„Matters of Activity" Naturbaustoffe

Die Zukunft der Naturbaustoffe

Baumaterial aus Zunderschwämmen? Geht. Der Berliner Exzellenzcluster „Matters of Activity“ untersucht die innere Aktivität natürlicher Materialien für innovative nachhaltige Strategien und Technologien. Ein großes Potenzial für Naturbaustoffe.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Den „Ferment Activity Club“
  • Pilzfäden als Baumaterial
  • Denkbare Kooperationen

Text Antoinette Schmelter-Kaiser

Wolfgang Schäffner

Wolfgang Schäffner ist Professor für Wissens- und Kulturgeschichte und Sprecher des Exzellenzclusters „Matters of Activity“ an der HU zu Berlin. Er war Direktor des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik und Inhaber des Walter-Gropius-Lehrstuhls in Buenos Aires.

Berlin Mitte, Sophienstrasse 22a, zweiter Hinterhof, zweiter Stock: Im loftähnlichen Zentrallabor des Exzellenzclusters „Matters of Activity“ verteilt sich beim Workshop „Ferment Activity Club“ eine bunt gemischte Gruppe rund um einen langen Holztisch. Zu ihr gehören u.a. eine Biotechnologin, ein Visual Artist, eine Architekturtheoretikerin, eine Chemikerin, eine Kulturwissenschaftlerin und eine Produktdesignerin.

Unter Anleitung von Maxime Le Calvé, der promovierter Sozialanthropologe und Theaterwissenschaftler ist, und der eingeladenen Food-Künstlerin Akko Roku wird erst gekochter Naturreis mit einer Schimmelpilzkultur namens Koji vermischt. Dann hält die amerikanische Soziologie-Professorin Hannah Landecker, die auch zu Biotechnologie und -wissenschaften forscht, einen Vortrag über Abhängigkeiten im Metabolismus. Als Beispiel schildert sie die Interaktion von Körperzellen, die sich beim Stoffwechsel in Darmschlingen sowohl abgrenzen als auch durchlässig sind.
Schließlich dürfen die Teilnehmer die Naturreis-Koji-Mischung mit gekochten Sojabohnen verkneten und in Gläser füllen, wo sie ein Jahr lang zu Miso-Paste reifen sollen.

Interdisziplinäre Konstellation

Dass Geistes- und Naturwissenschaftler mit unkonventionellen Ansätzen kooperieren und Theorie und Praxis eng verschränkt werden, ist bei Matters of Activity keine Ausnahme, sondern eine grundlegende Konstante. „Hier wird versucht, alles zusammenzubringen“, erklärt Maxime Le Calvé. Die interdisziplinäre Konstellation findet der Franzose „super aufregend“, denn sie lässt ihm im Rahmen einer Postdoc-Stelle viel Forschungs- und Gestaltungsfreiheit. Dazu gehört, sich auch für fachfremde Themen zu begeistern, mit anderen in Gespräch zu kommen, sich gegenseitig Fragen zu stellen, zu diskutieren und gemeinsame Projekte zu entwickeln.

Dieser Austausch hat Le Calvé außer zur Faszination für Fermentation auch zu der Beschäftigung mit bildbasierter Neurochirurgie und der visionären Idee zu einem Instrument gebracht, das „fühlt und schneidet“. Dieses hat er zusammen mit der Visual-Anthropologin Yoonha Kim und einem Team von Physikern, kreativen Programmierer und Ton-Künstlern als Teil der Ausstellung „Stretching Materialities“ mit Virtual Reality in einer Simulation nachvollziehbar gemacht. Denn ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit ist, Erkenntnisse in Kursen, neuen Präsentations-Formaten, Panels und Papers international zu kommunizieren.

  • Maxime Le Calvé
    Maxime Le Calvé

Fokus auf außergewöhnliche Fragen

Diese Aufgabe haben außer Maxime Le Calvé auch über zwei Dutzend anderer Doktoranden und Postdocs, die bei Matters of Activity mitwirken. „Ein Viertel davon stammt aus dem vorhergehenden, 2009 von mir initiierten Exzellenzcluster ‚Bild Wissen Gestaltung‘, andere konnten sich neu bewerben und wurden ausgewählt“, erklärt Prof. Wolfgang Schäffner. Als Kulturwissenschaftler ist er neben Prof. Horst Bredekamp (Kunst- und Bildgeschichte), Prof. Claudia Mareis (Design und Designforschung) und Prof. Peter Fratzl (Materialwissenschaft) einer der vier Sprecher und Leiter von Matters of Activity.

Hierzulande gibt es 57 Exzellenzcluster von 34 Universitäten, welche die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert, sieben davon in Berlin. „Sie alle adressieren wichtige Themen unserer Zeit, bearbeiten außergewöhnliche Fragen und forschen für die Gesellschaft von morgen. In unserem geht es um die innere Aktivität von Materialien, die als neue Quelle für innovative Strategien und Mechanismen und zur Entwicklung nachhaltigerer, energieeffizienterer Technologien entdeckt werden kann“, erläutert Prof. Schäffner.

Nutzung intelligenter Eigenschaften

Holz beispielsweise bindet nicht nur Kohlendioxid, sondern reagiert auch auf Feuchtigkeit und Wärme, ist also Baustein, Speicher, Sensor und Motor zugleich. Gezielt eingesetzt, werden diese intelligenten Eigenschaften schon dazu genutzt, dass sich u.a. Jalousien aus dem natürlichen Material schließen, wenn zu viel Licht und Hitze vorhanden sind, und sich öffnen, wenn beides weniger wird.

Mit Pilzfäden aus an Bäumen wachsenden Zunderschwämmen lässt sich Baumaterial in Ziegelform züchten.

Es macht Mörtel überflüssig, weil sich die einzelnen Elemente miteinander verbinden. Generell sind Mikroorganismen ein extrem schnell wachsendes Material, das zu 100 Prozent nachhaltig und vielseitig verwendbar ist; Biofilme können in jeder Form wachsen und mit ihrer Zellulose u.a. als Verpackungsmaterial dienen. Leichtbauten aus natürlichen Fasern ermöglichen weiche Strukturen, die mit geringem Materialaufwand ebenso nachgiebig wie stabil sind, sich dynamisch adaptieren und in Architektur, Design oder Ingenieurswesen eingesetzt werden können.

Cellulose im E.coli-Biofilm
Cellulose im E.coli-Biofilm

Alternativen zu passivierten Materialien

Mit all diesen Ideen, die in der Natur vorkommende Prinzipien aufgreifen, will Matters of Activity einen Gegenpol zu passivierten Materialien wie Stahl, Eisen, Beton oder Kunststoff aufzeigen. Im Zuge der Industrialisierung wurde deren Herstellung in den letzten 200 Jahren im großen Stil möglich und massenhaft vorangetrieben.

„Sie basiert auf der Idee, die Kontrolle über Materialien zu haben und sie zu formen, also gefügig machen zu können“, so Prof. Schäffner. „Dafür ist aber extrem viel Energie u.a. aus Erdöl nötig. Außerdem bleiben passivierte Materialien dauerhaft erhalten und sorgen in einem linearen Prozess für große Abfallmengen, die schwer oder nicht recycelbar sind. Mit dieser doppelten Problematik fährt unsere Gesellschaft an die Wand. Die modernen Techniken der Passivierung von Material sind für den erschöpfenden Verbrauch von Ressourcen und Energie verantwortlich.“

40 Disziplinen in sechs Projekten

Bei Matters of Activity untersuchen mehr als 40 Disziplinen in sechs Projekten systematisch Designstrategien für aktive Materialien und Strukturen, die sich spezifischen Anforderungen und Umgebungen anpassen. Mit elementaren Praktiken wie Weben, Filtern und Schneiden werden sie in ihrem Aufbau und in ihrer Funktionsweise betrachtet, analysiert und über mehrere Skalen hinweg mögliche Anwendungen entworfen, um „mit der Aktivität des Materials klug umzugehen“, so Prof. Schäffner.

Mit den Partnerinstitutionen von der Charité über die Freie Universität, der Hochschule für Technik und Wirtschaft, dem Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, dem Kunstgewerbemuseum und die Technischen Universität bis zur weißensee kunsthochschule in Berlin verbindet Matters of Activity ein dichtes Netzwerk. Über die Fülle der Ideen, Aktivitäten, Events, Auszeichnungen, Beteiligungen, Konferenzen und Publikationen informiert fortlaufend die Seite www.matters-of-activity.de.

Außerdem wird ein eigener Instagram-Kanal mit News bespielt (@mattersofactivity). Im Humboldt Labor, einer Ausstellungsfläche der Humboldt-Universität zu Berlin im neueröffneten Humboldt Forum, ist Matters of Activity mit Exponaten vertreten.

Kooperation mit agilen Start-ups

Die Gelder für Matters of Activity sind bis Ende 2025 bewilligt, im nächsten Jahr soll ein Antrag auf Verlängerung gestellt und der Schwerpunkt des Exzellenzclusters noch weiter zugespitzt werden. Für die Zukunft ist geplant, weitere Akteure mit ins Boot zu holen, um aus den entstandenen Ideen „attraktive Dinge zu machen, die man gerne benutzt“, so Prof. Schäffner.

Ihm schweben für Kooperationen eher „agile Start-ups“ als große Firmen vor, da die seiner Ansicht nach als „Dinosaurier“ in der Umsetzung zu zögerlich und langsam sind. Ideal fände er die Bundeshauptstadt Berlin als „Experimentierfeld“, um innovative, aktive Materialien auszutesten. Langfristig ist die „Erneuerung aller Artefakte“ das Ziel – ein ambitioniertes Vorhaben, das für ihn größte Dringlichkeit hat.

„Wir können nicht länger mit einer neuen Kultur des Materialen warten, die Auswirkungen der bisherigen sind alarmierend. Es gilt, kritische Materialsysteme zu überdenken und neue Strategien für das Leben auf einem geschädigten Planeten zu finden.“

Fotos: Matters of Activity, Lucius Fekonja, Michelle Mantel, Diego Serra & Regine Hengge

 

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