Depressionen und psychische Erkrankungen

Depression – Der Seele verpflichtet

Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise und jetzt Krieg: Im kollektiven Bewusstsein manifestiert sich seit Jahren der Eindruck, die Welt stünde am Abgrund – mit fatalen Folgeschäden für unsere Psyche. Höchste Zeit, dass wir uns unserer Seele annehmen.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Psychische Erkrankungen in Zahlen
  • Stigmatisierung bei Depression
  • Bewusstseinsarbeit

Text Daniela Otto

Schwarz-Weiß-Portrait von Dr. Daniela Otto.

Dr. Daniela Otto ist Literaturwissenschaftlerin, Expertin für Digital Detox und Buchautorin zum Thema. Als Vorstand der Florian Holsboer Foundation setzt sie sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Mehr über mentale Gesundheit im Podcast „Alles nur im Kopf“.

Allein in Deutschland leiden jährlich ca. 27,8 Prozent der Bevölkerung zumindest zeitweise an psychischen Erkrankungen. Das sind 17,8 Millionen Menschen. Laut WHO hat die Depressionshäufigkeit während der Pandemie um 20 Prozent zugenommen. Angsterkrankungen sind um 40 Prozent gestiegen.

Die auf psychische Erkrankungen zurückzuführenden Fehltage steigen rasant an, seit 1997 haben sich diese mehr als verdreifacht. Auch die jungen Menschen sind betroffen: Seit 2007 sind amerikanische Jugendliche um 60 Prozent depressiver und suizidaler. 2019 litten 13 Prozent der amerikanischen Jugendlichen an Depressionen mit so schweren Folgen, dass sich immer mehr selbst verletzen oder sogar das Leben nehmen wollen.

BANALISIERUNG DES LEIDENS

Seien wir ehrlich: Psychische Erkrankungen gehen uns alle an. Jeder hat irgendwas – und wenn man selbst nichts hat, kennt man jemanden, der was hat. Aber kaum jemand spricht darüber. Uns fehlen die Worte, vor allem die richtigen. Psychische Erkrankungen wie Depressionen sind – obwohl so weit verbreitet – immer noch mit einem Stigma behaftet, oftmals werden sie auch trivialisiert. Depression? Reiß dich zusammen. Angst? Nicht so schlimm. Ach, und was macht schon das bisschen Onlinesucht?

Diese Banalisierung muss enden.

Wo aber kommen diese Unwissenheit und unsere Befangenheit her? Wenn wir eine kleine Zeitreise zu den Anfängen der Depressionsbehandlung machen, so wird uns auffallen, dass von dem alten Aberglauben immer noch viel übrig ist.

  • Aus Papier ausgeschnittener Kopf eines Menschen
  • Frau liegt antriebslos auf einem Bett

HISTORIE

Vor langer Zeit glaubte man, dass depressive Menschen von bösen Geistern befallen seien. Schuld an der traurigen Verstimmtheit waren damals Dämonen und ihre magischen Kräfte. In der Antike dachten die Menschen, ein Ungleichgewicht der Körpersäfte sei schuld. Das Wort Melancholie kommt aus dem Altgriechischen, von „melas“, schwarz und „chole“, die Galle – melancholisch waren nach dieser Theorie also jene Menschen, bei denen die schwarze Galle dominierte.

In allen Hochkulturen – von der babylonischen über die antike bis zur heutigen abendländischen – hat es für die Behandlung von Depressionen immer zwei methodische Ansätze gegeben: Die Gabe von Substanzen, die im Körper Vorgänge auslösen und dabei helfen sollen, psychische Leiden zu heilen. So mischte man in der Antike dem Wein „Nepenthes“, ein Arzneimittel gegen schlechte Befindlichkeiten, bei. Die schöne Helena hatte das vermeintliche Wundermittelchen erhalten, das in der Odyssee erwähnt wird und als Trank gegen Kummer munter zum Einsatz kam – und das eigentlich Opium war.
Außerdem gab es Beschwörungsrituale durch Magier und Schamanen, um die „Besessenen“ von ihrem „Irrsinn“ zu befreien. Erst im Zuge der Aufklärung änderte sich die Einstellung gegenüber psychisch Kranken und ein menschenwürdiger Umgang setzte sich durch.

AUFKLÄRUNG TUT NOT

Und heute? Aus Opium wurden Antidepressiva, aus Beschwörungsritualen wurde die Psychotherapie. Dennoch ist das gesellschaftliche Wissen darüber, dass Depression in unserem Gehirn entsteht – und das Gehirn ein Organ wie jedes andere auch, zum Beispiel Herz oder Lunge, ist – immer noch nicht weit genug verbreitet. Was wir daher dringend brauchen: Aufklärung. Erneut.

Unterschätzte Krankheit Depression

DEPRESSION IST EINE UNTERSCHÄTZTE KRANKHEIT

Wir leben, wie bereits erwähnt, in krisenhaften und aufgeheizten Zeiten. Der gegenwärtige Trend zur gesellschaftlichen Polarisierung darf Menschen mit Depression, hierzulande immerhin im Jahr 6 Prozent der Bevölkerung, nicht durch Stigmatisierung ausgrenzen. In Deutschland erkranken jährlich etwa 4 Millionen an einer so schweren Depression, dass sie behandelt werden müssten. Es gibt es pro Tag 27 Suizidfälle, d. h. fast jede Stunde nimmt sich in Deutschland zumeist wegen einer Depression das Leben.

Die Depression ist eine weitverbreitete Krankheit, die überall auf der Welt jeden treffen kann.

Es ist nicht übertrieben, wenn wir annehmen, dass derzeit weltweit 350 bis 400 Millionen Menschen an Depression erkrankt sind und hiervon fast 1 Million pro Jahr durch Suizid sterben müssen. Die Depression ist also eine potenziell tödliche Krankheit.

ANGST VOR STIGMATISIERUNG

Es ist die Angst vor Stigmatisierung, die viele Menschen davon abhält, sich einzugestehen, erkrankt zu sein und sich Hilfe zu holen. Die Folgen sind großes Leid durch Chronifizierung, Berufsunfähigkeit und Frühverrentung. Die Depression zählt weltweit zu den häufigsten und hinsichtlich der Belastung für die Betroffenen, aber auch für die Wirtschaft, zu den besonders massiv unterschätzten Krankheiten.

Was also können wir tun? Bewusstseinsarbeit betreiben. Wir müssen endlich verstehen: Psychische Erkrankungen haben eine körperliche Ursache und sind keine Einbildung, Simulation oder Charakterschwäche. Ja, wir brauchen dringender denn je ein neues Bewusstsein für mentale Gesundheit.
Denn wo Bewusstsein beginnt, hört das Stigma auf.

Fotos: iStock, Unsplash / Yuris Alhumaydy 

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