Mensch krümmt sich zusammen

Was ist unsere tiefste Angst?

Warum verwenden wir das Potential unseres Intellekts, Reichtums, unserer Identität und Lebenszeit darauf, „Gerätschaften” herzustellen, um uns gegenseitig zu töten? Antworten finden Sie in dieser zweiten Leseprobe des Buchs „Weit weg – Nah dran. Was hätte sein können und was wäre, wenn.“

Hier erfahren Sie mehr über

  • Sinn und Verstand
  • Liebe und Frieden
  • Ängstliche und starke Herzen

Text MoonHee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.

Der Anthropologe und Philosoph Arnold Gehlen bezeichnet den Menschen als ein Mängelwesen. Im Unterschied zum Tier besitzt er keine Angriffs- und Verteidigungsorgane. Auch das Fehlen echter Instinkte und anderer angeborener schützender Attribute, wie zum Beispiel angemessene Körperbehaarung, machen das menschliche Überleben in der Natur fast unmöglich. So erschafft er, laut Gehlen, um seine Existenz zu sichern, eine Ersatznatur, eine Art zweite Natur – die Kultur.

Kleine Kreatur in roter Farbe

Die zweite, menschliche Natur? Ist Kultur.

Im Gegensatz zu anderen Lebewesen passt der denkende Mensch sich nicht der Natur an, vielmehr passt er die Natur den ihm lebensdienlichen Zwecken an. Nun weitgehend von einem physischen Überlebenskampf befreit, driftet der zivilisierte Mensch mehr und mehr in eine intellektuelle Überforderung, wodurch der unmittelbare Umgang mit der Natur schwindet und damit verbunden das Gefühl für eine universale und natürliche Ordnung.

Intellektualisierung, Wissenschaftshörigkeit, die zunehmende Technisierung und Digitalisierung haben den Menschen gespalten und vereinzelt. Sich nicht mehr als Teilhaber eines größeren Ganzen zugehörig fühlend, denkt und handelt er – in der Übersteigerung seiner Subjektivität – als ein isoliertes und getrenntes Teil, dem unendlich viele losgelöste Teile gegenübenstehen. Anstatt wie andere Lebewesen Mängel mit Gemeinschaftssinn auszugleichen, errichtet der moderne Mensch Türme mit Zinnen, in denen er sich, seine Ängste und Mängel, aber vor allem sein Herz versteckt.

Zwei abwehrende Hände

Was ist ein Mensch ohne Werte?

Heutzutage bedeutet Überleben vorrangig, jemand zu sein. Die tiefste Angst des kultivierten Menschen ist die Bedeutungslosigkeit, der Fall ins Nichts. Unsere moderne Gesellschaft ist bedeutungsträchtig: Alles muss Sinn und Verstand haben, indem alles einem Nutzen dient. Dinge, aber auch der Mensch, sind nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern um-zu. Indem der Mensch sich selbst und alles andere verzweckt, verliert er seine Menschlichkeit, wodurch alles Sein seine wahre Bedeutung und seinen Wert einbüßt. Etwas, was nicht um seiner selbst willen ist und angestrebt wird, ist nicht wahrhaftig und damit bedeutungs- und wertlos.

Funktion darf aber nicht mit wertvoll verwechselt werden.

Doch was ist ein Mensch ohne Werte anderes als ein elendes, verzweifeltes Nichts? Bedeutungsentleert, innerlich hohl, ist er nicht, und wer nicht ist, liebt nicht. Da der Mensch aber ohne Liebe keinen Frieden, weder inneren noch äußeren finden kann, versucht er sich anderweitig zu befried(ig)en. Die Mittel sowie die dramatischen Folgen sind uns allzu gut bekannt. Wahrer Frieden ist jedoch mittellos. Deshalb kann er auch nicht durch Befriedigung, ganz gleich welcher Art, erreicht werden, sondern allein durch Befriedung. Frieden ist eine Herzensangelegenheit und wird allein durch das Herz gewonnen.

Unser ängstlich verschlossenes Herz

Tragischerweise haben wir unser Herz aus Angst vor Verletzungen verschlossen und weggesperrt. Um es zu schützen, zogen wir großartige Festungen hoch und sind stets dabei, diese weiter auszubauen. Eingemauert, jeglicher Berührung und Entfaltung beraubt, liegt das Herz still und einsam brach. Weil wir es kaum noch fühlen und hören, treten wir der Welt mehr oder weniger herzlos entgegen.

Unserem Herzen entzweit, fehlt uns nicht nur für ein gutes Leben das notwendige Gefühl an Empathie und Mitgefühl, wir leben auch unbeherzt ein ängstliches und unsicheres Dasein. Denn es ist unser Herz, das uns beschützt und nicht umgekehrt. Allein das Herz gibt uns die Sicherheit, die Souveränität und das Vertrauen in uns selbst, in andere und in die Welt.

Es ist das Herz, das uns erkennen lässt, was richtig oder falsch ist. Nur, indem wir alle trennenden Schutzmauern einreißen, unser Herz wieder befreien, es entfalten und leben, befrieden wir die Welt.

Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.

Fotos: Unsplash / M T Elgassier, Mwangi Gatheca, Arno Senoner

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