Vom Wert des Zuhörens

Können wir noch zuhören? Oder verlangt eine immer schneller werdende Welt, dass wir nur dem, was uns wichtig erscheint, folgen? In seinen Überlegungen macht Hans Christian Meiser deutlich, dass Zuhören weit mehr ist als eine Tugend.

Text Hans Christian Meiser

Portrait in Schwarz-Weiß von Hans Christian Meiser

Dr. Hans Christian Meiser ist Philosoph und Publizist, zudem Herausgeber und Chef­redakteur von PURPOSE, dem Magazin für Sinn­haftigkeit. Dieses Thema zieht sich durch sein gesamtes Werk.

Das Zuhören ist Bestandteil des menschlichen Werdegangs – sowohl kollektiv wie auch individuell. Entwicklungsgeschichtlich bedeutet dies, dass die Menschheit niemals an ihrem heutigen Standort angelangt wäre, hätte sie weggehört. Sie wäre nie das geworden, was sie heute – mit all ihren Schwächen – ist. Denn Evolution ist nur möglich, wenn wir zusehen und zuhören, und danach das so Erfahrene im je eigenen Leben umsetzen. Hier wird das Kollektive zum Persönlichen, zum Privaten.

Geben und Empfangen

Und wenn wir uns nun einige Szenen vorstellen, in denen zugehört wird, dann werden wir verstehen, warum das so ist.

Erstes Beispiel: Eine Karawane kommt in einer Oase an. Es wird Abend, man sitzt um das Feuer des Lagers und erzählt den Bewohnern von den Abenteuern der bestandenen Reise. Diese lauschen gespannt den Berichten – ganz wie Kinder es tun, wenn sie mit großen Augen und Ohren einer Geschichte zuhören.

Zweites Beispiel: Ein Baby hört, was die Mutter spricht. Und es blickt diese an als verstünde es genau den Sinn ihrer Worte. Es hört zu, nimmt wahr, es greift auf, was es akustisch erfassen kann.

Durch das Zuhören entsteht eine tiefe Bindung zwischen Menschen, die derjenigen, die durch Blicke in das Innere entstehen, sehr ähnlich ist. Beide Beispiele zeigen aber, dass das Zuhören ein Sprechen voraussetzt, und das Sprechen wiederum ein Zuhören erfordert. Das Zuhören verändert etwas im sprechenden Gegenüber. Das Wort, das es ausspricht, kehrt verwandelt zu ihm zurück, so dass es danach ein anderes ist. Die Kraft des Gebenden und die des Empfangenden werden eins.

Die sieben Tugenden

Platon unterscheidet vier Kardinaltugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit sowie Gerechtigkeit. In der christlichen Philosophie gibt es noch drei weitere: Glaube, Liebe und Hoffnung.“

Erstaunlicherweise haben alle diese Tugenden mit dem Zuhören zu tun.

Weisheit – kann man ohne Zuhören nicht erringen

Tapferkeit – derselben bedarf es beim Hören auf die innere Stimme

Besonnenheit – nur durch die Spiegelung des anderen vermag ich mich zu beherrschen

Gerechtigkeit – „audiatur et altera pars“ hieß es beim römischen Gericht – es möge auch der andere Teil gehört werden

Glaube – um zu glauben, muss ich vorher zugehört haben

Liebe – wenn ich meinem Gegenüber nicht zuhöre, kann ich es nicht lieben

Hoffnung – durch das Zuhören vermittle ich dem Sprechenden die Hoffnung, verstanden zu werden, also nicht umsonst zu reden, und bin gleichzeitig selbst voller Hoffnung, durch mein Handeln etwas Gutes zu bewirken.

  • Ein Junge schreit in ein Mikrofon.
  • Schriftzug "We hear you".

Zuhören und Zeit

Wie ist es, wenn einem niemand zuhört? Man spricht, hat etwas mit-zu-teilen, doch niemand hört einem zu? Und weshalb bedürfen gerade ältere Menschen guter Zuhörer? Nicht, weil sie etwas sagen wollen, nein, darum geht es in diesem Fall nicht, sondern um die Tatsache, dass sie verstanden, anerkannt, angenommen, geliebt werden wollen – dass man ihnen Zeit schenkt.

Anderen Menschen Zeit zu schenken bedeutet, ihnen einen Teil der eigenen Lebenszeit zukommen zu lassen. Genau an dieser Stelle macht es sich bemerkbar, dass die Tugend des Zuhörens sogar mehr als eine Tugend ist. Es ist ein freiwilliges Geschenk, dem anderen, dem, den ich nicht einmal kennen muss, zuzuhören, ihm mein Ohr zu leihen, ihm zu lauschen, ihm Gehör schenken, aufmerksam zu sein, an seinen Lippen zu hängen, ihn etwas sagen zu lassen, ihn zu verstehen.

Und letztlich ist er es, der mich zu meinem Reden überhaupt befähigt. Dadurch, dass wir einem anderen zuhören, wird in uns etwas ausgelöst, das nicht nur als Reaktion auf das Gehörte verstanden werden will, sondern das in seinem Urgrund Vernommenes ist, also etwas, das wir vom Gegenüber vernehmen.

Wenn wir einmal darüber nachdenken, wie oft wir dem anderen nicht zuhören, wie oft wir keine Zeit für seine Belange haben, weil uns scheinbar Wichtigeres beschäftigt, weil wir uns nicht dafür interessieren und wir schlichtweg weghören – dann wäre es sinnvoll, innezuhalten und darüber zu reflektieren, warum wir durch unser Handeln bzw. Nichthandeln dem Gegenüber zu verstehen geben wollen, dass unsere Befindlichkeit in diesem Moment wichtiger ist als seine.

Wir halten unsere „Dinge“ für bedeutender als sein Anliegen und verweigern uns, ihm zuzuhören, als würden wir fürchten, durch diesen Akt unsere Lebenszeit zu verkürzen.

Soziale (?) Medien

Noch nie hat eine Generation so intensiv kommuniziert wie die derjenigen, die heute zwischen 14 und 24 Jahre alt sind. Doch handelt es sich speziell bei den so genannten „sozialen“ Netzwerken wirklich um soziale Verbindungen? Ist es nicht eher so, dass sie einem Narzissmus der hier Agierenden dienen, und das „Gemeinsame“ (von dem das Wort kommunizieren – cum – miteinander – ja stammt) eher zum Solipsismus verkommt?

Facebook, Instagram & Co fordern ihre „User“ auf, zu „liken“ und zu „sharen“. Dieser Gedanke wäre an sich schön, dennoch ist er nicht absichtslos, sondern entstammt stets einem egoistischen Motiv, sei es, um zu einer Flashmob-Party einzuladen oder um eine Rebellion gegen die, die man nicht an der Macht sehen mag, anzuzetteln. Wir dürfen speziell wegen der so genannten Arabellion, wegen des arabischen Frühlings, nicht meinen, diese Form der Auflehnung würde sich nur gegen Unrechtsregime eignen, im Grunde kann sie auch jede Demokratie treffen, es kommt nur auf die Menge der „User“ an, der Angriff auf das amerikanische Herz der Demokratie, das Kapitol, zeigt dies in aller Deutlichkeit.

Drei Menschen sitzen in der Natur und unterhalten sich.

Auch der Sprechende schenkt Zeit

Es ist nun aber nicht nur so, dass wir beim Zuhören einem anderen unsere Lebenszeit schenken, nein, auch der Sprechende, der sich auswortet, schenkt uns die seine. Sprechen und Zuhören sind also zwei aufeinander bezogene und sich gegenseitig bedingende Handlungen. Die eine kann ohne die andere nicht sein. Wem soll ich zuhören, wenn keiner zu mir spricht? Und umgekehrt: Zu wem soll ich sprechen, wenn mir keiner zuhört? Das, was aber beiden gemeinsam ist, ist das Wort.

Zuhören erfordert Vertrauen

Wer diesem Wort zuhört, muss zunächst glauben. Glauben im Sinne eines existentiellen Schrittes, der zum inneren Sehen führt. Dieser Schritt ist leichter zu vollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass „sehen“ (videre) in tiefem Zusammenhang mit „glauben“ (sibi videri) steht. Damit ist der Weg in das „Sich-Einlassen“, in den Glauben (fides), in das Vertrauen (confiteri) geöffnet.

Es bedarf ebenso des Dankes, um dem Wort zu glauben. Denn „danken“ ist verwandt mit „denken“, denken aber bedarf der Vernunft, „Vernunft“ stammt von „vernehmen“ und das heißt „hören“.

Wie es ist nun möglich, wirklich zu hören? Indem man sich auf das Wort einlässt, es er-innert, von innen her beginnt zu hören; indem man durch das Wort hindurchhört und den, der sich preisgibt, den Geber des Wortes, sieht. Jedes Wort hat Wert.

Zuhören kann zum Frieden führen

Wer zuhört, kann das Vernommene reflektieren – und dann handeln. Der Mensch ist oft der Versuchung ausgesetzt, zuerst zu handeln und dann zu denken. Das liegt daran, dass er das Zuhören verlernt hat, was wiederum auf den Umstand des permanenten Überfordertseins, den das moderne Leben mit sich bringt, zurückzuführen ist.

  • Denn wie sähe eine Welt aus, in der jeder über genügend Zeit verfügt, dem anderen zuzuhören?
  • Gäbe es die vielen bewaffneten Konflikte und Bürgerkriege dann immer noch?
  • Müssten so viele Menschen an Burn out und anderen Zivilisationskrankheiten leiden?
  • Würden die Scheidungsraten steigen oder fallen?
  • Auf welchem Level befände sich dann das geistige Niveau der Menschen?
  • Auf welcher Kulturstufe wären sie angelangt?

Wir ahnen es schon: Die Tugend des Zuhörens allein schafft zwar noch keine besseren Menschen, aber sie kann bewirken, dass wir alle mehr Verständnis für andere und sogar für uns selbst aufbringen – was wiederum zum Frieden führen kann, zu dem es keine Alternative gibt.

Fotos: Unsplash / Antonio Giovanella, Priscilla Du Preez, Jason Rosewell, Annie Spratt, Jon Tyson

Sie möchten nichts mehr verpassen? Hier erhalten Sie spannende Nachrichten zu Finanzen und vielen weiteren Themen.