Fotomontage: Bild im Bild auf mehreren Ebenen.

ARCHETYPEN ERKENNEN UND MIT IHNEN UMGEHEN

Denken oder gedacht werden – das kollektive Unbewusste gestaltet und verzerrt unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit. Warum dies so ist und wie wir mit Archetypen umgehen können, lesen Sie hier.

Text Giò von Beust

Schwarz-Weiß-Bild von Giò von Beust.

Giò von Beust ist u.a. Bankkaufmann, Taxifahrer, Volljurist, Kommunalpolitiker, Weltreisender, Autor/Publizist/Verleger, Unternehmer/Realtor, Künstler, Gedankenalchimist, Wilddenker und Suchender.

Umweltkrise, Pandemie, Klimakatastrophe – die Welt wird heute von gewaltigen, erschütternden, verwirrenden und widersprüchlichen Veränderungsprozessen durcheinandergewirbelt. Jeder Erdenmensch und jede Gemeinschaft (ob Familien, Dörfer oder Staaten) ist davon betroffen.

Der Psycheforscher, Denker und Therapeut Carl Gustav Jung war einer der ersten, der ein Konzept entworfen hat, mit dem ein kollektives Geschehen von diesem gigantischen Ausmaß erfasst und vielleicht auch gedeutet werden könnte.

Wenn wir uns seine Brille aufsetzen und seine Vorstellung von der Bewusstseinsevolution und seine Idee eines kollektiven Unbewussten samt Archetypen heranziehen, können wir vielleicht besser erkennen, was da gerade mit uns persönlich und mit der Welt überhaupt geschieht.

Das Rumoren der Kräfte

Erfolgreiche Führungsgestalten in Wirtschaft, Kunst, Gesellschaft und Politik schöpfen aus verschiedenen Archetypen die charismatische Ausstrahlung, die ihre Karrieren kennzeichnet. Wobei die geradezu magische Anziehungskraft, die sie auf ihre Anhänger ausüben, oftmals rätselhaft ist und dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen scheint.

Einige Politiker scheinen unbekümmert von einem Fettnapf in den anderen springen zu können, ohne dass ihre Gefolgschaft Anstoß daran nähme. Das Publikum ruft „oh“ und „ah“, ist aber fasziniert von den Volten der Protagonisten. Nicht zuletzt: Die machtpolitischen Strategen in den ThinkTanks, die Akteure der Staatssicherheit (seien es CIA/KGB/政治), die Player in den globalen Unternehmen, Stiftungen und internationalen Organisation sowie Verschwörungstheoretiker aller Schattierungen streuen bewusst oder fahrlässig Narrative in die diversen Medienkommunikationskanäle, in denen die Kräfte der Archetypen rumoren und auf die Gelegenheit warten, sich des Geschehens zu bemächtigen.

Die Struktur der Bewusstseinsevolution

Im System der Analytischen Psychologie C.G. Jungs spiegelt sich die Bewusstseinsevolution des Menschen in fünf Schichten:

Die unterste Ebene bildet das biologische Bewusstsein in Form der Instinkte und des vegetativen Nervensystems, das für die unwillkürliche Steuerung der inneren Organe und des Blutkreislaufs verantwortlich ist.

In der zweiten Schicht darüber ist das kollektive Unbewusste mit den Archetypen angesiedelt, dessen Inhalte und Strukturen bei jedem Menschen auf dem Planeten gleich sind, egal welcher Ethnie oder Kultur er entspringt.

Die dritte Schicht bildet das persönliche Unbewusste, in dem all das abgelegt ist, was ein Individuum aus seinem Bewusstsein, der vierten Schicht, ausgelagert oder verdrängt hat.

Die vierte Schicht ist das persönliche Bewusste.

Die fünfte Schicht schließlich ist das reflektierende Ich, das, was wir als unsere Person empfinden. Dieses ist sozusagen die Spitze des Eisbergs der Psyche und eher nur Objekt der unteren Schichten denn ein eigenes Subjekt wie es sich dem Intellekt darstellt.

Archetypen unterwegs

Man kann sich das vorstellen wie ein fünfgeschossiges Haus.
Über das Fundament und die Kellergewölbe, über die Landschaft, in der dieses Haus unserer Psyche steht, und über den Himmel, der sich darüber spannt, wissen wir wenig bis nichts. Hierzu können wir allenfalls physiktheoretische, quantenmathematische oder auch „bewusstseinserweiterte“ Vermutungen anstellen. Von dem Haus selbst aber wissen wir einiges.

Im Erdgeschoss wohnt das biologische Bewusstsein, die Concierge wenn man will, die das, was von unten und draußen kommt, erst einmal praktisch interpretiert.

Der erste Stock ist mit dem kollektiven Unbewussten „ausgekleidet“, oder auch durch dieses strukturiert, und darin hausen die machtvollen Kräfte der Archetypen, die ganz „eigene“ oder besser gesagt: keine Wertvorstellungen haben, die aber Typologien repräsentieren und sehnsüchtig darauf warten, dass sich Situationen ergeben, in denen sie ihr typisches, schablonenhaftes Verhalten andienen können.

Im Stockwerk darüber wohnt das persönliche Unbewusste, das man sich als einen Ort vorstellen kann, an dem sich unerwünschte, schmerzende, bedrohliche traumatisierte, mit einander im Widerstreit liegende Geschöpfe versammelt haben … eine unruhige, Messiehafte Wohngemeinschaft.

Im dritten Stock wohnt das persönliche Bewusstsein, das immer wieder aus dem Fenster rausschaut und das, was da Draußen und das, was in den unteren Stockwerken und darunter vor sich geht, zu verstehen versucht.
Die Wände seiner Wohnung sind mit unzähligen Zerrspiegeln geschmückt, in die das persönliche Bewusstsein unablässig hineinschaut und versucht, sich ein Bild von sich selbst zu machen.

Im obersten Stock, im Penthouse, da wohnt das smarte Ich. Seine Wohnung ist hochmodern, eine Art automatisiertes Smarthome, in dem es sich bequem eingerichtet hat. Das Smartphone liegt immer griffbereit, damit es hinaus in die Welt twittern kann.

Allerdings: Dieses Ich ist fest davon überzeugt, in einem Bungalow zu wohnen und jederzeit auf die Terrasse hinaustreten zu können – frei, selbstbestimmt, vernunftgesteuert. Von dem Unterbau seines Hauses weiß es nichts, oder wenn es davon gehört hat, flüstert ihm sein Intellekt ein:
„Das sind Ammenmärchen, lass dich nicht irre machen! Das einzige, was gilt, heißt: cogito ergo sum, ich denke, also bin ich ICH!“

  • Grafik: Farbverlauf von Orange nach Blau.
  • Supermann als Spielzeugfigur.

Das Smarthome der Psyche

Und dieses Haus der Psyche ist auch tatsächlich ein Smarthome, nicht aber, weil es auf Zuruf Musik spielt, das Licht anmacht oder den Fernseher einschaltet.

Sondern weil es ein komplett glasfaser-vernetztes Haus ist, mit ungezählten Aufzügen, die blitzartig von unten nach oben und nur in Zeitlupe, immer wieder anhaltend, nach unten fahren.

Und in diesen Aufzügen, in diesem Haus, sind nahezu ausschließlich die Bewohner des ersten Geschoßes, die Archetypen, unterwegs und schwärmen aus in die oberen Geschosse, um
• den Insassen des zweiten Geschosses jede erdenkliche Gestalt zu geben …
• den Bewohnern des dritten Geschosses aus den Spiegeln heraus Fratzen zu zeigen oder heftige Streiche zu spielen …
• sich – vor allen Dingen – dem smarten Ich im Penthouse anzudienen und dieses dann am Nasenring der absurdesten Vorstellungen, die der Intellekt eingeflüstert hat, in der Manege der Welt vorzuführen. Wichtig zu wissen ist dabei, dass Archetypen an sich nicht anschaulich sind, also noch hypothetische, gestaltlose Vorlagen der psychischen, geistigen, seelischen und physischen Gegebenheiten darstellen, welche das Bodymind-System Mensch ausmachen.

Sie nehmen die Form von Bildern, Symbolen und Typologien an, sind in Geschichten und Märchen eingewebt und zeigen sich in Mythen, Träumen und Visionen. Sie sind wie die Samen, welche die Gestalt des Baums in sich tragen, wie die Mutterlauge, aus der sich die Kristalle bilden.

Das kollektive Unbewusste

In zahllosen interkulturellen Vergleichsstudien fand C.G. Jung heraus, dass archetypische Motive unabhängig von Kulturarealen, persönlichen Kenntnissen, Traditionen und/oder Migrationsbewegungen auftraten. Er stellte fest, dass in den verschiedensten Mythologien und religiösen Systemen, in Märchen und Mythen viele ähnliche oder gleiche Strukturen, Muster und symbolische Bilder anzutreffen waren, und dass in allen Menschen bestimmte archetypische Strukturen wirkten.

Das kollektive Unbewusste ist kein abgekapseltes, persönliches System, es ist weltweite Objektivität, es ist sozusagen das Selbst der Welt, das alles umfasst. Mit den Worten Jungs: „Ich bin das Objekt aller Subjekte, in völliger Umkehrung des gewöhnlichen Bewusstseins, wo ich stets Subjekt bin, welches Objekte hat.“ Gegen das unheimlich Lebendige der Seelentiefe, das aus dem kollektiven Unbewussten emporleuchtet, haben die Menschen von Anfang an magischen Schutz in kräftigen Bildern gesucht, die es gleichsam formten, zähmten und kanalisierten.

Unser aufgeklärtes Bewusstsein, unser Intellekt, der nur noch bei sich selbst einkehrt, um im kalten Licht seines Mentalbewusstseins eine sich bis zu den Gestirnen endlos weitende, kahle Welt zu betrachten, ist aber heute gegenüber den Kräften des kollektiven Unbewussten in eine bedrohliche Schutzlosigkeit hinausgestoßen.

Archetypisches Verhalten

C.G. Jung wies auch auf die Unberechenbarkeit psychischer Reaktionen hin, die das unvermittelte Auftauchen von Archetypen im gesellschaftlichem Umfeld nach sich ziehen kann. Die politisch-sozialen Wahnvorstellungen, die sich daraus ergeben, erachtete er tatsächlich als daseinsbedrohend für die Menschheit.

Immer sind Archetypen am Werk, wenn Neurosen in großer Zahl auftauchen, so Jung. Moderner ausgedrückt: Archetypen machen sich in Wahrnehmung und Verhalten breit, wenn Personen in Anpassungsstress geraten, weil sich zu viele Lebensbereiche zu schnell und zu grundlegend verändern. Wobei sich der Effekt potenziert, je größer die Zahl der Individuen ist, die nicht in der Lage sind, aktive Anpassungsstrategien zu entwickeln.

Archetypen sind der psychischen Konstitution des Menschen quasi eingeprägt, sie stellen die Möglichkeit dar, eine typische Haltung einzunehmen, eine Auffassungsschablone zu vertreten oder ein bestimmtes Handlungsmuster auszuführen.

Dieser Mechanismus wirkt daher verhaltenssteuernd und normierend, was der Grund ist, weshalb menschliche Gesellschaften überhaupt funktionieren. Diesen Mechanismus bedienen (im Verbund mit digitaler Normierung/Kontrolle) allerdings auch gerne in ihrem Sinne die Lenkenden in Wirtschaft und Politik.

Denn wenn sich im Leben eines Menschen etwas ereignet, das einem Archetypus entspricht – also Gelegenheit bietet, eine typische Haltung einzunehmen, sich eine bekannte, von anderen geteilte Meinung zu eigen zu machen oder eine typische Handlungsstrategie zu verfolgen – wird dieser aktiviert und übernimmt die Kontrolle (auch der Lenkenden selbst, was diese oft übersehen, wenn sie archetypische Narrative bedienen).

Mit der Folge, dass diese Typologien zwanghafte Wirkung entfalten und sich – wie eine Instinktreaktion – wider alle Vernunft und Willenskraft durchsetzen oder die Protagonisten in pathologisch-neurotische Konflikte stürzen.

Typische Helden

Der Archetypus des Helden wird deshalb so oft bemüht und hat Eingang in tausende von Geschichten, Märchen und Filme gefunden, weil er die tiefe Sehnsucht nach Bedeutung und Erfüllung bedient, die jeder Mensch in sich trägt, und zugleich suggeriert, dass jeder zum Helden berufen ist. Denn der Held ist, archetypisch gesehen, ein Entwicklungsprozess vom Unscheinbaren zum Leuchtenden.

Die ambivalente Wirkung dieses Archetypus kann Karrieren vom jugendlichen Software-Nerd zum viren-paranoiden Milliardär, vom Postkartenzeichner zum GröFaZ oder vom kleinen KGB-Agenten zum tödlichen Vollstrecker eines herbeifantasierten geschichtlichen Auftrags befördern, andere wieder in Wolkenkuckucksheimen unterbringen und dort bis ans Ende ihrer Tage auf den Ausgang hoffen lassen (es sei denn sie werden Milliardär, Führer, Vollstrecker).

Holzkopf in Scheiben geschnitten.

Archetypen bändigen

Was also tun, damit wir der – in politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen durchaus gewollten und geplanten – Ansprache durch die in uns schlummernden Archetypen nicht willenlos ausgeliefert sind oder im Massenwahn mitrennen oder gar in die Delirien des Psychotischen hinabgerissen werden?

Zunächst einmal ist erforderlich, sich die Welt der Archetypen und die tiefe Verwurzelung des Menschen in ihnen bewusst zu machen. Die Archetypen verkörpern die Natur, die Biosphäre, mit der die Menschheit intrinsisch und tief verbunden ist.

Der Mensch ist Natur, bis tief in die letzte Sauerstoff verstoffwechselnde Mitochondrie hinein. Dass wir die natürliche Umwelt nach unseren Bedürfnissen gestaltet haben, verändert an diesem Umstand nichts. Selbst wenn wir auf dem Mars siedeln würden, nähmen wir uns selbst als „Naturwesen“ mit und hätten die Archetypen im Gepäck.

Auf der anderen Seite sind wir Kulturwesen, was uns nicht erst seit der Moderne dazu verleitet hat, uns außerhalb oder über der Natur zu wähnen. „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!“ heißt es in der Bibel, (Genesis 1,28).

Sehet, höret, spüret!

Die Archetypen lehren uns jedoch: Es ist genau umgekehrt! In Märchen, Bildern, Symbolen und Mythen, in den Rhythmen, die durch unsere Adern und Körper schlagen, und im Ton, in der Musik, die in uns klingt, rufen sie uns zu: Sehet, höret, spüret! Wir sind die Mächte, die euch lenken!

Wir müssen also unsere kulturellen Prägungen und Konditionierungen erkennen, sie durchbrechen, sie transparent machen, um die Urbilder schauen und ihrem Lied lauschen zu können. Nur dann kann uns ihre gewaltige Energie zufließen.

Wenn es jedoch nicht gelingt, diese Verbindung aufzubauen und zu halten, verbleiben die Energien im kollektiven Unbewussten und dienen ihre Macht jeder noch so absurden Vorstellung oder Idee an, die ihnen der aus der Kultur geborene und polar operierende Intellekt als verlockendes Ziel vorhält.

Die Wahrnehmung der eigenen kulturellen Konditionierungen, der persönlichen Traumatisierungen genauso wie der eigenen Anlagen und psychischen Strukturen macht den Weg frei zur Selbsterkenntnis und damit letztlich zu einem lebendigen und erfüllten Sein in einer physischen „Naturdimension“ und einer psychischen „Bewusstseinsdimension“, die das kollektive Unbewusste miteinschließt.

Deshalb stand „Erkenne dich selbst“ über dem Eingangstor des Orakels von Delphi.

Fotos: iStock, Unsplash / Clark van der Beken, Esteban Lopez

 

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