ECKSTEINE DES LEBENS: UM DER LIEBE WILLEN
Lasst uns für Liebesdinge den Alltag überwinden! Eine Betrachtung über ein erhabenes Wort, seine Möglichkeiten von der Verschmelzung bis zum Scheitern – und der Hoffnung auf den Triumph der Liebe.
Text Wolfgang Eckstein
Wolfgang Eckstein ist 95 Jahre jung. Der Jurist war u.a. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Bekleidungsindustrie. Er gründete den Verband deutscher Modedesigner, den Modekreis München und eine Stiftung für die Modeindustrie. Für PURPOSE schreibt er exklusiv.
Die Liebe bildet einen weiten Bogen, beginnend bei der reinsten Form – der Mutterliebe – und endend bei der eigennützigsten Art – der käuflichen Liebe. An dieser Stelle kann nur der zaghafte Versuch unternommen werden, den Verlauf einer Liebe zwischen zwei Menschen in ihren verschiedenen Stadien der Gefühle nachzuvollziehen.
Ein Vorgang und Ablauf, wie er sich millionenfach, in dieser oder jener Form, tagtäglich und vermutlich zu allen Zeiten wiederholt.
Es soll aber bewusst nicht die Zuneigung von jungen Menschen zueinander als Beispiel dienen. Denn zu viel Unreife, Unerfahrenheit und überschäumendes, unkontrolliertes körperliches Verlangen prägen hier den Wunsch nach dem Zusammensein. In diesem Fall wäre das Ergebnis solcher Überlegungen nicht schlüssig für eine allgemeine Beurteilung menschlicher Beziehungen.
Wenden wir uns deshalb den Menschen zu, die bereits ihre heilsamen Erfahrungen im Leben gemacht haben. Die ihre eigenen Gefühle abwägen können. Die nicht die Augen verschließen vor Gegebenheiten, deren Existenz man nicht wegleugnen kann.
WIE ALLES BEGINNT
Man hat sich, auf diese oder jene Weise, kennengelernt. Waren es die Augen, die das Spiel begannen oder die Ohren? Wurde von anderen ein wenig nachgeholfen, um das Band zu knüpfen oder hat ein schicksalhafter Zufall die beiden zusammengeführt? Handelt es sich um Liebe auf den ersten Blick oder um ein spannendes Langsam-aneinander-Gewöhnen?
Vielleicht war es nur eine momentane körperliche Lust oder aber tiefe echte Freude am Anderen, über seine Art sich zu geben oder sich zu entziehen.
WIE ES WEITERGEHT
Der Tag ist mit Gedanken um und an den neuen Partner erfüllt. Man fiebert ab jetzt dem Abend entgegen und sehnt sich die Nacht herbei. Es gibt so vieles, über das man redet und noch viel mehr über das, was man reden möchte. Die Fantasie kennt keine Grenzen mehr und man schwelgt in immer neuen Möglichkeiten für liebenswerte Aufmerksamkeiten.
Im Kleiderschrank hängt plötzlich nichts mehr, was gut genug wäre, um dem Anderen zu gefallen. Kleider gewinnen eine gänzlich neue und wichtige Bedeutung. Sie sollen immer mehr äußerer Ausdruck einer inneren seelischen Verfassung sein. Das Make-up und die Frisur erfahren ein Remake. Man will angezogen wie ausgezogen anziehend wirken.
Das Telefon erscheint oft als der einzige Ausweg, wenn ein Ventil geöffnet werden muss, um wenigstens akustisch zueinander zu finden. Sei es durch schwärmerische Worte, hoffnungsvolle Ausblicke oder verliebte Schmeicheleien. Welch wichtige Aufgabe hat hier das zu jeder Minute verfügbare Handy. Es gibt den Partnern das absolut beruhigende und sichere Gefühl, ständig miteinander verbunden zu sein. Aber es sorgt auch für Unruhe, wenn der andere nicht zu erreichen ist.
ALLES WIRD NEU
An dieser Stelle könnte man noch eine Vielzahl von erstaunlichen Alltagsveränderungen anführen, die von den neuen Gemeinsamkeiten ausgelöst werden. Die Stunden des sind ein einziger, alles andere vergessend machender Rausch. Man hängt an den Lippen des Geliebten und versucht, sich gegenseitig so nah wie möglich zu sein. Man will den anderen berühren, ihn zärtlich streicheln. Kein Wort geht verloren und keine, auch nur angedeutete Bewegung, wird übersehen.
Die Nächte sind zu kurz, um all das zu geben, was man an brennendem Verlangen in sich trägt. Der Tag erscheint überflüssig und der Morgen könnte bis zum Abend dauern. Die erste Reise wird geplant. Die Vorfreude auf die gemeinsamen Tage in trauter Zweisamkeit steigert sich bis zur Unerträglichkeit, ganz gleich wohin man fährt. Überall erwartet man Erlebnisse, Wunder und Geheimnisse. Alle großen und kleinen Eindrücke versucht man mit den gleichen Augen und Ohren wie der andere aufzunehmen. Es gibt keine Einwände und keine Zweifel. Harmonie in Vollendung.
DAS RETARDIERENDE MOMENT
Erfüllt von diesen gemeinsamen Stunden, Tagen, Wochen und Jahren, nimmt der Alltag doch irgendwann wieder seinen unabänderlichen, unbarmherzigen Lauf. Still schleicht er sich ein, wie eine heimtückische Krankheit; mit banalen Kleinigkeiten, die nicht der Rede wert sind und im ersten Anflug abgetan werden.
Doch dieser Bazillus ist immun gegen alle Versuche der Seele und der Gefühle, sich gegen ihn zu wehren. Scheinbar unbedeutende Meinungsverschiedenheiten über nebensächliche Dinge sind der Anfang eines quälenden Prozesses. Für eine längere oder kürzere Zeit bleibt die Liebe doch/noch der Sieger. Etwas verklärt, aber triumphierend. Man erlebt weitere gemeinsame herrliche Reisen, verlängerte, voll erfüllte Wochenenden und Einladungen, die alle unterschwelligen Unstimmigkeiten, in den Hintergrund drängen.
ERSTE SCHWIERIGKEITEN
Private oder berufliche Probleme, des einen oder es anderen oder sogar beider Partner verhindern unbeschwertes Zusammensein. Man verschiebt die ungelösten Fragen zunächst auf eine andere Stunde, dann auf einen anderen Tag. Man fühlt sich plötzlich nicht in der richtigen Stimmung. Man glaubt, es wäre besser, sich deshalb erst einmal nicht zu sehen. Man findet einfach keinen richtigen Weg, um sich auf sein Gegenüber ausgleichend einzustellen.
Die Seele spielt nicht mit. Öffnet sich nicht weit genug, um sich zu offenbaren. Man sucht die Schuld beim Anderen und bei sich.
Doch beide Versuche führen zu keiner gemeinsamen Ebene der Verständigung und des Ausgleichs.
SCHEINGLÜCK
Neue gemeinsame Erlebnisse lassen glauben, es sei alles in bester Ordnung. Doch in die Freude, sich zu sehen und zusammen zu sein, schleicht sich eine unerklärliche Traurigkeit ein. Im Getrenntsein liegt seltsamerweise mehr innere Zufriedenheit als in gemeinsamen Stunden. Irgendwo fehlt die Neugierde, das belebende Element einer erfüllten Partnerschaft.
Sie wurde durch die Gewöhnung an den Alltag ausgewechselt. Durch banale Selbstverständlichkeit, die jeder spürt, doch die keiner wagt, sie wirklich wahrzunehmen und über sie zu sprechen. Man verschliesst die Augen vor dem nie Geglaubten. Mit Wehmut trauert man den Tagen nach, in denen die Seelensonne vierundzwanzig Stunden lang schien und alles mit Wärme erfüllte.
MÜSSEN WIR SCHEITERN?
Hat je jemand die Lösung gefunden oder scheitern wir alle, trotz Offenheit und Ehrlichkeit, an unseren eigenen Unzulänglichkeiten?
Oder ist es die verzehrende Hektik unserer Zeit und die erdrückende Fülle der täglichen Probleme, die uns keinen Abstand gewinnen lassen, zu dem weiten Feld unserer Empfindungen für den geliebten Menschen?
Oder ist der Partner, der durch seine wundervolle Art unser Leben in erfüllende Schwingungen versetzt hat, selbst ungewollt und unbemerkt Alltag geworden?
Wäre die beidseitige Selbstbesinnung ein Weg des Wieder-Zueinanderfindens oder bleibt nur die große Frage „IST ES DAS ENDE ODER EIN NEUER ANFANG“?
„SOWOHL – ALS AUCH“
Wie es auch sein mag: Es ist lohnend, sich immer wieder neu aufeinander einzulassen und dem Alltag keine Chance zu geben, über die Liebe zu triumphieren. Wir müssen uns immer wieder prüfen, was uns wirklich wichtiger ist: Beruf oder Liebe, Familie oder Liebe, Freude oder Liebe, Selbstoptimierung oder Liebe etc.
Und wer weiß: Vielleicht schaffen wir es auch, beide Pole miteinander zu verschmelzen. Dann gibt es kein „Entweder – oder“ mehr, sondern nur noch ein „Sowohl – als auch“. Das aber gelingt nur, wenn man den Alltag nicht als Belastung empfindet, sondern kreativ genug ist, ihn zu inszenieren, ihn nicht wichtig zu nehmen, und der Liebe für ihre Anwesenheit zu danken. Denn was könnte wichtiger sein als sie?
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