DAS URWALDHOSPITAL

1998 ließ sich die Medizinstudentin Milena Sovric auf ein Projekt in Afrika ein. Sie forschte am Urwaldhospital von Albert Schweitzer in Lambaréné und betreute über 200 Familien und ihre malariakranken Kinder. Fast 25 Jahre später kam sie zurück.

Hier lesen Sie mehr über

  • Die Mission von Albert Schweitzer
  • Den Kampf gegen Malaria
  • Den Forschungscampus CERMEL in Lambaréné

Aufgezeichnet von Gerd Giesler

Dr. Milena Sovric forschte ein Jahr am Albert Schweitzer Hospital und schrieb ihre Doktorarbeit über Malaria bei Kindern in Lambaréné. Heute ist sie Frauenärztin in Garmisch-Partenkirchen.

Seit vier Stunden schippern wir nun auf dem Ogowe. Endlich hat es geklappt. Üppiger undurchdringlicher Urwald säumt die Ufer. So muss es die mutige Forscherin Mary Henrietta Kingsley schon gesehen haben, die 150 Jahre zuvor mutterseelenalleine den Dampfer flussaufwärts nahm.

Wir sind auf dem Weg von Libreville nach Lambarene. So wie einst Albert Schweitzer.
Nur dass er für die Passage von Bordeaux aus zwei Monate brauchte. Ich bin aufgeregt. Klar hatte ich Bertrand und Professor Kremsner Mails geschrieben. Aber in zwei Tagen ist Weihnachten und alle Ärzte, die ich von damals kenne, wären ausgeflogen, heim zu ihren Familien.

Gabun ist nach wie vor kein Touristenland. Trotz phantastischer Nationalparks lebt es von Ölvorkommen. Im Norden grenzt es an Kamerun und Äquatorialguinea und im Osten an die Republik Kongo. Durch das Land verläuft der Äquator. Intakte Straßen gibt es wenige. Man reist per Flugzeug oder Schiff. Große Teile sind von Regenwald bedeckt, der im Westen bis an das Meer reicht. Heimat von Flachland-Gorillas und Lederschildkröten, die an den wilden, einsamen Stränden ihre Eier ablegen.

Albert Schweitzer

SCHWEITZERS HOSPITAL BEGANN IM HÜHNERSTALL

Als Albert Schweitzer begann, Pläne für ein Urwaldkrankenhaus zu schmieden, war er noch nicht einmal Arzt, sondern Organist, Philosoph und Theologe im Elsass. Er meldete sich zum Medizinstudium in Straßburg an und lernte acht Jahre lang, was er als Missionsarzt in Afrika benötigen würde. 1913 brach er nach Lambaréné am Ogowe auf. Mit dabei: seine Frau Helene, die sich als Krankenschwester hatte ausbilden lassen.

Doch die versprochene Wellblechhütte stand noch nicht und so begann das Hospital, das einmal Weltruf erlangen sollte, im Hühnerstall. Ins Tagebuch schrieb er:
„Ehe ich noch Zeit gefunden hatte, die Medikamente und Instrumente auszupacken, war ich von Kranken umlagert. Die Standortwahl erwies sich als richtig. Von bis zu 300 Kilometer im Umkreis konnten die Kranken in Pirogen (Einbaum-Kanus) auf dem Ogowe und seinen Nebenflüssen stromauf- und –abwärts zu mir gebracht werden. Hauptsächlich hatte ich mit Malaria, Lepra, Schlafkrankheit und Elephantiasis-Tumoren zu tun.“

Der Tropenarzt verlangte keinen fixen Preis für seine Behandlungen. Wer kein Geld hatte, half nach seiner Genesung im Betrieb mit. Oft kamen die Kranken mit der ganzen Sippschaft an. Alle wohnten dann auf dem Gelände. Schon deshalb musste das Leben hier eher wie in einem Dorf als in einem Krankenhaus anmuten. Es gab eine Schule, einen Bolzplatz, Lebensmittelläden und sogar ein Lepra-Dorf. Schweitzer nannte es „le village lumière“, Dorf des Lichts – gebaut mit dem Geld, das er für den Friedensnobelpreis erhielt.

WIE ZU SCHWEITZERS ZEITEN…

Ich strahle und habe Gänsehaut als ich die palmenbestandene Auffahrt zum Campus betrete. Ich weiß, dass sich viel verändert hat, seit ich Lambaréné den Rücken kehrte, aber zunächst fallen mir die Dinge auf, die immer noch da sind, wie zu Schweitzers Zeiten: Das „Refectoire“ mit dem herabblätternden Putz, in dem wir Ärzte und Studenten schon damals die einfachen afrikanischen Mahlzeiten in U-Form sitzend eingenommen haben, das alte Wohnhaus des Doktors mit all seinen Utensilien und Schriftstücken, das Tiergehege, die ehemaligen Krankenhausbaracken und das von Albert Schweitzer persönlich erbaute Gästehaus am Fluss.

Ich betrete mein altes Zimmer, wie ich es mir gewünscht hatte. Die neue Klimaanlage brauche ich nicht. Das Haus hat Schweitzer so genial gebaut, dass ein beständiger Lufthauch vom Ogowe es durchfächert. Leonie, die gute Seele, zeigt mir alles. Ich habe alte Fotos mitgebracht von damals. Viele sind weggegangen, manche noch da. So wie Bertrand, der zugleich mit mir in Lambaréné angefangen hatte und mittlerweile hier verheiratet ist und die gabunesische Staatsangehörigkeit besitzt. „Mon dieux!“, Leonie lacht, als sie in die jungen, enthusiastischen Gesichter von damals blickt.

  • Das Schlafgemach von Albert Schweitzer

EIN IMPFSTOFF – HOFFNUNG IM KAMPF GEGEN MALARIA

Als Bertrand Lell nach Gabun kam, gab es im Land nur ein einziges Malariamittel – Chloroquin. Dagegen bestand jedoch eine so hohe Resistenz, dass diese Arznei oft gegen die Krankheit nicht half und in den Dörfern die Kindersterblichkeit extrem hoch war.

Heute sterben nach Schätzung der WHO noch immer mehr als 600.000 Menschen an Malaria. 80 Prozent von ihnen sind Kinder unter fünf Jahren. 1989 waren es dagegen fast drei Mal so viele. Seit letztem Jahr gibt es mit RTS,S weltweit einen ersten zugelassenen Impfstoff, dessen Effektivität mit ca. 30 Prozent Wirksamkeit vergleichsweise niedrig ist, der aber dennoch im Kampf gegen Malaria einen wesentlichen Fortschritt darstellt.
Ein weiteres Vakzin ist beim Mainzer Unternehmen Biontech in der Erprobung.

VOR 25 JAHREN: ALBERT SCHWEITZERS ERBE

Auch damals, vor 25 Jahren, schrieb ich auf: „Es ist heiß, schwül und grün, als wir in der „petite saison de pluies“, der kleinen Regenzeit in Lambaréné ankamen, um das Team vom Forschungslabor abzulösen.“ Ein Jahr zuvor hatte ich Prof. Kremsner von der Uni Tübingen, den dortigen Leiter auf einem Kongress in Berlin kennengelernt. Er hatte das alte, verfallene „Laboratoire de Recherche“ von Albert Schweitzer wieder aufgebaut.

Seit Jahren forschten die Mitarbeiter an neuen Erkenntnissen über diese komplizierte Infektionskrankheit, um durch genaue Beobachtung und Kontrolle von Erkrankten ein besseres Verständnis der Vorgänge im Körper, vor allem des Fiebers, zu erhalten und damit langfristig zur Impfstoffentwicklung beizutragen. Dabei richtete sich das Hauptaugenmerk auf die Kinder, da sie in der Regel schwerer erkranken als Erwachsene.

ALBERT SCHWEITZER LÖSTE PERSONALPROBLEME

Die Arbeitersiedlung im Herzen der Palmölplantage zählt wie die umliegenden Dörfer zum Hochrisikogebiet der Malaria Tropica. Hier ist die Anopheles-Mücke weit verbreitet. Sehr häufig ist die weibliche Stechmücke Überträger von Plasmodien, den Erregern von Malaria.

Gegenüber vom Labor de Recherche lebten damals Agathe und Albert mit ihren Kindern. Albert war Chefpfleger und Agathe Anästhesie-Schwester. Ihr 20 Jahre alter Sohn Thierry begleitete mich ab und zu im gelben Stations-Jeep der Klinik in die Dörfer und bis zur eineinhalb Stunden entfernten Plantage. Zu manchen Familien war die Beziehung so herzlich, dass Angélique, die eine Tochter gebar, sie mir zu Ehren Milena nannte.

Heute würde man sagen: Thierry war unglaublich gut vernetzt. Er kannte fast alle, die in den Dörfern lebten und war für mich ein Türöffner und treuer Begleiter, wenn es darum ging, kranke Kinder bei ihren Familien zu betreuen und Schwerkranke einzusammeln und ins Spittal zu bringen.

Jeder Patient, der stationär aufgenommen wurde, musste zur Aufnahme einen „gardien“ mitbringen, der oder die sich um das Essen, die Wäsche, die Pflege des Patienten kümmerte. Dieser Grundgedanke Albert Schweitzers war nicht nur ungemein personalsparend, er tat den Kranken auch sichtlich gut. Anfangs mutete es schon bizarr an, mitten im Zimmer oder unter dem Bett des Kranken schlafende Mütter oder Väter zu sehen, doch ich gewöhnte mich sehr schnell daran und dachte insgeheim: „c’est l’Afrique!“

INTERNATIONALITÄT CONTRA MISSIONARISCHER GEIST

Albert und Agathe sind bereits gestorben und Thierry lebt heute in Luzern. Aber das Albert Schweitzer Krankenhaus gibt es noch immer. 150 Betten mit Abteilungen für Innere Medizin, Pädiatrie, Chirurgie und moderner Geburtenhilfe. Es fungiert als Ausbildungszentrum der medizinischen Universität Libreville. Und auch wenn der Schweitzersche Grundsatz der Gardiens noch heute gilt, so ist der Weltruf des einstigen Urwaldspitals allmählich verblasst, da Kranke sich lieber in den staatlichen Krankenhäusern der großen Städten behandeln lassen.

Schon zu Lebzeiten war der Grand Docteur mangels hygienischer Zustände diskutiert worden und selbst die Regierung drängte auf Veränderung, fühlten sich doch Kritiker sehr an den alten, missionarischen Geist erinnert. Der polterte damals: „Ich betreibe ein afrikanisches Hospital für afrikanische Patienten.“

BILL GATES FÖRDERT FORSCHUNG IN LAMBARÉNÉ

In den 90er Jahren beschäftigten sich nur wenige Universitäten in Deutschland mit Malaria, obwohl sie global gesehen eine der häufigsten Infektionskrankheiten ist. 1992 sah der damals 28-jährige Peter Kremsner eine große Chance ganz im Sinne von Albert Schweitzer. In der Baracke des Laboratoire de Recherche gründete er das spätere Centre de Recherches Médicales de Lambaréné (CERMEL) mit ihm als Präsidenten und Bertrand Lell als Direktor.

Ziel ist die Erforschung der Malaria, Tuberkulose und Wurminfektionen mittels Forschungsprojekten und klinischer Studien, wie z.B. für das Malariamittel Pyronaridin-Artesunat. Geldgeber sind die EU, die Bill & Melinda Gates Foundation und die Regierung Gabuns. CERMEL unterhält enge Beziehungen zu den Universitäten Tübingen, Wien und Amsterdam.

Nach über 25 Jahren wissenschaftlicher Forschung steht nun in Lambarene ein Forschungscampus von mehr als 20 Gebäuden inklusive Müllverbrennungsanlage. Beim Betreten des CERMEL-Pavillons stockt mir fast der Atem. Ich wandle durch klimatisierte Labors. Hightech wohin man blickt. Albert Schweitzer wäre stolz gewesen auf diese Weiterentwicklung vom aufsehenerregenden Urwaldhospital zum afrikanischen Forschungscampus von Weltruf.

Milena Sovric mit Baby Milena in den Armen; links: Mutter Angélique

LEBEN WILL LEBEN

Ich bin eingeladen. Vor den Wohnbungalows am Campus steigt eine Vorweihnachtsparty. Es gibt Nyembwe, ein Eintopf aus Huhn mit Pinienkernen und Gari, ein Brei aus der Kassawa Knolle und Ananas-Creme. Eingeladen haben ein paar Studenten, die wie ich Forschungsarbeit für ihre Doktor-bzw. Diplomarbeit betreiben oder ein klinisches Praktisches Jahr absolvieren. Ein junges Ärzte-Paar aus Hannover lebt hier sogar mit ihrer dreijährigen Tochter. Nach dem Essen gehe ich hinunter zum Fluß, vorbei an den blumengeschmückten Gräbern von Albert Schweitzer, seiner Frau Helene und ihrer Tochter Rhena.

Im nahen Tiergehege leben Affen und zwei Pelikane. Schweitzer behandelte selbst Tiere und konnte keinem Lebewesen etwas antun. Nicht einmal einer Mücke. „Ich bin Leben das leben will, inmitten von Leben das leben will“ hatte er auf einer Bootsfahrt auf dem Ogowe einmal geäußert.

Doch wie ist es der „petite Milena“ ergangen? Sie muss jetzt eine junge Frau von 25 Jahren sein. In Lambaréné habe ich sie nicht ausfindig machen können. Sie lebt wie ihre Mutter Angélique in Libreville, sagte man mir, doch alle meine Nachrichten bleiben unbeantwortet. Erst über ein Jahr nach meinem erneuten Besuch in Lambarene erhalte ich von meiner Namensvetterin eine WhatsApp aus Libreville an „chère Docteur“.

Wir telefonieren, lachen, weinen und es herrscht eine seltsame Vertrautheit zwischen uns trotz der Distanz. Milena hat es geschafft. Aus ärmsten Verhältnissen vom Dorf in die Stadt. In die Selbstständigkeit. Lambaréné hat sie stark gemacht.

Der Ogowe Fluß in Gabun, über den das Urwaldhospital zu erreichen ist

Fotos: Dr. Milena Sovric, Wikipedia / Bundesarchiv, Bild 183-D0116-0041-019

 

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