist nur hinderlich, was die unternehmerische Freiheit und das ungehemmte Erzielen von Profiten angeht. Deswegen wird er von Lobbyisten geleugnet.
Sie erwähnen in Ihrem Buch auch das Gurkendilemma, nachdem der Verbraucher die Wahl zwischen einer in Plastik eingeschweißten Bio-Gurke und einer Gurke aus konventioneller Landwirtschaft hat, die aber mit Pestiziden verseucht ist. Was tun?
Das Gurkendilemma steht für all die unzureichenden Wahlmöglichkeiten, die wir in der Gesellschaft, in der wir leben, haben. Häufig sind wir dazu gezwungen, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht möchten, aber es geht nun mal nicht anders.
In meinem Buch habe ich mit einem Philosophen gesprochen, der darauf antwortet, dass man dafür kämpfen müsste, die besseren Wahlmöglichkeiten zu bekommen. Diesen Ansatz finde ich hilfreich: Wir haben das Recht auf bessere Wahlmöglichkeiten! Wenn wir z.B. in den Supermarkt gehen, sollten wir das Recht haben, Produkte zu erwerben, die unsere Erde nicht über Gebühr strapazieren. Oder wir haben das Recht darauf, Kleidung zu kaufen, die nicht in fernen Ländern gefärbt wurde, mit der Gefahr, dass die Kinder, die das tun, sterben. Für mich wäre das die Freiheit, die wir alle brauchen.
Wir wollen so leben, dass unser Planet – damit auch wir und alle anderen Spezien – weiter bestehen können. Dafür lohnt es sich zu kämpfen – lauter als bisher.
In Max Frischs Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ heißt es: „Was nämlich jeder voraussieht, dennoch geschieht es am End‘.“ Wird dieses Statement Wirklichkeit werden oder können wir uns doch noch am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen, das wir selbst verursacht haben?
Ich bin da eher ein Optimist. Ich traue den Menschen zu, dass sie verstehen, was nun nötig ist. Es gibt ja gute Beispiele für Verbesserung, das Ruhrgebiet z.B., das noch vor Jahren kein sehr wohnlicher Ort war, oder die FCKW-Problematik, die auch gelöst wurde.
Der Mensch ist sehr wohl fähig, seine Haltung zu ändern oder zu erkennen, dass er sich auf einem Irrweg befindet. Ohne diesen Glauben, wäre das, was ich tue, sinnlos.
Was muss noch alles geschehen, bis wir begreifen, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher? Oder positiv gefragt: Wodurch könnten die Menschen verstehen lernen, dass der Klimawandel niemanden verschonen wird?
Man müsste fast sagen, dass das, was im Ahrtal geschehen ist, in jedem Bundeslang geschehen müsste – aber das möchte man natürlich niemandem wünschen. Deshalb muss man es immer wieder erklären und informieren, denn nur wirklich informierte Menschen können kompetente Entscheidungen treffen. Das mag zwar ab und an ermüden, aber es ist die einzige Möglichkeit. Die Botschaft muss auf die unterschiedlichsten Weisen vermittelt werden.
Aber: Das Bewusstsein dafür, dass sich das Klima wandelt, ist heute größer als es immer wieder suggeriert wird. Heute machen sich viel mehr Menschen als früher Sorgen, was ein guter Ansatz ist, neue Lösungen zu finden.
Viele Wissenschaftler sprechen von etwa 15 Jahren, die uns noch bleiben, um das Ruder herumzureißen. Eines ist dabei klar: Wir können es nur gemeinsam schaffen. Glauben Sie, dass die Menschen dieses „Wir“ hinbekommen oder müssen wir einen „Nachruf auf die Menschheit“ schreiben?
Dieses „Wir“ ist ja durchaus schon im Entstehen, und das ist auch „Fridays for Future“ zu verdanken. Dadurch ist die Thematik im Bewusstsein der Öffentlichkeit angekommen und es hat sich viel verändert. Das muss man positiv würdigen. Die Wissenschaftler Deutschlands haben sich als „Scientists for Future“ hinter diese Kinder und Jugendlichen gestellt und somit all diejenigen blamiert, die meinten, es ginge hier nur um eine neue Form des Schule-Schwänzens. Dieser Bewegung, diesem Bewusstsein folgen nun immer mehr Menschen.
Vielleicht werden wir gerade Zeugen eines neuen Wir-Gefühls, nachdem andere Organisationen, Religionen z.B., uns dieses nicht mehr geben können. Wir leben zwar im Zeitalter des Egos, siehe Instagram & Co. Ich bin aber nicht pessimistisch, sondern sehe, dass der Klimawandel, der die Menschen ja weltweit verbindet, in der Lage ist, die größte Wir-Bewegung aller Zeiten entstehen zu lassen. Es wäre tatsächlich zu hoffen.
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