Sonne vor Felsformation

Liegen, leben und lieben: 100 Jahre Zauberberg

Woher kommt der Zauber, den Thomas Mann in seinem Weltroman „Der Zauberberg“ beschwört? Wollen wir dem Ursprung des Magischen auf den Grund gehen, müssen wir die wahre Vorgeschichte erzählen: von einer Liebe, die Berge versetzt.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Der Zauberberg
  • Willem Jan Holsboer
  • Beflügelnde Liebe

Text Daniela Holsboer

Schwarz-Weiß-Portrait von Dr. Daniela Otto.

Daniela Holsboer ist pro­mo­vierte Li­ter­atur­­wissen­schaft­lerin. Für ihren Debüt­roman tau­chte sie tief in ihre Fa­milien­geschich­te ein: Willem Jan Holsboer ist der Urgroß­vater ihres Mannes, der aus Liebe alles ris­kierte und die Schatz­alp auf dem Zau­ber­berg baute.

1924 veröffentlichte Thomas Mann den „Zauberberg“. Das Buch war ein weltweiter Erfolg. Das Werk steht an der Spitze der Weltliteratur und ist zugleich der Gipfel der Reiseliteratur. Dabei ist der Roman allem voran ein Gefühl: Lesen lässt er sich fast nur, wenn man selbst kränkelt, am besten im Winter. Nur so kann man sich in die spezielle Zauberberg-Stimmung einschwingen, das permanente Liegen nachleben und die sonderbare Trägheit, die alle Figuren ergreift, nachspüren.

Kaum denkbar, dass es in Davos einst völlig anders zuging, ja dass Davos der mondänste Kurort Europas war – ein Ort des Feierns und des Trubels, das Reiseziel der High Society mit entsprechend viel Party und Champagner. Liest man Thomas Mann, so findet man keine Spur derartiger „Gatsby-Vibes“. Doch sie waren da und sind eine eigene Geschichte wert – eine Geschichte, ohne die es Thomas Manns Erzählung niemals gegeben hätte.

Davos im SChnee

Hans Castorp auf Reisen

Denn blicken wir einmal hinein in den Zauberberg: Hans Castorp reist mit der Bahn an, um seinen lungenkranken Vetter in den Bergen zu besuchen. „Vom Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise“, heißt es da. Und weiter:

„Es ist eine Schmalspurbahn, die man nach längerem Herumstehen in windiger und weniger reizvoller Gegend besteigt, und in dem Augenblick, wo die kleine, aber offenbar ungewöhnlich zugkräftige Maschine sich in Bewegung setzt, beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint.“

„Allen Ernstes“, so steht es bei Mann, ginge es hinauf ins Hochgebirge. Thomas Mann schildert gleich zu Beginn des ersten Kapitels die Rhätische Bahn und getrost können wir behaupten: Ohne diese hätte sein Held den Schauplatz der Handlung nicht erreicht und die Handlung selbst hätte nicht beginnen können, mehr noch: Natürlich hätte der Autor selbst Davos ohne diese Bahn nicht erreicht und hätte keine Milieueindrücke sammeln können, die ihm recht sonderbar vorkamen. Kurz: ohne Bahn kein Zauberberg.

Ein Schwur aus Liebe

Wie aber diese Bahn entstand, das ist eine ganz besondere Liebesgeschichte. Die Geschichte einer Liebe, die Berge versetzt. Sie beginnt 1865 in London, wo sich der Niederländer Willem Jan Holsboer in die junge Engländerin Margaret Newell Jones verliebt. Der 31-jährige Holsboer hat da bereits ein erstes Leben hinter sich: Schon mit 14 Jahren fährt er zur See, wird Kapitän, erlebt den Goldrausch in Kalifornien, bis er sich entschließt, eine neue Karriere zu starten. Er beginnt in Amsterdam eine Lehre als Bankkaufmann und arbeitet sich auch hier schnell an die Spitze als Direktor einer Londoner Filiale – er ist ein Mann, der hoch hinauswill, das zeigt sich schnell.

Maggie, wie er sie nennt, ist seine große Liebe, das Eheglück wird indes schnell getrübt. Margaret erkrankt an Tuberkulose und die Ärzte geben ihr, wenn überhaupt, nur in Davos eine Chance zur Genesung. Willem Jan Holsboer überlegt nicht lange. Er bricht in London alle Zelte ab und reist 1867 mit seiner Frau in das noch unerschlossene Bergdorf, das bereits damals in Medizinerkreisen für seine heilsame Luft bekannt war. Die Anreise mit der Postkutsche ist jedoch derart beschwerlich, dass sich Willem Jan Holsboer schwört, eine Bahn zu bauen, falls seine Frau überlebt.

Dieser Schwur, von einem verzweifelten Liebenden ausgesprochen, ist der Anfang von etwas ganz Großem: Willem Jan Holsboer kann seine Frau zwar nicht retten, wird jedoch nicht ruhen, bis er das Geschworene erfüllt und fast scheint es, als würde ihn der Geist der Verstorbenen leiten und zu immer noch größeren Taten anspornen. Denn Willem Jan Holsboer wird nicht nur 1889 die Rhätische Bahn, die jährlich hunderttausende Gäste und viele Tonnen Gepäck nach Davos transportiert, begründen, sondern er baut und baut und baut und fast scheint es, er baut dem Himmel entgegen, zu seiner verstorbenen Frau.

Zug auf einer Brücke

Das Taj Mahal der Alpen

Willem Jan Holsboer erfindet Davos: Aus dem Bergdorf wird die höchstgelegene Stadt Europas und ein Magnet für die Reichen und Schönen. Sein Kurhaus wird legendär und zieht alle an, die wissen, was sich schickt. Man geht zu jener Zeit auf Kur nach Davos – und genießt bestes Entertainment. Es gibt Theater, Konzerte, eine Eisbahn und Flaniermeile. Man beobachtet und wird nur zu gerne gesehen. Willem Jan Holsboer initiiert auch die Schatzalp (die Eröffnung erlebte er nicht mehr, war jedoch für Planung und Durchführung verantwortlich), die das einzige Sanatorium ist, das im Zauberberg mehrmals namentlich erwähnt wird.

Die Schatzalp war in ihrer „splendid isolation“ das Maß aller Dinge, das höchstgelegene und luxuriöseste Sanatorium von ganz Davos.

Und es ist eine Art Taj Mahal der Alpen: Willem Jan Holsboer konnte und wollte Davos nach dem Tod Margarets nicht verlassen, ohne ihr ein Denkmal zu setzen. Mit der Schatzalp hat er es getan – und es ist anzunehmen, dass auch Thomas Mann beeindruckt und inspiriert von der Strahlkraft des Gebäudes war, das den Mythos Davos mitbegründete.

Berge im Abendlicht

Als Thomas Mann 1912 nach Davos kam, waren die „roaring times“, die Willem Jan Holsboer maßgeblich mitprägte, jedoch längst vorbei. Die disziplinierte Strenge und die radikale Liegekur, die im Zauberberg beschrieben werden, halten in den späten 1880er Jahren Einzug in Davos. Insbesondere dem Lungenfacharzt Dr. Karl Turban war es zu verdanken, dass das illustre Treiben ein Ende hatte und sich die Kranken weniger dem Vergnügen als vielmehr der Selbstkasteiung hingaben.

Umso schöner ist es, mit der Vorgeschichte eine andere Seite dieses Settings zu entdecken, das zu Recht einen festen Platz im Kanon der Weltliteratur hat. München leuchtete, schrieb einst Thomas Mann. Davos aber strahlte.

Fotos: Unsplash / Xavier von Erlach, Damian Markutt

Sie möchten nichts mehr verpassen? Hier erhalten Sie spannende Nachrichten zu Finanzen und vielen weiteren Themen.