Welche Wege führen zum Glück?
Wie bemisst sich persönliches und nationales Glück? Oder gibt es gar eine Weltformel und ein Recht auf Glück? Ein Bericht über Glückskommissionen, Glückssuche und Glückszustände.
Text Gío von Beust
Giò von Beust ist u.a. Bankkaufmann, Taxifahrer, Volljurist, Kommunalpolitiker, Weltreisender, Autor/Publizist/Verleger, Unternehmer/Realtor, Künstler, Gedankenalchimist, Wilddenker und Suchender.
„Der Staat bemüht sich, jene Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttonationalglück ermöglichen,“ lautet Artikel 9, Absatz 2 der nationalen Verfassung des Königreichs Bhutan. Die Wendung „Bruttonationalglück“ wurde erstmals in den 1970er Jahren vom damaligen König Jigme Singye Wangchuck spontan in einem Interview geäußert, als er nach einem schlagkräftigen Abgrenzungsbegriff zum heute nahezu überall auf der Welt den Maßstab für Entwicklungszufriedenheit setzenden „Bruttosozialprodukt“ suchte.
Im Jahr 2008 wurde das Bruttonationalglück schließlich, nach ausführlicher Debatte, in der buthanesischen Verfassung als eine Art Grundrecht verankert. Das „nationale Glück“ der Buthanesen wird jährlich gemessen, mittels eines umfangreichen Fragebogens zur Lebenszufriedenheit. Dafür macht sich alljährlich eine zehn-köpfige „Brutto-Nationalglück-Kommission“ auf den Weg, um in abgelegenen Tälern und auf steilen Bergen die optimalen Bedingungen des Glücks zu erfassen.
WANN IST EIN VOLK GLÜCKLICH?
Den Glückszustand der Bevölkerung eines Landes jenseits des Bruttosozialprodukts zu messen, haben sich auch andere Indizes zur Aufgabe gemacht, etwa der Human Development Index der Vereinten Nationen. Allen Indizes ist gemein, dass sie versuchen, über statistische Durchschnittswerte eine „Weltformel“ des Glücks festzulegen, genauer gesagt: die Bedingungen zu benennen, unter denen sich kollektives Glück entwickeln kann … und damit, abgeleitet davon, das persönliche Glück des Einzeln.
Berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang die Worte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:
„Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geboren sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, unter anderem dem Recht auf Leben, Freiheit und dem Recht, ihr Glück zu verfolgen.“
Bhutans Premierminister Jigme Thinley bringt die Glücksformel, an der sich auch die europäisch-westliche Staats- und Wirtschaftskultur ausrichtet, auf den Punkt: „Der Mensch soll selbst entscheiden, was sein persönliches Glück ist. Wir sorgen für den Rahmen, für kostenlose Bildung und Gesundheit.“
Klingt gut, klang auch gut in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, aber können Rahmenbedingungen allein zum persönlichen Glück führen? In Buthan leben viele Menschen weiterhin unter der Armutsgrenze, eine allgegenwärtige Bürokratie sorgt dafür, dass sich die Bevölkerung an die verordneten Glücksbedingungen hält, Hunderttausende von Nepalesen, die aus Sicht des buthanesischen Staates den Fortbestand der heimischen (Glücks-)Kultur gefährden, wurden vertrieben und leben im grenznahen Niemandsland in Flüchtlingslagern.
SCHÖNE NEUE WELT?
Eher Brave New World? Ist eine schöne neue Welt, wie sie Aldous Huxley so grandios und alptraumhaft beschrieben hat, der Schlüssel zum Glück? Oder ist es die grenzenlose Freiheit und der schrankenlose Konsum, ohne Krankenversicherung, ohne staatliche Fürsorge, ohne öffentliche Bildungsangebote, jedoch schwer bewaffnet, wie es sich die amerikanischen Konservativen unter Berufung auf das „Recht auf Glück“ vorstellen?
Bevor man also solcherart Recht auf Glück organisieren oder zugestehen will, ist es notwendig zu erkunden, was mit diesem „Recht auf …“ überhaupt herbeigeführt werden soll.
EINE URALTE SEHNSUCHT
Das Streben nach Glück, diese uralte Sehnsucht des Menschen, zählt nicht von ungefähr seit jeher zum Themenkreis der Philosophie, sowohl klassisch-griechischer als auch östlicher und neuzeitlicher Prägung. Und obwohl Menschen das Glückstreben von jeher als etwas Grundlegendes, Großartiges, alles Überstrahlendes empfinden, bleiben die Rezepte zur Erlangung, die Bedingungen des Glücks, des Glücklichseins, seltsam trübsinnig, bürokratisch, vage, sogar bedrängend.
Platon sieht im Gleichgewicht von Vernunft, Willen und Begehren die Bedingung des Glücks. Für Aristoteles ist glückselig, wer die eigenen Tugenden und Fähigkeit innerhalb des Gemeinwesens entfaltet, mit äußeren Gütern hinreichend versorgt ist und sein ganzes Leben tugendhaft verbringt. „Schöne Neue Welt“ antizipiert.
GLÜCKSPHILOSOPHIE UND GLÜCKSLUST
Zur Ehrenrettung der alten Griechen sei immerhin Glücksphilosoph Epikur genannt, der den Begriff der Lust als Prinzip eines gelingenden Lebens einführte. Allerdings, alas!, verstand er darunter eher die Vermeidung von Unlust als die Hingabe an die Lust.
Überhaupt war das Ziel epikureischer Glücksphilosophie die Schmerzvermeidung, was durch die Reduktion auf die wenigen notwendigsten Bedürfnisse zu erreichen sei. Zuviel Lust ziehe eben viel Unlust nach sich, das kleine Glück sei deshalb erstrebenswert.
Auch der Diogenes, bekannt für den lässigen Lebensstil in der Tonne, predigte einen asketischen, von Verzicht geprägten Lebensstil zur Glückserlangung. Und so weiter und so fort. Die Geschichte der Glückphilosophie ist von Nützlichkeitserwägungen, von Utilitarismus, geprägt, wobei das „Glück“ selbst immer ein Leerbegriff bleibt.
Schreibt John Stuart Mill, der Vater des Utilitarismus, einer Gedankenwelt, welche die amerikanischen Gründerväter ebenso prägte wie das heutige, im WEF versammelte globale Führungspersonal: „Nützlichkeit ist das Prinzip des größten Glücks und die Grundlage von Moral, insofern als Handlungen, die das Glück befördern – also nützlich sind – moralisch richtig sind, Handlungen aber, die kein Glück befördern, moralisch falsch sind.“
GLÜCK MIT VIELEN GESICHTERN
Glück ist, weil nützlich und effektiv, bis an die Zähne bewaffnet zu sein, um Feinde abzuwehren … würde die amerikanische Waffenlobby sagen. Oder Glück ist, weil nützlich und effektiv, wenn der Staat mit Hilfe der Wissenschaft und des Medizinkomplexes die Volksgesundheit in die Hand nimmt, um das Volk zu schützen … würden Gesundheitsexperten und Pharmaindustrie sagen. Selbst brillanten Denkern wie La Rochefoucauld – „Körperliche Ertüchtigung kann den armen Schichten Glück verschaffen“ – ist zum Thema Glück nichts Begeisterndes eingefallen. Auch dem famosen Goethe gelingt es nicht, dem menschlichen Glück Gesicht und Größe zu geben:
„Ich hab’ mein Sach auf nichts gestellt, juchee!“ jubelt er angesichts von Vergänglichkeit und Leid, Begriffe, die scheinbar nahezu alle großen Denker, von Buddha bis Schopenhauer und Freud („Das Glück ist in der Schöpfung für den Menschen nicht vorgesehen“) ins Zentrum ihrer Weltbetrachtung stellen.
GLÜCK ALS BEZOGENSEIN
Eine Ausnahme unter den Philosophen bildet – wie immer – Nietzsche, der in seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches dem Glück eine anschauliche Dimension verleiht:
„Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist dies der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo, es Glück gibt, gibt es Freude am Unsinn.“
Womit Nietzsche die Spur legt zu einem anderen Glücksverständnis, das sich nicht von ökonomischen Nützlichkeitserwägungen und Leid- oder Schmerzvermeidung leiten lässt, zwischen Lust und Unlust das kleine Glück sucht oder im Verzicht die Lösung findet. In seiner Betrachtung des Wohlwollens nähert er sich bereits dem Kern dessen, was menschliches Glück ausmacht: die Beziehungshaftigkeit.
So schreibt der große Menschenfreund: „Ich meine jene Äußerungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Tun umsponnen ist, … die fortwährende Betätigung der Menschlichkeit.“
Damit wird in unserer Suche nach dem Glück ein weiterer Aspekt sichtbar. Das Glück ist nichts Festes, Dauerhaftes, es hat eine fluide Qualität, das Glück ist eine Perlenkette, die man lernen muss, durch die Hände gleiten zu lassen.
DIE RICHTSCHNUR DES GLÜCKS
Folgen wir weiter der Fährte, die Nietzsche gelegt hat, und ziehen den großen Mythenforscher Joseph Campell hinzu, der auf wunderbare Weise die Freude oder Glückseligkeit als entscheidenden Faktor und Indikator von Glück identifiziert und beschrieben hat. Auf seiner Suche nach den tiefen und mächtigen Kräften, die das einzelne und kollektive menschliche Leben durchwirken und lenken, beschäftigte er sich intensiv auch mit östlicher Philosophie, in der ganz andere Kriterien der Seinsbetrachtung angelegt werden als im Westen. Eine Qualität östlicher Geistesschulen ist es, dass es ihnen gelingt, elementare Konzepte in prägnante Kurzformeln zu fassen.
Einer dieser Kompaktbegriffe heißt Sat Chit Ananda, womit sich Campbell lange beschäftigte. In einem berühmten Zitat beschreibt er, wie er die Freude als Richtschnur des Glücks entdeckte:
„Auf diese Idee der Glückseligkeit oder Freude kam ich, weil es in Sanskrit, jener großen spirituellen Sprache der Welt, drei Begriffe gibt, welche das Sprungbrett in den Ozean der Existenz darstellen: Sat Chit Ananda. Das Wort ‚Sat’ heißt Sein. ,Chit‘ bedeutet Bewusstsein. ,Ananda‘ bedeutet Glückseligkeit, Hingerissenheit oder Verzückung. Und ich dachte mir: Ich weiß weder, ob ich richtig denke und fühle, noch weiß ich, ob ich ethisch richtig lebe, aber ich weiß, worin meine Glückseligkeit liegt. Wenn ich mich an der Verzückung festhalte, wird mir diese sowohl den Weg zu klarer Erkenntnis als auch zu einer moralischen Lebensweise zeigen. Ich glaube, es hat funktioniert.“
Mit dieser Idee hat uns Joseph Campbell einen wunderbaren Kompass zur Hand gegeben, der in jeder Lebenssituation, an jedem Scheideweg, die Richtung zum Glück weist. Dort wo die Freude liegt, die Verzückung, wo wir hingerissen sind, dort wartet auch ein ausgewogenes und verständiges Bewusstsein, dort finden wir ein erfülltes, wahrhaftiges Leben.
Allerdings: Es erfordert Kraft und Entschlossenheit, dem Ruf der Freude zu folgen.
DAS GLÜCK DER LIEBE
Die Ökonomisierung des Glücks, das „Glückmachen“, weist oftmals in die entgegengesetzte Richtung, im Verbund mit den ausgedachten, kultur- und interessengeleiteten sowie meist wenig begründeten Forderungen der Moralisten, der Staatslenker und all jener, die meinen, das, was das Leben lebenswert macht, aus den Tabellen der Statistik herauslesen zu können. Womit wir bereits zwei Elemente wahren Glücks isoliert haben: beziehungshafte Menschlichkeit und Freude.
Fehlt noch ein drittes Element, das erstaunlicher Weise in keiner Überlegung der großen Denker auftaucht: die Liebe. Nicht nur in jedem Schlager ist die Liebe das zentrale Thema, Dichterinnen wie Lou Andreas-Salomé und Poeten wie Rainer Maria Rilke gelingt es auch, die Worte zu finden, die uns die alles umfassende Dimension der Menschenliebe vor Augen führen:
Und wie mag die Liebe dir kommen sein?
Kam sie wie ein Sonnen-, ein Blütenschein,
kam sie wie ein Beten? – Erzähle:
Ein Glück löste leuchtend aus Himmeln sich los
und hing mit gefalteten Schwingen groß
an meiner blühenden Seele …
II.
Das war der Tag der weißen Chrysanthemen, –
mir bangte fast vor seiner schweren Pracht …
Und dann, dann kamst du mir die Seele nehmen
tief in der Nacht.
Mir war so bang, und du kamst lieb und leise, –
ich hatte grad im Traum an dich gedacht.
Du kamst, und leis wie eine Märchenweise
erklang die Nacht …
EIN HEILIGES GUT
Aus all dem ergibt sich, dass der utilitaristische Ansatz der Glücksfindung, der Glaube, dass Lebensglück über die äußeren, vom Staat vorgegebenen Bedingungen hergestellt werden kann, ein Irrglaube ist. Es ist ein Gebot der Menschenwürde, dass staatliche Organisationen für gerechte, soziale und sichere Rahmenbedingungen sorgen, in denen das selbstbestimmte Streben nach Glück möglich ist.
Im Übrigen ist das Glücklichsein jedoch von den äußeren Lebensumständen unabhängig. Ein Recht auf Glück vorzugaukeln oder gar staatlich zu definieren und institutionalisieren, führt tatsächlich ins Unglück.
Das Glück ist ein heiliges, sehr individuelles Gut des Menschen. Glücklich zu sein, ist ein Naturrecht des Menschen, ist der Kern seiner Existenz; es bildet sich aus einem Dreiklang, der im Inneren, im Bewusstsein des Menschen schwingt: Es beruht auf der menschlichen Gemeinschaft, es heftet sich an die Fersen der Freude und es lebt vom Elixier der Liebe.
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