Ilustration: Kopf aus Lebensmitteln geformt.

WOHL BEKOMMS! ESSGEWOHNHEITEN UND WIR

Anmerkungen zu unseren Essgewohnheiten und zu deren Auswirkungen auf uns selbst und unsere Umwelt samt wichtiger Leitideen, wie eine gesunde Ernährung heute aussieht.

Text Giò von Beust

Schwarz-Weiß-Bild von Giò von Beust.

Giò von Beust ist u.a. Bankkaufmann, Taxifahrer, Volljurist, Kommunalpolitiker, Weltreisender, Autor/Publizist/Verleger, Unternehmer/Realtor, Künstler, Gedankenalchimist, Wilddenker und Suchender.

Als der berühmte Polarforscher Roald Amundsen Anfang der 1920er Jahre von einer seiner Polarexpeditionen zurückkehrte, auf der er an der nordsibirischen Küste unter Eskimos überwintern musste, antwortete er auf die Frage, wie er es ausgehalten habe, nur rohes Seehundfleisch zu verzehren: „Menschen essen gerne, was sie essen.“

In dieser knappen, gleichermaßen rätselhaften, wie aufschlussreichen Antwort verbirgt sich eine der großen Regeln, die menschliches Essensverhalten bestimmen: Menschen essen das, was sie schon immer gegessen haben; was in ihrer Kultur üblich ist; was Muttern mittags nach der Schule auf den Tisch stellte; aber auch: was ihnen die Werbung oder die Wissenschaft suggeriert.

SO ISST DIE WELT – ESSGEWOHNHEITEN RUND UM DIE WELT

Mongolen essen am liebsten Schafsschwänze, ungehäutet im Boden vergraben und unter heißen Steinen gegart. Japaner rohen Fisch. Inder höllisch scharf und vorwiegend vegetarisch. Ostafrikaner liebend gerne weiße Maden in Blutsuppe. Filipinos durchaus auch geröstete Kakerlaken und gegrillte Hunde.

Die berühmten Hunza im Korakorum-Gebirge vorwiegend Aprikosen samt Kernen. Eingeborene in Papua Guinea auch schon mal die Herzen und Hirne erledigter Feinde. Chinesen alles, was nicht niet- und nagelfest ist.

Auch wir in Europa haben einiges zu bieten: Römische Trippa, Vormagen von Wiederkäuern in Tomatensoße; englische Pies, in denen die Hackfleischsoße hin- und herschwappt; französische Froschschenkel; dänisches Smørrebrød, Schwarzbrot mit allem; spanische Tapas mit Bergen von Mayonnaise-Kartoffelsalat; nicht zuletzt Münchner Weißwurst, in der alles drin ist, was von den Resten der armen Sau zusammengekehrt wurde. Um nur die Highlights zu nennen.
Und überall auf der Welt essen die Leute gerne Pizza.

Die Tagebücher von Reisenden sind voll von Geschichten über ekelerregende Begegnungen mit fremder Küche. Und schwelgerischen Berichten über wunderbare, exotische Gerichte – samt Begegnungen mit interessanten Menschen, beim Essen und Trinken.

Tatsächlich scheint das menschliche Denken unablässig um das Essen zu kreisen, zu Hause wie auf Reisen, heute wie vor Tausenden von Jahren – auch wenn uns das meist nicht bewusst ist.

NICHT ALLES, WAS SCHMECKT, IST GESUND

Auch der Neolithiker Ötzi hatte noch eine Stunde vor seinem Tod vor rund 5.300 Jahren ein ordentliches Stück Alpensteinbock verzehrt, sagen Wissenschaftler, bevor ihn der tödliche Pfeil seines Verfolgers traf. Da man bei Ötzi keinerlei Proviant im Beutel fand, er aber noch in Besitz seines kostbaren Beils war, könnte er gar Opfer eines Mundraubs gewesen sein. Interessant ist übrigens, dass bei Ötzi Gallensteine gefunden, was auf zu viel Fleischkonsum zurückzuführen ist, und dass er außerdem eine Laktose-Intoleranz aufwies.

Manche Essengewohnheiten und Allergien, die wir heute beklagen, haben sozusagen eine historische Dimension. Und hier wird schon der grundsätzliche Konflikt sichtbar, in dem der Mensch und sein Essen gefangen ist, nämlich zwischen dem, was schmeckt und was man kennt … und dem, was gesund ist. Auf chefkoch.de finden sich über 350.000 Rezepte und die Meinungen über das, was gesundes Essen ist, sind ebenso vielfältig.

Schon bei der Menge, die der Mensch täglich zur gesunden Ernährung braucht, gehen die Zahlen weit auseinander. So empfehlen die amerikanische FDA (Food & Drug Administration) wie das deutsche Landwirtschaftsministerium – dieses beraten von einer Institution, die den schönen Namen „Bundesamt für Risikobewertung“ trägt – dem Normalbürger ein durchschnittliches Zu-sich-nehmen von rund 2.000 Kalorien täglich zur Erhaltung der Gesundheit.

„WIR FRESSEN UNS ZUTODE“

Die 2011 im Alter von 95 Jahren verstorbene Ärztin und Wissenschaftlerin Dr. Galina Schatalova dagegen meint in ihrem Buch Wir fressen uns zu Tode, dass rund 250 bis 400 Kalorien völlig ausreichend sind.

So verleibten sich 1991 im ersten Golfkrieg die GIs auf den 600 Kilometern von Kuweit nach Bagdad (im Panzer sitzend) 3.000 Kalorien täglich ein. Die 78-jährige Galina hingegen wanderte mit Testpersonen in zehn Tagen 500 Kilometer zu Fuß durch die zentralasiatische Wüste auf lockerem Sand und kam mit einer Tagesration von 500 Kalorien aus.

Immerhin bemerkenswert: sowohl FDA und Ernährungsministerium als auch Galina stellen eine Verbindung zwischen Ernährung und Gesundheit her. Das ist nicht selbstverständlich. Diesem Zusammenhang wird zum Beispiel in der Krankenhausmedizin nur wenig Beachtung geschenkt, man lese nur einmal die dort kursierenden Speisepläne: Wiener Würstchen mit Margarinebrot zum Abendessen. Krebspatienten, die durch Chemotherapie Gewicht verlieren, wird da schon einmal ein extra Stück Sahnetorte empfohlen.

„SUPER SIZE ME“

Überhaupt: Was sich die Bürger rezeptfrei an geschmacksverstärkten, fettigen und gesüßten Würsten, Burgern aus Kuhlippen, an Dosenfutter, Frühstückszerealien und Weißmehl-Backwaren und so weiterzuführen, sollte eigentlich das Bundesamt für Risikobewertung auf den Plan rufen.

Der gute Regisseur und Dokumentarfilmer Morgan Spurlock, der sich 2004 im filmischen Selbstexperiment „Super Size Me“ dreißig Tage lang ausschließlich Produkte eines weltmarkführenden Burger-Braters zuführte, um dessen Behauptung zu widerlegen, er biete vollwertige Nahrung an, handelte sich dabei eine schwere, nicht mehr zu behebende Stoffwechselstörung ein. Nicht zuletzt, weil er in diesem Zeitraum rund 10 Kilo raffinierten Zucker mitaß.

Wie also Licht bringen in das Dunkel, in dem sich menschliche Gelüste und Ahnungslosigkeit, kulturell eingefärbtes Wissen über gutes Essen, Interessen der Agrar-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie, fragmentarische Forschungen und Wissenslücken der Ernährungswissenschaft sowie haarsträubende Ernährungsempfehlungen zu einer oftmals krankmachenden und todbringenden Spirale vermengen?

  • Leuchtbuchstaben mit Text: Eat well, feel good
  • Gemüsevariation

TÖTEN, UM ZU LEBEN?

Ganz zu schweigen davon, dass die vorwiegend blutige Art und Weise, wie wir essen, nicht nur unsere Gesundheit und unser Leben bedroht, sondern auch die biologischen Lebensgrundlagen, von denen wir abhängig sind. Nicht zuletzt ist sie schlicht unethisch.

2011 wurden auf unserem Planeten über 60 Milliarden Tiere geschlachtet, um unseren Fleischhunger zu stillen, jährliche Tendenz steigend. Darunter 58 Milliarden Hühner, 3 Milliarden Enten, 1,4 Milliarden Schweine und 300 Millionen Rinder. Pro Kopf entfallen auf jeden einzelnen Menschen fast zehn Tötungen.

300 Millionen Methan rülpsende Rinder tragen erheblich zur Erderwärmung bei. Rund siebzig Prozent der weltweiten Agrarfläche wird heute mit Tierfutter bepflanzt, wobei die wenigsten der Schlachtopfer artgerecht ernährt oder gehalten werden.

WAS SOLLEN WIR ESSEN?

Kehren wir aber zurück zur Ausgangsfrage: Was ist gutes und gesundes Essen? Wie und mit was sollte sich der Mensch ernähren? Die Antwort lautet: Keiner weiß es! Eine Spezies, die rohes Seehundfleisch, Schafsschwänze, Maden in Blutsuppe und Münchner Weißwürste problemlos verdrücken kann, muss mit einem außerordentlich anpassungsfähigen Verdauungs- und Stoffwechselsystem ausgestattet sein.

Und hier liegt auch das Problem: Wie das funktionieren kann, ist der Wissenschaft weiterhin ein so großes Rätsel, dass sie sich ernsthaft gar nicht damit befassen will bzw. mit aus der Luft gegriffenen Prämissen ans Werk geht, um irgendeine Aussage zu treffen. Eine dieser Prämissen ist:
Ein Ausgangsstoff, der als nahrhaft und gesund angenommen wird, wirkt auch im menschlichen Körper immer nahrhaft und gesund. Am Beispiel einer einfachen Hormonkaskade kann man jedoch sehen, dass eine Substanz im Körper mehrfach von schädlich bis nützlich wechselt, je nachdem, welche Einflüsse an bestimmten Schaltstellen vorherrschen, bevor sie zu den Zellen gelangt. Und das ist nur die biochemische Betrachtungsweise, die heute die Ernährungswissenschaft – wenn sie denn eine ist – dominiert.

SITZT DER TOD IM DARM?

Der Wissenschaftsautor Ed Yong entwirft in seinem Buch „I Contain Multitudes“ (etwa „Ich enthalte Vielheiten“) über die Mikroorganismen, die den menschlichen Körper behausen, „eine größere Vision des Lebens“ (so der Untertitel).

Darin zeigt er auf, dass die primäre Verdauung und Verstoffwechselung von Nahrungsmitteln – und viele andere körperlicher Funktionen – sozusagen gar nicht vom Menschen selbst, sondern von den ihn bewohnenden Organismen erledigt werden. Und, dass diese Organismen erstens in der Überzahl sind – im Menschen gibt es tatsächlich mehr fremdes als menschliches Genom – und zweitens eine eigene Überlebensagenda haben.

Manche Bakterien leben bestens von Weißmehl und bringen ihren Wirt dazu – sofern sie sich gegenüber anderen Bakterien-Spezies durchgesetzt haben –, davon so viel wie möglich ins sich hineinzustopfen. Diese neue Sichtweise, die den Mikroorganismen-Populationen sogar psychische Verhaltensbeeinflussung nachsagt, macht die Sache noch schwieriger.

Ganz kompliziert wird es, wenn man zusätzlich Bewusstseinsaspekte in die Erklärungssuppe einrührt. Experimente zeigen, dass sich die Körperchemie unter bestimmten psychischen Bedingungen (etwa Schizophrenie) schlagartig verändern kann, und ein eben noch gesunder Mensch von jetzt auf gleich zum Diabetiker mutiert.

Fazit: Die Steuerungsprozesse der Nahrungsverwertung im menschlichen Körper sind … ein Rätsel. Wie immer, wenn wir nicht wirklich wissen, was vor sich geht, eilt die Statistik zur Hilfe und bietet immerhin Anhaltspunkte.

DIE STATISTIK HILFT

Groß angelegte Langzeitstudien wie die berühmte Längsschnitt-Studie mit mehr als 100.000 teilnehmenden Krankenschwestern haben etwa zu Tage gebracht, dass Schwestern, die Kuhmilch tranken, doppelt so oft Oberschenkelhalsbrüche erlitten, als diejenigen, die keine tranken. Dass Milch also den Knochen kein Kalzium zuführt, sondern es aus den Knochen herauslöst und zu Osteoporose führt.

Einen Hinweis darauf, was gute und gesunde Ernährung sein könnte, bietet vielleicht auch die Adventisten-Gesundheitsstudie von 2012 mit 96.000 Teilnehmern in den USA und Kanada. Ihr Aufsehen erregendes Ergebnis: Männliche Vegetarier, die keine Eier und keine Milchprodukte essen, leben im Durchschnitt 9,5 Jahr länger als der Durchschnittskost mit Fleisch essende Amerikaner.

Noch länger leben nach der Studie strikte Veganer und noch etwas länger sogenannte Pesco-Veganer, die ab und zu Fisch essen (bis zu 16 Jahre länger). Verstärkender Faktor ist hier sicherlich der im übrigen gesunde Lebensstil von Vegetariern/Veganern, die in der Regel weder rauchen noch häufig Alkohol konsumieren und öfters Sport treiben.

Illustration: diverse Lebensmittel auf Gabel

LEITIDEEN FÜR EINE GESUNDE ERNÄHRUNG

Welche goldenen Regeln für eine gesunde Ernährung ließen sich nun heute aus der ungeheuren Zahl von Meinungen und Untersuchungen herausfiltern?

Hier einige Leitideen:

    • 1) Ganz auf pflanzliche Ernährung umstellen: kein Fleisch, außer vielleicht an Festtagen (aber niemals Schweinefleisch)
    • 2) Mehrmals in der Woche Nüsse, vorzugsweise Mandeln und Walnüsse
    • 3) Einmal in der Woche Fisch (Süßwasserfisch, von wegen Quecksilber im Meer)
    • 4) Sehr gelegentlich landläufige Eier und fermentierte Milchprodukte wie Butter und Käse: niemals Milch (auch nicht für Kinder)
    • 5) Geringe Mengen, verteilt auf kleine Portionen, alternativ Intervallfasten (am besten 6/18-Regel)
    • 6) Vorzugsweise roh oder mit geringer Hitze (max. 40 Grad) zubereitet
    • 7) Möglichst nur lebendige, keimfähige Produkte, vor allem Getreide
    • 8) Biologisch, regional, Demeter
    • 9) Sehr gut kauen, pro Zahn einmal
    • 10) Obst, Kohlenhydrate (das sind sowohl Brot und Nudeln als auch Gemüse, Salat) und pflanzliche Proteine (also Hülsenfrüchte, Nüsse, Saaten) getrennt essen.
      Die Faustregel lautet: Nach Obst (am besten auf nüchternen Magen) 15 Minuten warten; nach Gemüse, je nachdem wie kohlehydrathaltig es ist, 30-60 Minuten Geduld; nach Proteinen 120 Minuten ausharren, bevor man wechselt.
    • 11) Bewegung: 15 Minuten täglich leichtes Ausdauertraining (Fahrrad fahren, zügig um den Block marschieren)
    • 12) Selbst kochen: Hilft dem Körper, sich auf das Kommende einzustellen; schmeckt besser und Zutaten sind bekannt

ARTGERECHTE MENSCHLICHE ERNÄHRUNG

Sich auf eine andere, gesündere Ernährungsweise einzulassen, braucht während der Umstellungszeit sicher einige Zeit, bis es schmeckt und die alten Genüsse nicht mehr vermisst werden. Wer jedoch in der gesunden Ernährungsweise heimisch geworden ist, entdeckt ungeahnte, neue Geschmackswelten und kann bedingungslos dem Satz von Amundsen zustimmen: „Menschen essen gerne, was sie essen.“

PS.: Und wer nicht nur gesund alt werden will, sondern überhaupt wieder gesund, der sollte dem Rat des Hippokrates folgen, dem Urahn aller Ärzte: „Eure Nahrungsmittel sollten Heilmittel – und eure Heilmittel sollten Nahrungsmittel sein.“

Ein radikaler Nachfolger dieses griechischen Arztes ist der fabelhafte, heute 92-jährige Dr. Johann Georg Schnitzer, der seit mehr als 60 Jahren unermüdlich (und auf verlorenem Posten) für eine artgerechte menschliche Ernährung kämpft und dazu ein beispielloses Erfahrungswissen zusammengetragen hat (auf seiner selbstgestrickten Website, einsehbar).

Fotos: istock, Unsplash / Kliv Brand, Tangerine Newt

 

Sie möchten nichts mehr verpassen? Hier erhalten Sie spannende Nachrichten zu Finanzen und vielen weiteren Themen.