Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig.

Wie werden wir zusammen leben?

Und wer sind „wir“ überhaupt? Fragen wie diese versuchen Architekten auf der Architekturbiennale in Venedig zu beantworten, mit neuen Materialien, nachhaltigen Visionen, Fluchtplänen – und noch mehr Fragen.

Text Karen Cop

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Hashim Sarkis.

Prof. Dr. Hashim Sarkis, geb. 1964 in Beirut, ist Architekt, Autor und Chef-Kurator der Architekturbiennale 2021. Er studierte in Harvard und ist heute Dekan am MIT. 1998 gründete er Hashim Sarkis Studios (HSS) in Boston und Beirut.

Die Touristenströme wälzten sich im Sommer wie eh und je von San Marco zur Rialtobrücke, vorbei an den Plakaten der diesjährigen Architekturbiennale, die in großen Lettern die Frage stellt: „How we will live together?“

Sie wirkt in der Lagunenstadt noch brisanter als anderswo, vom Untergang bedroht und von Besuchern aus aller Welt schon halbtotgeliebt wie sie ist. Jetzt erst, seit kurzem, müssen die Kreuzfahrtschiffe dem historischen Zentrum fernbleiben, aber sonst? Was ist übrig geblieben von der für die Stadt erholsamen Lockdownzeit, als die Venezianer ihre Stadt endlich einmal für sich hatten und sie sich erholen durfte: Das Wasser in den Kanälen war wieder klar.

Was hat sich überhaupt geändert für unsere Lebensräume durch die Erfahrungen der Pandemie: Homeoffice, Isolation, Sehnsucht nach mehr Grün, klimaneutralen Gebäuden, menschlichem Zusammensein, ohne dabei krank zu werden an Leib und/oder Seele. Die Architekturbiennale war schon für 2020 geplant worden, mit der gleichen Frage. Sie stellt sich nun, ein Jahr später, umso drängender: Wie können wir in Zukunft zusammenleben, ohne unseren Planeten dabei zu Tode zu rocken?

Flyer der Architekturbiennale 2021.

Der neue räumliche Vertrag

Chef-Kurator Hashim Sarkis, Professor und Dekan der School of Architecture and Planning am Massachusetts Institute of Technology, hat die Zukunftsfragen unserer Zeit, so global, grundsätzlich und politisch sie sind, explizit nicht an Politiker gestellt, sondern Architekten aus aller Welt. Denn SIE sind die Gestalter der „Megacity“, zu der wir irgendwann zusammenwachsen, solange wir immer mehr werden.

Sarkis: „Wir fragen Architekten, weil wir mit den Antworten aus der Politik nicht glücklich sind. Wir fragen Architekten, weil wir glauben, dass sie die Fähigkeit haben, inspirierendere Antworten zu geben.“ Sie schaffen uns die Räume und Plätze, in oder auf denen wir leben.

Und außerdem sei die Frage für Architekten wie ihn uralt: „Die Babylonier stellten sie, als sie ihren Turm bauten. Aristoteles stellte sie, als er über Politik schrieb. Seine Antwort war „die Stadt“. Die Französische und die Amerikanische Revolution stellten sie. Timmy Thomas hat sie in seinem Lied „Why Can’t We Live Together?“ gestellt.“ Jetzt bräuchten wir einen „new spatial contract“, nicht bloß neues Design von bekannten Star-Architekten.

Sarkis hat deshalb seine Einladung an die 112 Teilnehmer aus 46 Ländern mit Fragen nach der Weltgerechtigkeit versehen: nach dem „Wir“ der Menschen in ihrer Diversität sowie ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, aber auch den anderen Lebewesen auf unserer Erde, den Tieren und Pflanzen, bis hin zu Mikroorganismen. Ja, jede Stadt hat ein ganz eigenes Mikrobiom, wie New Yorker Forscher mit Untersuchungen in 60 Städten zeigten.

Architekturen für das „Wir“ müssen in Zukunft also weit über die Anforderungen einer zusammenlebenden Kleinfamilie oder immer öfter allein wohnenden Individuen hinausgehen. Doch wie kann dieser, unser Planet aussehen, der den Bedürfnissen aller Lebewesen in Zukunft entspricht?

Der deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale.

Radikal klimafreundlich: Der Deutsche Pavillon

Der öffentliche Diskurs war trotz aller Dringlichkeit und pandemisch bedingter, hautnah erlebten Notwendigkeit (als wir mehrheitlich beengt Zuhause saßen), erstaunlich leise während der vergangenen Ausstellungsmonate. An den Länderpavillons in den Giardini und den großen Ausstellungsräumen in Arsenale, einer ehemaligen Schiffswerft, den beiden traditionellen Hauptschauplätzen der Biennale di Venezia, flossen die großen Besucherströme vorbei.

Für den Besuch des Deutschen Pavillons muss allerdings auch im deutlich Touristen-ärmeren November keiner nach Venedig reisen. Man kann klimaschonend auf dem heimischen Sofa den Laptop aufklappen, denn dieser Biennale-Pavillon ist vollkommen leer, nur ein QR-Code prangt an der Wand.

Arno Brandlhuber, Olaf Gawert, Nikolaus Hirsch und Christopher Roth fordern die Betrachter auf, ihnen virtuell zu folgen, in die Rolle eines Avatars zu schlüpfen und in die fiktive Zukunft im Jahr 2038 zu schauen – wenn das Welthungerproblem gelöst ist und die Menschheit im Einklang mit der Natur sowie künstlicher Intelligenz lebt.

Hier geht’s lang zum Cloud-Pavillon voller Akteure, Umsturzgedanken und Vorschläge für unsere Zukunft, in den bis zum Ende der Architekturbiennale immer mehr Beiträge hinzukommen, von denen einige mit durchaus praktikablen Vorschlägen versehen sind: https://2038.xyz/

Schnecke, Biene oder Posthuman?

Überhaupt zeigen sich z.B. in den Räumen in Arsenale öfter Posthumans oder Cyborgs, die wir ja mit Herzschrittmachern und künstlichen Prothesen teilweise schon sind. Nicht nur unsere Lebenswelt wird sich verändern, auch wir selbst werden es tun und andere Bedürfnisse entwickeln.

Werden wir unser Haus mit uns tragen, ein Tischstück umgeschnallt, für den Fall, das wir mit anderen zusammen essen oder arbeiten wollen? Oder lösen wir in unseren Lebensräumen das Innen und Außen auf bzw. gestalten es möglichst wandelbar, wie die Peruaner Alexia León und Lucho Marcial es mit ihrer Installation „Interwoven“ vorschlagen. Die Wände bestehen aus drehbaren Holzteilen, die nach Bedarf geöffnet oder geschlossen werden.

Oder wollen wir von Bienen lernen, die ja auch zu sehr vielen eng zusammen in einem Naturhaus leben? Die Niederländer haben veritable Honigbienen schonmal einen (kleinen) Pavillon bauen lassen. Selbstverständlich ist der nur als Denkanstoß mit Blick auf mehr Nachhaltigkeit und naturnahe Bauweisen gedacht, er zeigt vor allem natürliche Power und Schönheit.

Wie können wir natürliche Vorbilder wie diese mit unserem technischen Know How verbinden?

Ansicht des Maison Fibre.

Härter, aber leichter als Stahl

Eines der, wenn nicht DAS beeindruckendste Beispiel für das Suchen in der Natur, das Finden neuer ressourcenschonender Materialien und effizientes Bauen mithilfe modernster Robotik ist das „Maison Fibre“. Es wurde vom Team um den Stuttgarter Architekten und Forscher Prof. Achim Menges mit Niccolò Dambrosio in den Forschungspavillons des ICD Instituts für computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung und ITKE Instituts für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen der Uni Stuttgart entworfen.

Menges: „Unser Beitrag hinterfragt den vorherrschenden Ansatz materialintensiver Bauweisen, die eine Hauptursache für die vielfältigen ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer gebauten Umwelt sind, und ersetzt diese durch eine Architektur aus Fasern, die nur einen Bruchteil an Materialien verbraucht und vollkommen neue Möglichkeiten der Materialisierung bietet.“

Die mehrgeschossige Struktur besteht aus von Robotern gefertigten Bauteilen aus Glas-Carbon-Fasern, die zwar sehr filigran aussehen und beim Verarbeiten leicht zu biegen sind, aber stabiler sind als Stahl. Prof. Jan Knippers ergänzt: „Der Prozess ermöglicht die Fertigung vor Ort, ohne dass dabei Lärm oder Abfall in nennenswertem Umfang entstehen. Darüber hinaus ist das Gewicht der Faserstruktur um ein Vielfaches geringer als das Gewicht vergleichbarer Betonkonstruktionen. Dies wiederum erleichtert die Montage erheblich, da keine schweren Transportmittel, Gerüste oder Hebevorrichtungen notwendig sind.“

Die beiden und Ihr Team denken unterdessen schon weiter: an Fasern, die sich selbstständig erneuern und nachwachsen beispielsweise, wie Pflanzen.

Ausstellungsraum mit Bildern und Bildschirmen.

Das Digital Fabrication House denkt mit

Auch an der ETH Zürich, der technisch-naturwissenschaftlich universitären Hochschule in Zürich, wird wissenschaftlich geforscht wie die oszillierende Backsteinwand der Architekten Fabio Gramazio und Matthias Kohler beweist, die von Robotern schwungvoll gemauert wurde. Das NEST ist ein Forschungsgebäude in Zürich, in dem neue Technologien, Materialien und Systeme unter realen Bedingungen getestet, erforscht, weiterentwickelt und validiert werden.

Das DFAB HOUSE ist das weltweit erste Bauwerk, das nicht nur digital geplant, sondern mit Robotern und 3D-Druckern weitgehend digital gebaut wurde. (DFAB steht für Digital Fabrication) Es ist schalungsfrei vor Ort entstanden mit minimalem Abfall. Abwasser wird teilweise im Haus wieder aufbereitet. Und dank dem Einbau von Künstlicher Intelligenz kann es sich weiterentwickeln, also lernend den Bedürfnissen seiner Bewohner anpassen.

Aussenansicht des Stone Garden in Beirut.

Häuser mit Wurzeln

Aber was sind eigentlich deren Bedürfnisse? Der Stone Garden in Beirut von der in Paris lebenden libanesischen Architektin Lina Ghotmeh beispielsweise ist ein Haus, das an die von Bürgerkriegen gebeutelte Geschichte des Landes erinnert und sie in seinen Mauern spiegelt: rau, wie zerschossen sieht das Gebäude von außen aus.

Es erinnert bewusst an eine Ruine, eine schöne, auf der sich die Natur wieder gerne ausbreitet, Pflanzen verschiedenster Art in Nischen kriechen, ganz anders als bei den gläsernen Hochhäusern, die voll klimatisierten Energiefresser, aber natürlich ist es modern. „Archäologie der Zukunft“ nennt Lina Ghotmeh ihren architektonischen Ansatz, der Bauten ohne Bezug zum natürlichen Ort sowie seiner Vergangenheit unnötig findet. Sie möchte, dass ein Haus lebt und den Dialog sucht, damit es „sich verwurzeln“ kann und zeitlos wird.

Darstellung des Moon Village.

Leben auf dem Mond

Und was, wenn alle Visionen in der Zukunft platzen wie Seifenblasen, auch die neuen, künstlichen neuronalen Netzwerke reißen und unser Planet uns lieber abschütteln will oder untergeht wie dereinst wohl Venedig?

Die Architekturbiennale erinnert an die 60er-Jahre, als die Menschheit zum Mond aufbrach und visionäre Architekten der Zukunft und Allround-Genies wie Richard Buckminster Fuller, der an Wohnkugeln dachte. Auch Skidmore, Owings and Merrill LLP (SOM), eines der größten Architekturbüros der Welt, gab es damals schon.

1969 schrieb Owings: „Zivilisationen hinterlassen Spuren auf der Erde, an denen sie erkannt und beurteilt werden. Die Art ihrer Unsterblichkeit wird weitgehend daran gemessen, wie gut ihre Erbauer mit der Umwelt Frieden geschlossen haben.“

SOM hat 2015 ein Netto-Null-Energie-Schule in New York gebaut, arbeitet aber auch mit der Nasa am Moon-Village, einem Zuhause fern der Erde „Life beyond earth“.

Die 17. Architekturbiennale in Venedig
Bis 21. November 2021
in Giardini und Arsenale
Öffnungszeiten:
Di – So 10 – 18 Uhr
Letzter Einlass: 17:45 Uhr
Mo geschlossen

Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog mit zwei Bänden in Englisch und Italienisch (80 Euro)

Fotos: La Biennale di Venezia /Andrea Avezzù, Francesco Galli, Marco Zorzanello

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