Zwei Nashörner vor schwarzem Hintergrund

Warum das Nashorn nur sein eigenes Horn malt

Kann man es schaffen, in einer Welt voller Erwartungshaltungen fantasievoll und mutig wie in der Kindheit zu sein? Und wenn nein, warum ist das so?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Sehen mit dem Herzen
  • Spielen
  • Tanzende Visionen

Text Beat Finkbeiner

Autor Beat Finkbeiner

Beat Finkbeiner ist Transportation-/Industrie-Designer, Kaufmann und Freigeist. Nach der Tätigkeit als Design-Manager in der Automobilindustrie mit mehrjährigem Ausland­saufenthalt, führt er heute sein eigenes Unternehmen für sinnvolles Design.

Die Frage, warum ein Kind so unbeschwert und neugierig ist, kommt mir immer wieder in den Sinn. Warum vergessen wir als Erwachsene so schnell, was einmal war?

Als Kind ist man von Neugierde, unbeschwertem Erkunden und Ausprobieren erfüllt. Es spielt keine Rolle, ob ein Bild gut oder schlecht ist, denn es ist voll von Ideen und Visionen und lädt dazu ein, in eine fantastische Welt einzutauchen und dorthin zu gelangen, wo man die eigene Kindheit wieder entdecken kann.

Zwar betrachten wir Erwachsenen die Bilder von Kindern wohlwollend, beginnen jedoch – wenn auch unausgesprochen – umgehend mit einer Analyse. Wie sich das zum Beispiel auf das Arbeitsleben auswirkt, zeigt folgende Geschichte.

Nashorn Mutter und Junges in der Natur

EIN DIALOG ÜBER VISIONEN UND FOKUSSIERUNG BEIM LATTE MACCHIATO

In der Cafeteria des Autoherstellers, für den ich als Designer tätig war, traf ich (BF) zufällig auf den damaligen Vice-Präsidenten (VP) der Design-Abteilung. Er lud mich zu einem Latte Macchiato ein und fragte mich, während er bestellte, was denn meine „Frage des Tages“ sei. Durch meine Antwort entwickelte sich nachstehender Dialog:

BF: Warum malt das Nashorn auf jedem seiner Bilder sein eigenes Horn? In diesen Kontext übersetzt heißt das: Warum stellen wir Autos her?
VP: Wir müssen Geld verdienen und dazu müssen wir konkurrenzfähig sein.
BF: (insistiert): Warum malt das Nashorn Bilder? Kann es denn gut malen?
VP: Wir bauen die besten Autos der Welt.
BF: Ich sehe Hörner auf jedem Bild.
VP: (lacht): Na sowas.
BF: Das ist keine wirkliche Vision – Geld verdienen und konkurrenzfähig sein.
VP: Wie meinen Sie das? Wir machen exzellentes Design und Sie sind ja selbst dabei. Sie sollten lieber stolz sein auf das, was wir tun.
BF: Ihre Ziele verändern nichts und enthalten keine Visionen. Meine Frage ist: Was macht uns wirklich relevant und was verändert die Lebensqualität der Menschen?
VP: Wir bieten für alle Menschen ein umfassendes Angebot zu erschwinglichen Preisen an.
BF: Aber warum haben wir „nur“ Kunden und keine wirklichen Fans? Wie werden Fans geboren? Ich finde es ernüchternd, für alle alles gleich zu machen.
VP (lächelt): Jetzt verstehe ich Ihre Analogie mit dem Nashorn.
BF: Warum sind wir nicht einfach mutig und gehen einen ersten Schritt auf eine unbekannte, verschneite Wiese?
VP: Wir können nur vorn bleiben und mithalten, wenn wir den Forecast gut interpretieren bzw. Top-Notch Clinic Results erreichen und dann den entsprechenden Business Case mit ansprechendem Design erfüllen.
BF: Das tun wir eigentlich immer; aber die Menschen identifizieren sich nicht besonders mit unseren Produkten, obwohl wir all dies, was Sie sagen, bestens erfüllen. Wo ist der Fokus?

Wenn sich die Katze nicht fokussiert, entwischt ihr die Maus und umgekehrt: Wenn sich die Maus nicht fokussiert, wird sie von der Katze gefressen. Es ist also essenziell und existenziell, sich zu fokussieren.
Ohne Fokus kann kein Ziel erreicht werden und auch nicht ein Ziel, dass überall gleichzeitig oder sogar hinter mir ist. Sehr wohl aber kann mein Geist eine Vision entwickeln, um ein Ziel zu erreichen.

Ich habe die Vision, dass ein Autositz keine Hebel und Knöpfe mehr hat … er soll vorwegnehmen, was ich als nächstes tun möchte und sich selbst für mich und meine Wünsche einstellen. Dabei weiß ich selbst noch nicht, was ich gleich wünschen werde … doch der intuitive Sitz weiß es vor mir. Um an dieses Ziel zu gelangen, benötigt es eine Vision. Ist sie sinnvoll, so gehe ich einen langen, unbekannten und schweren Weg – vielleicht auch ohne Erfolg, denn neue Wege sind fragil und nicht ohne weiteres verlässlich. Es ist wie in der Natur selbst: Ist man nicht hellwach, immer auf der Hut, stets fokussiert und ohne Komfortzone, wird man nicht überleben.

VP: Das klingt sehr interessant (einer der Direktoren, der die Cafeteria betrat, wurde von ihm hinzugerufen) … erzählen Sie mehr davon …
BF: Ein Weg ist nur so gut, wie ihn meine Vision in den buntesten Farben zu malen vermag.
Ist es nicht so, dass ich einen eingeschlagenen Weg nur in dem Maße als gut empfinden kann, wie ich dazu bereit bin, meine Vision anzunehmen, sie zu verinnerlichen und mich auf das Ziel zu fokussieren?

Um das Ziel mit dem Herzen zu sehen, kann ich völlig frei ein geistiges Bild in den schönsten Farben malen und es innig immer wieder studieren und komplettieren. Es ist mein persönliches Bild. Ich wähle die Farben und sehe es als vollendet vor mir. Damit gehe ich den Weg. Er ist mir genauso vertrauenswürdig geworden wie mein Bild.

VP: Sie meinen, Sie wollen einfach voran gehen und dabei immer mehr verstehen?
BF: Ich bin Teil einer fortwährend evolutionierenden und wachsenden Menge – hier und jetzt – und habe allein schon dadurch Anteil daran, dass ich darauf reagiere.
Da die Welt so ist, wie es mein Verständnis zulässt, ist dies mein Fokus. Dies bedeutet auch, ständig meine Perspektive zu ändern, um mehr zu verstehen, damit ich nicht nur mein eigenes Horn male …

WIE MAN DIE ALTEN WEGE VERLÄSST UND NEUE BESCHREITET

Es ist gewiss nicht leicht einen neuen Weg zu wählen, während mir gleichzeitig der alte Weg keine Erfüllung bietet, obgleich er mir so sehr vertraut ist. Anders gesagt ist der neue Weg nur dann erträglich und leicht zu gehen, wenn eine Vision so deutlich und lebendig vor dem geistigen Auge tanzt, dass man wie ein Kind unbeschwert Zeit damit verbringt, anstatt sich Sorgen zu machen, wie das alles gehen soll.
Diese Erkenntnis ist zu meinem persönlichen Anliegen geworden, da ich täglich daran gemessen werde, wie sehr ich sie verinnerliche und spielerisch ernst nehme. Würde das Nashorn das auch so machen, würde es mehr malen als sein eigens Horn …

Fotos: Adobe Stock, Shutterstock

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