Vager Umriss eines Mannes, der sich im Wasser spiegelt.

Welche Werte braucht das Land?

In diesem Diskurs über Wertvorstellungen fragt sich Prof. Dr. Bedford-Strohm: Woran orientieren wir uns eigentlich als Gesellschaft? Was ist die Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt? Und welche Werte prägen unsere sogenannte moderne Gesellschaft?

Text Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm.

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm war 2014 bis 2021 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche. Seit 2011 ist er Landesbischof der Evang.-Luth. Kirche in Bayern. Er ist Leiter der Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche Theologie an der Uni Bamberg.

In dieser modernen Gesellschaft bekommt die Klage über den Verlust der Werte immer wieder breiten Raum. Die Politikerinnen und Politiker, manchmal auch Kirchenleute, Menschen, die sich über den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft Gedanken machen, stellen fest, dass bestimmte Dinge nicht mehr so sind wie früher und bestimmte Werte verloren gegangen oder jedenfalls deutlich angekratzt worden sind.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen aus dem Munde eines Politikers, der sich über – was ich sehr schätze – ethische Fragen immer wieder große Gedanken macht, Wolfgang Schäuble. Er hat vor einiger Zeit festgestellt, die klassischen christlichen Tugenden wie Nächstenliebe, Opferbereitschaft, Treue, Pietät, Wahrhaftigkeit würden nicht mehr ernst genommen. „Fleiß, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit sind gar als Sekundärtugenden deformiert worden. Dass unter solchen Bedingungen auch Autorität schwindet liegt auf der Hand.“ Dies ist nur ein Beispiel für die Klage über den Verlust von Werten.

Ich zitiere zwei weitere Beispiele:
Erstens: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widerspricht ihren Eltern, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer.“
Zweitens: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von Morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“

Das erste Zitat stammt von Sokrates, der 470 bis 399 vor Christus lebte. Das zweite ist von Aristoteles, der 384 bis 322 vor Christus lebte. Also: Die Klage über den Verlust der Werte ist schon ziemlich alt. Und man muss sagen, uns gibt’s immer noch. Aber warum schreibe ich das? Weil die Dinge, glaube ich, etwas komplizierter sind, als die Klagen über den Verlust der Werte dies immer wieder zum Ausdruck bringen.

Die Klage ist auch immer wieder einigermaßen süffisant kommentiert worden in der heutigen Zeit. Der Soziologe Ulrich Beck fragt: „Handelt es sich bei alledem, bei dieser Klage, um eine Art Egoismusepidemie, ein Ich-Fieber, dem man durch Ethiktropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl beikommen kann?“

Ganz offensichtlich sind die Phänomene, die wir in der modernen Gesellschaft erleben, etwas ambivalenter, etwas differenzierter, etwas komplexer, als es in der einhelligen Klage über den Verlust der Gemeinschaft und der Werte zum Ausdruck kommt.

Wertekrise

Welches sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen? Und man kann vielleicht auch die Frage stellen: Was sind die Phänomene, die vielleicht auch in die andere Richtung weisen, und die möglicherweise auch positiv zu diagnostizieren sind?

Ich zähle einige Herausforderungen auf:

    • Weniger Engagement in der klassischen Form z. B. in den Vereinen, in den Parteien, in den Kirchen.
    • Parteienverdrossenheit
    • Die Zahlen der Scheidungen. Etwa über die Hälfte aller Ehen in den Großstädten werden geschieden.
    • Man spricht von der zunehmenden Vereinzelung. Dass Menschen einsam leben, dass die Nachbarschaft, dass andere Menschen es kaum wahrnehmen, wenn es den Menschen nebenan schlecht geht.

Schließlich das Stichwort von der „Ellenbogengesellschaft“, also einer Gesellschaft die immer stärker daran orientiert ist, den eigenen Vorteil zu verfolgen und immer weniger das Gemeinsame und auch die Bedürfnisse der anderen in den Blick nimmt.

Die Klage über die Ellenbogengesellschaft ist eine vielleicht pauschale Klage, aber sie findet auf jeden Fall einen gewissen Anhalt immer wieder auch in den Realitäten. Ich will nur die zwei bekanntesten Werbeslogans nennen, die diesem Lebensgefühl Ausdruck geben:

  • „Unterm Strich zähl ich“. Mit diesem Slogan warb vor einigen Jahren eine Bank für ihre Dienste.
  • „Geiz ist geil“. Hier handelt es sich um die programmatische Verherrlichung einer Untugend, die auch in der Gesellschaft zweifellos und mit großem Konsens als Untugend gesehen wird. Und trotzdem kommen Werbetexter auf die Idee genau diese Untugend zum Programm zu erheben.

Das sind kleine Indizien dafür, dass es bestimmte Phänomene in der Gesellschaft gibt, die tatsächlich Grund zur Rückfrage geben. Aber, es gibt eben auch andere Phänomene und es geht darum, alles, die ganze Realität zu erfassen.

Veränderung unserer Wertvorstellung

Nehmen wir zum Beispiel die Freiheitsgewinne in der modernen Gesellschaft, z. B. die Freiheitsgewinne der Frauen, die früher den Ort hatten, der ihnen zugewiesen war und die allzu oft mit diesem Ort überhaupt nicht einverstanden waren, aber weder den Mut, die Kraft oder auch nur die Mittel hatten, das aus ihrem Leben zu machen, was sie selbst aus diesem Leben machen wollten.

Mehr Möglichkeiten

Die Tatsache, dass Frauen heute selbstbestimmt ihr Leben gestalten können, wird niemand zurückdrehen können, das ist eine Errungenschaft, eine Freiheitserrungenschaft und die gehört auch zur modernen Gesellschaft. Wenn wir die moderne Gesellschaft diagnostizieren, gehört dies mit ins Bild.

Oder betrachten wir die Art, wie Jugendliche heute aufwachsen. Man kann viel Kritisches, Besorgniserregendes sagen. Aber man kann auch sagen, Jugendliche wachsen heute so auf, dass sie viele Möglichkeiten in ihrem Leben wahrnehmen können, die sie früher nicht hatten.

Jugendliche sind heute glücklicherweise nicht mehr auf breiter Ebene Opfer physischer oder psychischer Gewalt. Und wir reden heute gottseidank über diese Phänomene in der Vergangenheit und arbeiten sie auf.

Ehe im Wandel

Und was ist mit der Frage, wie wir eigentlich mit den Ehen, mit unseren Partnerschaftsbeziehungen umgehen? Wir reden zu Recht über das besorgniserregende Phänomen der Ehescheidung. Jede dieser Ehescheidungen ist etwas Schmerzhaftes, gibt einen Stich ins Herz und ist mit viel Leiden verbunden und ein Scheitern, das zwei Menschen miteinander erleben. Gleichzeitig ist auch klar, dass die moderne Ehe – von ihren Inhalten her – ganz andere Ansprüche hat, als es in früheren Zeiten der Fall war.

Die moderne Liebesehe ist etwas Neues. Dass Menschen sich von der Ehe etwas erwarten, was wirklich zwei Menschen in der Tiefe der Existenz zusammenbindet, was wirklich von Liebe geprägt ist, ist eine Errungenschaft der Moderne. Früher waren Ehen viel zweckorientierter.

Wenn man sich die Eheverträge aus dem 19. Jahrhundert einmal betrachtet, wie ökonomisiert das Phänomen Ehe zu dieser Zeit war, dann wird man alles andere als zurückwollen. Wir haben heute die Freiheit, Partnerinnen und Partner zu wählen und wir verbinden mit der Partnerwahl hohe Erwartungen und oft genug scheitern sie.

Vielleicht sind die Erwartungen auch zu hoch. Aber dass wir den anderen Menschen, denjenigen, mit dem wir ein ganzes Leben verbringen wollen, lieben, dass wir aus Freiheit diese Ehen eingehen, das ist eine Errungenschaft, kein Verlust.

Berufliche Freiheit

Dass wir heute unseren Beruf selbst wählen können, auch das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Aber noch vor fünfzig, vor siebzig Jahren war das in vielen Fällen nicht so. Da waren die Berufsbiografien vorgeprägt. Dass wir uns heute überlegen können, was unseren Talenten, Fähigkeiten und Neigungen am besten entspricht, ist ein Gewinn. Ein Gewinn der modernen Gesellschaft.

Auch die Kommunikationen kann man in diesem Zusammenhang nennen. Wir leiden heute in vielerlei Hinsicht fast schon unter der Explosion von Kommunikation. Aber dass heutzutage Menschen nicht mehr miteinander reden, oder alle vereinsamen, kann man in der Pauschalität ganz bestimmt nicht sagen.

Umgang mit Religion

Und schließlich: Wie gehen wir mit Religion um? Die Tatsache, dass sich Menschen frei über diese Fragen unterhalten können, ist kein Verlust, es ist ein Gewinn. Ich bin fest davon überzeugt, dass es viel besser ist, wenn wir als Kirchen Menschen aus Freiheit erreichen und nicht nur deswegen, weil der Vater oder die Mutter oder wer auch immer, sie schief ansehen, wenn sie andere Wege gehen.

Ich möchte, dass Menschen aus Freiheit religiös sind, dass sie aus Freiheit den christlichen Glauben als ihre Lebensgrundlage sehen.
Deswegen ist auch die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaftszahlen durchaus differenziert zu sehen. Man muss sich jedes Mal klar machen, wenn man über Austrittszahlen aus der Kirche liest, dass die Menschen die Möglichkeit des Austritts heute überhaupt erst haben, ohne z. B. gesellschaftlich geächtet zu sein.

  • Symmetrisch angeordnete Pfeiler im Wasser bei Sonnenuntergang.
  • Viele verwitterte Treppen führen nach oben.

Entscheidung für die Kirche

Die Tatsache, dass rund 45 Millionen Menschen in Deutschland sich aus Freiheit dafür entscheiden, in der Kirche zu sein, neu ihr beizutreten oder in ihr zu bleiben und manchmal auch recht viel Kirchensteuer zu zahlen, diese Tatsache ist das eigentlich bemerkenswerte Phänomen.

Dass es auch Menschen gibt, die aus der Kirche austreten, muss für uns Ansporn sein, zu zeigen, welche Ausstrahlungskraft der christliche Glaube hat, und warum es eine gute Entscheidung ist, der Kirche beizutreten, oder in ihr zu bleiben, in ihr zu leben. Aber es kann nicht dadurch verhindert werden, dass Religion oder Kirche wieder zur Pflicht wird.
Auch hier würde ich sagen: dass Menschen heute frei über ihre innersten Überzeugungen entscheiden können, ist ein Gewinn der modernen Gesellschaft.

Selbst wenn Werte in christlichem Verständnis etwas Dynamisches sind, weil sie als Teil einer lebendigen Gottesbeziehung zu verstehen sind, lassen sich auf der Basis des christlichen Glaubens doch auch klare Orientierungen geben.

Ich will das anhand von zehn Stichworten tun und werde diese Stichworte jeweils in den Kontext biblischer Schlüsselworte stellen. Sie haben aber nach meiner festen Überzeugung Bedeutung nicht nur für Menschen, die aus dem christlichen Glauben heraus leben, sondern für die Gesellschaft insgesamt.

Zehn Werte für unser Land

1. Dankbarkeit

Der gegenwärtig für unser Land vielleicht wichtigste Wert ist die Dankbarkeit. Die Dankbarkeit ist die Triebkraft für alle anderen Werte. Wer Gott als seinen Schöpfer bekennt, der kann nicht anders als dankbar sein. Deswegen sprechen wir in jedem Gottesdienst ein Dankgebet. Und vielleicht sagen wir am Morgen, wenn wir aufwachen mit Psalm 139,14: „Ich danke dir, Gott, dass ich wunderbar gemacht bin.“

Wer weiß, dass er das, was er hat und was er ist, nicht sich selber verdankt, sondern es als Geschenk aus Gottes Hand nimmt, der geht anders mit der Welt um. Die zentrale Bedeutung der Dankbarkeit ist für alle Menschen einsehbar. Denn wer einigermaßen ehrlich mit sich selbst umgeht, weiß, dass er das Wesentliche im Leben nicht sich selbst verdankt. Wir haben uns alle miteinander nicht selbst geboren, sondern wird sind durch unsere Mutter geboren worden! Wer das versteht, kommt auch an dem zweiten Wert nicht vorbei:

2. Nächstenliebe – Empathie

Weil wir wissen, dass das Wesentliche im Leben Geschenk ist, deswegen sind wir bereit, es mit anderen zu teilen. Das ist der tiefe Sinn des Doppelgebots der Liebe: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft und deinen Nächsten lieben, wie dich selbst, das ist das Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,37-39). Weil ich von Gott so viel geschenkt bekomme, deswegen gebe ich es auch an die anderen weiter.

Dass dieses Liebesgebot keine Geheimethik ist, sondern etwas, was alle Menschen verstehen können, zeigt sich an der engen Verbindung von Liebesgebot und der sogenannten „Goldene Regel“: „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“. Das ist das Gesetz und die Propheten (Mt. 7,12). Dies ist genau der Satz, der auch dem Liebesgebot folgt.

Die Goldene Regel ist eine Art Erläuterung der Plausibilität des Liebesgebots für alle Menschen. Denn dass wir andere genauso behandeln sollen wie wir auch behandelt werden wollen, kann wirklich jeder einsehen, der zu irgendeiner Form der Empathie in der Lage ist. Dass wir den andern in seiner Würde achten, ihm das gleiche Recht zubilligen, das wir uns selbst auch zubilligen, das ist ein Wert, der sich zutiefst christlichen Wurzeln verdankt, der aber für alle Menschen guten Willens einsehbar ist.

3. Sensibilität für die Schwachen

Liebesgebot und Goldene Regel stehen in engem inneren Zusammenhang zu dem, was wir „biblische Option für die Armen“ nennen. Unzählige Texte im Alten und Neuen Testament drücken sie aus.

Die Gebote zum Schutz der Schwachen werden begründet mit der Urerfahrung Israels, der Befreiung aus Ägypten: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, der dich aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat.“ Deswegen handle du an deinem Nächsten genauso wie ich an dir gehandelt habe. „Schützt die Fremden“, so heißt es an einer Stelle, „denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, denn ihr seid selbst Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“ (Ex 23,9).

Jeder Mensch kann den Sinn der besonderen Sensibilität gegenüber den Schwachen nachvollziehen. Ich weiß im Grunde ganz genau, dass es mir auch so gehen könnte und ich weiß, dass ich mir vom Anderen erhoffen würde, dass er so an mir handelt, wenn ich als Flüchtling in ein fremdes Land komme, die Sprache nicht spreche, Hunger habe, vielleicht mich selbst nicht mehr leiden kann.

Dann erhoffe ich mir auch, dass mich ein anderer Mensch nicht kalt abweist, sondern sich um mich kümmert. Aus dem Wissen um die eigene Verletzlichkeit kommt die Sensibilität für die Verletzlichkeit der anderen.

4. Genügsamkeit

Einer der dringlichsten Werte für unser Land ist Genügsamkeit. Dass es in der Bibel so viele Texte gibt, die vor der Sucht nach materiellem Wohlstand warnen, ist kein Zufall. Je mehr wir uns abhängig machen von materiellem Wohlstand, desto mehr tritt er in Konkurrenz zum Glauben an Gott: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“ (Mt 6,24-27).

Es hat wahrscheinlich keine Zeit seit der Entstehung des Christentums gegeben, in der diese Mahnung so lebensentscheidend gewesen ist wie heute. Ob wir sie hören, wird darüber entscheiden, ob zukünftige Generationen leben können.

Dass unser westliches Wohlstandsmodell verallgemeinbar für die ganze Welt ist, kann heute kein vernünftiger Mensch mehr behaupten. Die wissenschaftlichen Prognosen über die Zerstörung der Erde, die damit verbunden wäre, sind zu eindeutig. Trotzdem tun wir noch immer so, also können wir so weitermachen. Nur wenn wir es in den nächsten Jahrzehnten schaffen, umzusteuern und unseren Lebensstil wirklich zu verändern, werden die Konsequenzen für die Erde begrenzbar bleiben. Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, ob wir den Wert der Genügsamkeit neu zu entdecken lernen.

Dass weniger mehr sein kann, ist eine Einsicht, die die Tür öffnet von der Wegwerfgesellschaft hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, die den Charakter der Natur als Schöpfung Gottes wieder ernst nimmt.

5. Kritische Selbstdistanz

Wie wichtig der Wert der „kritischen Selbstdistanz“ ist, hat die christliche Tradition immer schon gewusst. Nichts anderes ist der Kern der christlichen Rede von der „Sünde“. Die Erkenntnis der eigenen Sünde hatte nie den Sinn gehabt, Menschen klein zu machen, sondern sie hatte immer den Sinn, die Tür zu einem neuen Leben zu öffnen und die Menschen damit letztlich groß zu machen: groß in einem erfüllten Leben im Frieden mit Gott. Dass Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung ist, sagt schon das Sprichwort.

Die Rede von der Sünde und die Praxis des Sündenbekenntnisses im Eingangsteil des Gottesdienstes geben dieser Erkenntnis eine existentielle Bedeutung. Sündenerkenntnis ist der erste Schritt in die Freiheit, weil er die Verdrängung der eigenen Fehler und der eigenen Begrenztheit beendet und fähig macht, sich zu erneuern.

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen? Und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst“ (Mt 7,4-5). Wie dringend bräuchte unser Land solche kritische Selbstdistanz! Wie heilsam wäre sie für unsere politische Kultur!

6. Vergebungsbereitschaft

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wer seine eigene Fehlbarkeit kennt, vergibt auch den anderen. Ob in unseren Ehen oder in anderen Beziehungen unter Menschen: Die Fähigkeit, anderen Menschen zu vergeben und gemeinsam mit ihnen neu anzufangen, gehört zu den wesentlichen Quellen der Erneuerung unseres sozialen Lebens. Das gilt in den persönlichen Beziehungen genauso wie in den Beziehungen zwischen Völkern.

Menschenmasse, nur eine Frau ist scharf zu sehen.

7. Bescheidenheit/Demut

Wer um seine eigenen Grenzen weiß, der steigt herab vom hohen Ross. Bescheidenheit wird gerne gepredigt. In der Regel aber den anderen. Demut ist jahrhundertelang den Sklaven von ihren Herren gepredigt worden. Demut ist jahrhundertelang den Frauen von den Männern gepredigt worden. Diese Predigt war eine vergiftete Predigt, denn sie diente in Wirklichkeit zur Legitimierung von Macht.

Wer von Demut und Bescheidenheit redet, muss bei sich selbst anfangen. Demut ist ein Wert, der zuallererst für die gilt, die Macht haben. Bescheidenheit ist ein Wert, der zuallererst für die gilt, die mit Wohlstand gesegnet sind.

8. Toleranz

Toleranz ist ein Wert, der in unserer pluralistischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wer nicht alten Zeiten nachtrauert, in denen unser Land eine vermeintlich homogene weltanschauliche Grundlage hatte – in Wirklichkeit hat es diese Zeiten nie gegeben – der wird den Wert der Toleranz heute nicht hoch genug einschätzen können.

Toleranz darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Sie impliziert ein klares Bewusstsein der Differenz. Toleranz muss nur etwas gegenüber geübt werden, was nicht den eigenen Neigungen entspricht. Toleranz – etwa gegenüber anderen Religionen – ergibt sich aus dem Kern der Goldenen Regel: Weil ich selbst weiß, wie wichtig mir die Möglichkeit ist, meine eigene Religion zu leben, deswegen billige ich das gleiche Recht auch den anderen zu.

9. Treue und Verbindlichkeit

Unsere schnelllebige Zeit neigt dazu, Verpflichtungen nur noch kurzfristig anzulegen. Mobilität und Flexibilität sind fast so etwas wie Zauberworte unserer Zeit. Wer etwa aus Rücksicht auf seine Familie Jobangebote ausschlägt, muss damit rechnen, dass er berufliche Nachteile hinzunehmen hat.

Und auch von Hartz IV-Empfängern verlangt der Staat solche Flexibilität. Dass Menschen ihre persönlichen sozialen Verpflichtungen gegenüber den Bedürfnissen der Unternehmen hintanstellen, erhöht den materiellen Wohlstand. Den Beziehungswohlstand erhöht es ganz bestimmt nicht.

Niemand muss sich wundern, wenn die Scheidungszahlen in die Höhe gehen, wenn Menschen die Verbindlichkeit im eigenen Beziehungsleben immer mehr den beruflichen Anforderungen unterordnen müssen. Gleichzeitig wissen wir alle ganz genau, wie entscheidend verlässliche Beziehungen für das Leben eines Menschen sind. Dass jemand bedingungslos Ja zu mir sagt, ist eine der wunderbarsten Erfahrungen, die Menschen machen können.

Deswegen ist die Ehe aus meiner Sicht nach wie vor ein Zukunftsmodell. Denn genau das ist ihr Kern. Dass Menschen nicht nur auf Zeit, sondern ein ganzes Leben lang Ja zueinander sagen. Für Christen spiegelt sich darin die Erfahrung des bedingungslosen Ja, die sie mit ihrem Gott machen. Lebensformen können sich ändern. Der Wert der Treue und Verbindlichkeit, an dem sie sich zu orientieren haben, bleibt.

10. Authentizität/Ehrlichkeit

Alle Werte, die ich skizziert habe, münden in einen Gesichtspunkt, der für den Umgang mit allen diesen Werten leitend ist. Es nützt nichts, wenn man Wertekataloge vor sich herträgt und mit moralischen Appellen für sie wirbt. Werte müssen tatsächlich gelebt werden. Deswegen ist die „Authentizität“ von zentraler Bedeutung. Wir müssen ausstrahlen, wovon wir sprechen.

Genau darin liegt das Geheimnis der großen Ausstrahlung von Persönlichkeiten wie Dietrich Bonhoeffer. Die Menschen sehnen sich nach glaubwürdigen Vorbildern, die Werte nicht nur im Munde führen, sondern selbst leben. Davon geht die größte Veränderung aus. Dabei geht es nicht um Gesetzlichkeit. Ein Moralchampion werden zu wollen, ist nur eine versteckte Form der Selbstzentriertheit, die Luther mit seiner Rechtfertigungslehre zu Recht weggefegt hat.

Aber im Wissen um die eigene Fehlbarkeit und Begrenztheit und deswegen Vergebungsbedürftigkeit sich zu bemühen, glaubwürdig zu leben, das ist sehr wohl Teil einer christlichen Existenz. „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit“ hat Dietrich Bonhoeffer das einmal genannt.

Schlussgedanke

Ich glaube, dass Bonhoeffer damit etwas zum Ausdruck gebracht hat, was weit jenseits der Grenzen des christlichen Glaubens öffentliche Bedeutung hat. In nicht-religiöser Sprache können wir vielleicht sagen: es geht um ein bewusstes Leben. Es geht um ein bewusstes Leben in den gegebenen Grenzen, in der gegebenen Verantwortung und aus einer Kraft, die wir uns nicht selber geben können.

Ich weiß keinen besseren Horizont für ein solches Leben als den Horizont des christlichen Glaubens. Deswegen werbe ich dafür, die große Kraft der christlichen Tradition heute neu ins Bewusstsein zu bringen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es keine kraftvollere Perspektive für die Suche der modernen Menschen von heute nach einem erfüllten Leben gibt.

Fotos: Unsplash / Rodrigo Gonzalez, Randall Honold, Randy Jacob, Arnaud Mesureur

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