WERTVORSTELLUNGEN UND DER WERT DER WERTE – DIE FORTSETZUNG
Gibt es Werte, die für alle gleich sind? Wer entscheidet, welche Werte die richtigen für eine Gesellschaft sind? Und: Sind Werte nicht doch nur ein Instrument zur Machtentfaltung und -erhaltung? Gibt es das „sittlich Gute“ in Reinkultur? Hier ist der zweite Teil unserer Untersuchung über Werte und Wertvorstellungen, Wertschöpfung und Weltanschauung sowie über Grundwerte, die so aktuell sind wie nie. Die erste Folge über die Motive von Wertevorstellungen lesen Sie hier.
Text Hans Christian Meiser
Der Philosoph und Publizist Dr. Hans Christian Meiser schrieb für PURPOSE eine zweiteilige Untersuchung zum Thema Wertschöpfung, weil Werte und Wertewandel seit jeher das Manna aller Kulturen sind – und Leben retten können.
Sind Werte etwas allgemein Verbindliches – so wollten wir uns im zweiten Teil der Untersuchung über den Wert der Werte fragen. Lassen Sie uns dies am Beispiel der Toleranz tun. Toleranz ist heute ein Wert, der vor allem von Politikern und Kirchen eingefordert wird. Wenn wir uns näher damit beschäftigen, müssen wir feststellen, dass der Vorwurf „Du bist aber nicht tolerant“ darauf abzielt, denjenigen, der sich nicht konform verhält, als unmoralisch zu brandmarken. An diesem Beispiel können wir sehr gut erkennen: Werte können zwar per se sinnvoll und gut sein, aber sehr wohl auch dazu verwendet werden, Interessen durchzusetzen.
KINDERERZIEHUNG NACH KANT
Hier kommt das Gewissen des Menschen ins Spiel. Von Kindesbeinen an wird er erzogen, dass es sich lohne, bestimmten Werten zu folgen, bzw. dass es Strafen nach sich zöge, verhielte man sich nicht den Forderungen entsprechend. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, ist die kindgerechte Übersetzung des Kant’schen kategorischen Imperativs, der besagt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.“ Dieses Grundprinzip einer allgemeinen Ethik stellt eine Verbindlichkeit fest, die davon ausgeht, dass dieses Handeln das verkörpert, was für alle gut und richtig ist. Was aber, wenn es sich als für alle schlecht und falsch erweist?
ETHIK VON LUTHER UND HITLER
Die protestantische Kirche, die sich auf die „Zwei-Reiche-Lehre“ Luthers beruft, hat damit im 20. Jahrhundert ihre unschönen Erfahrungen gemacht. Da Luther lehrt, dass alle Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, wurde diese Lehre sowohl missverstanden als auch missbraucht. Letzteres von einem Despoten wie Hitler, der sich durch die göttliche Fügung als Auserwählter verstand; ersteres durch Kirchenobere, die sich durch Luther angehalten sahen, diese Obrigkeit zu akzeptieren und sich nicht gegen sie aufzulehnen – zumindest nicht lauthals und in der Öffentlichkeit. Sie setzten den stillen Protest, die heimliche Hilfe dagegen, wohl aus der durchaus ethischen Überlegungen heraus, dass ein öffentlicher Protest erstens nichts bewirken würden und zweitens für Tausende ebenfalls den sicheren Tod bedeute. Man befand sich zwischen Skylla und Charybdis.
Wir stellen fest, wie schwierig es ist, eine verbindliche Ethik zu schaffen, der alle freiwillig folgen wollen, weil sie den ihr innewohnenden Sinn eingesehen und akzeptiert haben.
SELBSTKONTROLLE, SELBSTBESCHRÄNKUNG, SELBSTBESTIMMUNG
Grundsätzlich aber müssen wir an dieser Stelle zwischen Moral und Ethik unterscheiden. Zunächst möchte ich einige Merkmale der Moral anführen: Sie basiert vor allem auf der Rechtfertigung der eigenen Interessen („Wo käme man denn da hin?“), ist zwanghaft, leitet sich aus anderem ab. Sie unterstützt herrschende Systeme, kennt Rechte und Pflichten, hat einen Maßstab, an dem sie sich orientiert (gut, besser…), lebt aus dem Imperativ („du sollst…“). Ihr grundlegendes Prinzip ist das von Belohnung und Bestrafung: „Wenn ich mich so und so verhalte, dann…“. Letztlich muss man sich der Moral unterwerfen, um ein reines Gewissen zu haben. Diese Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung führt zur Selbstbeschränkung des Willens.
ETHISCHES HANDELN IST OFT EGOISTISCH MOTIVIERT
Nun zur Ethik: Sie ist das um seiner selbst willen Getane. Um dies besser zu verstehen, sei ein Beispiel angebracht: Wenn ich einen Ertrinkenden rette, dann überlege ich mir vorher nicht, ob ich dafür eine Belohnung erhalten werde, sondern ich handle einfach, weil mir mein Gewissen sagt, dass es richtig sei, einem Menschen in Not zu helfen. Hier handle ich also ethisch richtig und wertvoll, freiwillig. Es gibt keine Bedingung für mein Handeln, das seinen Maßstab aus sich selbst heraus hat. Es existiert kein Imperativ, der sagt: Du sollst, sondern nur einen Indikativ: Ich tue. Und zwar ohne Grund. Letztlich ist ethisches Handeln altruistisch, moralisches sehr oft vom Egoismus geleitet.
DIE GRUNDLAGE DER 10 GEBOTE
Diese Unterscheidung vorzunehmen ist für das Kommende wichtig. Denn es geht uns ja darum, festzustellen, ob es tatsächlich so etwas wie eine allgemeinverbindliche Ethik gibt, an der sich alle Menschen orientieren können. Für die Christen gelten wie selbstverständlich die 10 Gebote, welche Moses laut Altem Testament einst am Berg Sinai direkt von Gott empfing. Sie sind nicht nur Grundlage des jüdischen und des christlichen Glaubens, sondern der abendländischen Kultur überhaupt. Letztlich wollen sie das Zusammenleben von Menschen regeln, damit diese durch die Verhaltensmaßnahmen eine Richtschnur erhalten, an der man sich beim Umgang mit anderen im Leben orientieren kann.
EIN MOTIV: DAS FÜNFTE GEBOT
Schauen wir uns ein einzelnes Gebot näher an, das Fünfte. „Du sollst nicht töten“, heißt es. Nun hat dieses Gebot nicht dazu beigetragen, dass der Mensch sein Morden deswegen aufgegeben habe. Untersuchungen zeigen, dass im Laufe der bisherigen Geschichte etwa 455.000.000 Millionen Menschen ihr Leben durch Kriege und bewaffnete Auseinandersetzungen verloren. In Kriegen gelten die 10 Gebote also eher nicht, auch wenn die verwerfliche Sitte des Waffensegnens mittlerweile abgeschafft worden ist.
Aber ist es tatsächlich das Fünfte Gebot, das den Menschen im Privaten davor abhält, seinen Nachbarn oder wen auch immer zu töten? Oder sind es die Gesetze, die er fürchtet, wenn er sich mit dem Gedanken trägt, eine solche Tat auszuführen? Ich behaupte, es ist – zumindest im Westen – eher das Fünfte Gebot, das ihn davor zurückhält. Denn im kirchlich-kulturellen Kontext ist es so sehr in unser Bewusstsein gerückt, dass wir – außer eben im Kriegsfall oder wenn man sich dem Verbrechen per se verschrieben hat – gar nicht anders können, als diesem Gebot zuzustimmen. Auch für Agnostiker und Atheisten gilt, was da gesagt wird, und sie werden es durchaus für richtig erachten.
WERTE DES TERRORISMUS
Was den internationalen Terrorismus anbelangt, so agiert dieser ebenfalls mit Werten. Terroristen greifen die Werte derer an, die ihnen verhasst sind. Da sie nicht über Massenvernichtungswaffen verfügten, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als den Lebensstil einer Gesellschaft oder deren Symbole zu attackieren. Die Betroffenen wehren sich natürlich, verschärfen Gesetze, jagen die Täter.
In beiden Fällen geht es um Werte, denn auch Terroristen haben welche. Oftmals scheint es sogar, dass ihre Werte stärker sind als diejenigen von denen, die bedrängt werden, und ob des Angriffs sich aufgerufen fühlen, ihre eigenen Werte zu verteidigen. Wir dürfen dabei nicht übersehen, dass es sich auf beiden Seiten tatsächlich um Werte handelt, oft sogar um dieselben, nur dass sie eben unterschiedlich interpretiert werden.
WERTEVERNICHTER SOCIAL MEDIA
Wenn Werte verteidigt werden müssen, also nicht per se von allen akzeptiert werden, ist der Konflikt vorprogrammiert – und leider müssen wir in Europa und der restlichen Welt (mit Ausnahme einiger Länder) eine zunehmende Brutalisierung mit dem damit verbundenen Wertekampf konstatieren. Die sozialen Medien wurden eigentlich freudig begrüßt, da sie auch angetreten waren, um alte Vorurteile abzubauen.
Doch sie erweisen sich heute nicht mehr als Instrument, dass die Grenzen zwischen Menschen und Staaten überwindet und im virtuellen Raum ein Paradies erschafft, im Gegenteil: Sie werden gezielt eingesetzt, um Grenzen zu errichten, um ganz konkrete Interessen im politischen Bereich durchzusetzen, um den Menschen zum gesichtslosen Wesen verkommen zu lassen, das seine Individualität aufgeben hat (Anm.: Individuum kommt vom lateinischen „individuus“, was unteilbar bedeutetet). Soziale Medien sind also zu Wertevernichtern verkommen.
DIE TUGENDEN DER WELTRELIGIONEN
Wenn wir es mit den Werten schon so schwer haben, wie sieht es dann mit den Tugenden aus? Auch wenn das Wort Tugend sehr altmodisch klingt, scheint es doch über eine gewisse Magie zu verfügen. Interessant ist hierbei der transkulturelle Vergleich.
Im abendländischen (griechisch-römischen) Kontext gelten Weisheit, Mäßigung, Tapferkeit und Gerechtigkeit als Kardinaltugenden, im buddhistischen Umfeld sind es Rechte Achtsamkeit, Rechtes Bemühen, Rechtes Denken, Rechtes Handeln, Rechte Konzentration, Rechter Lebenserwerb, Rechte Rede, Rechtes Verstehen.
Im Hinduismus finden wir 10 Tugenden: Buße, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit, Gewaltlosigkeit, Gotteshingabe, Mäßigung, Nicht-Stehlen (diese Tugend gibt es übrigens auch im Buddhismus, weshalb Prostitution dort als weniger verwerflich angesehen wird, da es „besser“ ist, sich zu prostituieren, als zu stehlen), Reflexion, Reinheit, Wahrhaftigkeit.
Im Islam gelten folgende Werte/Tugenden: Ausdauer, Barmherzigkeit, Beratung, Beständigkeit, Dankbarkeit, Demut, Disziplin, Ehrlichkeit, Einigkeit, Frieden, Frömmigkeit, Geduld, Genügsamkeit, Gerechtigkeit, Gleichgewicht, Gleichwertigkeit, Güte, gute Rede, Hoffnung, Höflichkeit, Loyalität, Mäßigung, Mitgefühl, Mut, Rechtschaffenheit, Rechenschaftspflicht, Respekt, Reue, Selbstbeherrschung, Sittsamkeit, Toleranz, Transparenz, Verantwortung, Vergebung, Vertrauenswürdigkeit, Weisheit, Wissen, Würde, Zufriedenheit.
Und natürlich gibt es auch im Judentum so genannte Mizwot, d. h. Pflichten, die sich in 365 Verbote und 248 Gebote aufteilen. Aufgrund der hohen Zahl kann ich sie hier nicht einzeln anführen. Es handelt sich aber dabei um Anweisungen für eine Lebensführung voller Klugheit, ob es sich um das Verteilen von Almosen oder um die Ehrung von Vater und Mutter handelt.
GRUNDWERTE DES SITTLICHEN NACH DREWERMANN
Wir stellen fest: Letztlich geht es bei Werten oder Tugenden, ganz gleich, aus welchem Kulturkreis sie stammen, immer darum, den Menschen zu einer sittlichen Haltung anzuleiten; denn offenbar bedarf dieser genau einer solchen Anweisung, um anderen und sich selbst nicht zu schaden.
In seiner Schrift „Grundprinzip des Sittlichen“ schreibt der Arzt, Philosoph und Theologe Albert Schweitzer, der 1952 den Friedensnobelpreis erhielt: „Gut ist: Leben erhalten, Leben fördern; böse ist: Leben schädigen, entwickeltes Leben niederhalten.“ Eine einfache und klare Formel, die sowohl das Moralische als auch das Ethische beinhaltet.
Und der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann sagte in dem Film „Im Schatten der Finsternis – Bilder vom Bösen“, den ich 1996 für den deutsch-französischen Sender arte drehte: „Je stärker wir beeindruckt sind von den Unheimlichkeiten der menschlichen Seele und des menschlichen Handelns, desto mehr wird sich die Stimme unserer Angst erheben und förmlich nach dem Büttel, nach dem Gesetz, nach der Strafe rufen. Irgendetwas muss zu unserem Schutz geschehen, irgendetwas muss passieren, um die Gerechtigkeit zu wahren. Normen, so bringt man uns in der Sozialpsychologie bei, sind so viel wert, wie auf ihre Übertretung an Strafen ausgesprochen und durchgesetzt wird.
HUNGER MACHT BÖSE
Die Wahrheit ist, dass wir niemals einem Menschen wirklich helfen können, außer wir riskieren es, sogar gegen das Verbrechen das Verstehen zu setzen und sogar gegen die Gewalt die Güte. Solange wir dabei bleiben zu sagen, dieser und jener in der menschlichen Geschichte, solange wir den Zeigefinger ausstrecken und richten und urteilen, solange reißen wir die Gräben zwischen Mensch und Mensch nur immer weiter auf.
Wenn Sie sich umschauen, wann ein Mensch an ihrer Seite wirklich in Not ist oder war, was ihm dann hat helfen können, dann wird es einzig die ausgestreckte Hand gewesen sein, nie die Peitsche, nie die Handschelle, nie der Galgen. Was den Menschen böse macht, ist einzig sein Hunger. Und am allermeisten sein Hunger nach Liebe.“
DIE RETTUNG DES NÄCHSTEN
Es ist genau diese Hilfe, die eben nicht moralisch, sondern ethisch begründet ist. Im Beispiel mit dem Ertrinkenden, den ich rette, ohne über die Belohnung dafür nachzudenken, ist dieser Gedanke des um seiner selbst willen getanen Guten schon angeklungen.
Ich möchte ihn nunmehr vertiefen und Sie etwas fragen: Nehmen wir an, Ihre Mutter oder Ihr Vater und Ihre Frau oder Ihr Mann werden von den Fluten eines reißenden Stromes weggespült. Sie haben aber nur die Möglichkeit, einen der beiden zu retten. Wem würden sie helfen? Ich habe lange über eine Antwort nachgedacht. Zunächst erschien es mir einleuchtend, seine Frau oder seinen Mann zu retten, da die Eltern ja ihre biologische Aufgabe schon erfüllt haben. Dann aber kamen mir Skrupel: Eltern hat man nur einmal, also muss man sie retten, da es Frauen oder Männer als mögliche Partner ja noch genügend auf der Welt gibt, auch wenn die gegenwärtige Beziehung natürlich etwas Einzigartiges ist.
Ich befand mich in einem Konflikt. Für beide Möglichkeiten gab es gute Argumente. Wie sollte ich mich also richtig verhalten, und zwar nicht dem Gesetz oder einer göttlichen Autorität gegenüber, sondern mir ganz allein, meinem Gewissen verpflichtet?
WER IST DER NÄCHSTE?
Je mehr ich nachdachte, umso verwirrter wurde ich. Ethik? Moral? Gewissen? Gut? Böse? Richtig? Falsch? Eine klassische Zwickmühle, eine Aporie, eine Sackgasse des Denkens. Gab es eine Lösung für dieses Problem? Ich ging zu einem Fluss, starrte auf das sanft dahinfließende Wasser und stellte mir vor, wie die Situation bei Hochwasser wäre und ich tatsächlich zum Retter werden würde. Wen würde ich versuchen aus den Fluten zu ziehen? Vater/Mutter oder Mann/Frau? Es dauerte eine Zeitlang, aber mit einem Mal hatte ich die Antwort: Ich würde den retten, der mir am nächsten war!
Jetzt werden Sie sagen: Was ist denn mit am nächsten gemeint? Geht es hier um die räumliche Distanz, den Verwandtschaftsgrad oder die seelische Beziehung? Und genau dann, wenn auch Sie sich diese Frage gestellt haben, haben Sie den Schritt vom moralischen zum ethischen Handeln vollzogen. Sie trennen die Theorie von der Praxis und handeln nach dem Motto „Die Mittel heiligen den Zweck“ (bei der Moral hingegen heißt es: Der Zweck heiligt die Mittel“). Und mit Sicherheit werden Sie die richtige Person retten. Was aber gleichzeitig heißt, dass sie die andere nicht retten können und mit dieser Last leben werden müssen.
BLEIBENDE WERTE
Zurück zur theoretischen Überlegung unserer Fragestellung: Auch wenn nichts bleibt, wie es ist, so gibt es doch bleibende Werte, die keiner äußeren Begründung bedürfen. Ihr Maßstab liegt in ihnen selbst, und sie zwingen mich zum Handeln. Solange dieser Maßstab nicht mit der Aussicht auf z.B. materiellen Erfolg vermengt ist, ist das Tun an-archisch. Das bedeutet, dass es nicht von einer höheren Macht kontrolliert wird. Dies geschieht erst dann, wenn sich die Hoffnung auf Erfolg einschleicht, was gerne zu einem Verhalten führt, das von der ursprünglichen Ehrlichkeit abweicht.
Da wir den Wertewandel meist als negativ erleben, weil unser gesichertes Dasein aus dem Lot gerät, wollen wir verständlicherweise nichts lieber, als am Althergebrachten festhalten. Gleichzeitig ist aber allem immanent, dass nichts so bleibt, wie es ist, wie wir oben schon festgestellt haben. Veränderung ist die einzige Konstante, die es gibt. Auch Werte müssen sich anpassen, können aber in ihrem Kern gleichbleiben. Wir sind also in einem ständigen Hin und Her von Starrheit und Flexibilität gefangen und müssen uns, um überleben zu können, irgendwie mit den Werten arrangieren.
DIE ENTSCHEIDUNG FÜR WERTE
Unser Leben gleicht einem Slalomlauf, was uns wiederum von den Vertretern der herrschenden Meinung, von jenen also, die eine Deutungshoheit auch über die Werte zu haben glauben, zum Vorwurf gemacht wird. Wir dürfen einerseits nichts Neues kreieren, weil wir sonst das Alte demontieren, andererseits sieht man uns in der Pflicht, Neues zu gestalten, damit keine Starre eintritt. Wie entkommt man diesem Dilemma?
Nur indem wir uns entscheiden. Gerade wegen der Vielzahl der existierenden Werte sind wir aufgerufen, Farbe zu bekennen. Wir müssen uns festlegen, zu welchen Werten wir stehen und nach welchen wir unser Leben gestalten wollen. Die Entscheidung für Werte hilft, sich nicht länger einem Selbstbetrug hinzugeben und sich weiterhin der Täuschung auszuliefern; sie trägt dazu bei, Klarheit in das eigene Leben zu bringen, und ohne schlechtes Gewissen oder tägliche Furcht und Frustration die Fülle des Daseins (wieder) zu entdecken und zu feiern.
Wollen wir rückwärtsgewandt leben oder sehen wir uns nach Zukunft? Die Zukunft ist jetzt! Die Vergangenheit ist jetzt! Die Gegenwart ist jetzt! Was hindert uns noch, zu uns selbst durchzubrechen und unsere Seele zu sanieren? Die Werte warten – auf uns…
WERTE HABEN WERT
Übrigens: Dass es überhaupt Werte gibt, zeigt, dass der Mensch bereit ist, sich einer „höheren Idee“ zu unterwerfen, um sein Zusammenleben mit anderen positiv zu gestalten. Daraus kann man auch ableiten, dass er letztlich doch von Natur aus gut ist, und nicht von Natur aus schlecht. Dass sich der Mensch Werte geben kann, und ihnen freiwillig folgt, ist genauso wichtig, wie die Tatsache, dass er auch das aus sich selbst heraus getane Gute zu unternehmen weiß.
Vielleicht ist dies der schönste und schrecklichste Aspekt eines jeden Wertes zugleich: dass er überhaupt einmal Einzug in das Menschenleben gefunden hat. Denn ohne falsches Verhalten hätte es seiner ja ursprünglich gar nicht bedurft. Aber schon deshalb ist es irgendwie beruhigend, dass er existiert. Egal also, wie die einzelnen Werte heißen, ganz gleich, in welcher Kultur sie aufgestellt oder von welcher Religion sie implementiert wurden – der höchste Wert besteht darin, dass es überhaupt Werte gibt. Deshalb haben Werte Wert.
WERTE KÖNNEN LEBEN RETTEN, ABER AUCH TÖTEN
Und wenn eines (fernen?) Tages religiöse Würdenträger ihre Symbole nicht mehr verbergen müssen, sondern geeint präsentieren, und damit ausdrücken, dass sie und uns alle der Wert der Werte verbindet, dann dürfen wir getrost hoffen, dass unsere Zukunft nicht am Kampf der Werte zerbricht. Werte sollten also das fördern, was eint, und das zu heilen versuchen, was trennt. Das Schicksal der Welt hängt zwar auch von der Entwicklung des Klimas ab, aber offenbar mehr noch vom gegenseitigen Verständnis oder eben Unverständnis.
Werte helfen, Werte trösten, Werte verunsichern, Werte können töten, Werte retten Leben. Wir selbst entscheiden, welchen Wert Werte für uns haben. Und: welchen Werten wir folgen. Aber dass wir uns überhaupt entscheiden können, ist wiederum ein Wert, der unverzichtbar ist.
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