Menschenmenge vor der Mona Lisa mit Handys in der Handy.

DER NEUE DA VINCI CODE – Artselfies als Kunstform

Überall das gleiche Bild. Egal ob in Paris, Florenz oder New York: Ein Klick und „das Kunstwerk und ich“ gehen als Artselfie millionenfach online. Ein Gespräch mit der Psychologin Ines Imdahl über die Selfie-Manie und die Bedeutung der Kunst für die Menschheit.

Text Gerd Giesler

Portrait in Schwarz-Weiß von Ines Imdahl.


Ines Imdahl
studierte an der Universität Köln Psychologie. 2011 gründete sie zusammen mit Jens Lönneker den rheingold salon, der inzwischen zu den renommiertesten Adressen der Marktforschung zählt.

Die Uffizien in Florenz gelten als eines der bekanntesten Kunstmuseen der Welt. Vor Sandro Boticellis berühmtesten Werk „Die Geburt der Venus“, erschaffen als Auftragsarbeit für eine Landhausvilla der Medici, drängen sich schon am Morgen die Besucher und zücken ihre Handys. Zur gleichen Zeit im Oberen Belvedere in Wien: Der ikonische Kuss von Gustav Klimt verführt Paare zu einer innigen Selbstinszenierung. Mit von der Partie: das Smartphone, das ein #Artselfie daraus macht.

EIN ARTSELFIE MIT MONA LISA

Im Denon-Flügel des Louvre, schieben sich in Blockabfertigung die Schlangen bis dicht vor das Panzerglas eines kleinen, unscheinbaren Gemäldes aus dem 16. Jahrhundert. Die Identität der portraitierten Frau ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ihr Lächeln bleibt rätselhaft, da ihr Schöpfer Leonardo da Vinci alles Wissen zur Entstehungsgeschichte mit ins Grab nahm. Dan Browns Roman „The Da Vinci Code“ (dt. „Sakrileg“) und besonders die Verfilmung mit Tom Hanks entfachten einen wahren Hype um den Meister der Sfumato-Technik, der alle seine Bilder in mystisches, nebelhaftes Licht tauchte. Ein Selfie mit Mona Lisa ist für die meisten Besucher des Louvre ein emotionaler Höhepunkt.

VERNETZT MIT MICHELANGELO

Haben Selfies vor Kunstwerken nur den einen Zweck, einen Museumsbesuch Familie und Freunden mitzuteilen oder sucht man auf diese Weise die Verbindung zu einer anderen Epoche und den Urhebern? Das fragen wir Ines Imdahl vom „rheingold salon“.

Ines Imdahl: „In der Tiefenpsycholgie gehen wir davon aus, dass wir immer verschiedene Motive gleichzeitig befriedigen wollen, auch solche, die sich widersprechen oder in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Selfie-Manie vor allem was berühmt und bekannt ist, nicht nur Bilder, auch bestimmte Orte, gibt zunächst Bestätigung in dem Sinne, dass ich mitreden kann, dass ich dabei war. Ich war im Louvre und das Beweisfoto dazu ist die Mona Lisa. Bei einem anderen Teil spielt eher die Motivation eine Rolle, sich als jemand darzustellen, der sich in der Kunst auskennt und damit auseinandersetzt.“

ARTSELFIES ERHÖHEN DIE KUNST

„Unabhängig davon, was den Ausschlag gibt, egal wie egoistisch ich bin, in Summe tragen die Museumsselfies dazu bei, dass die Kunst einen höheren Stellenwert einnimmt. Und das gilt vor allem auch bei den Teilen der Bevölkerung, die keinen erzieherischen Zugang zur Kunst erhalten haben. Damit wird Kunst plötzlich relevant für ganz andere Bevölkerungsgruppen, was als sehr positiv zu werten ist. Letztlich wird durch das Selfie auch das Kunstwerk mitinszeniert, nicht nur die Person daneben.“

Ist Kunst auch ein Sujet mit dem Sie beruflich zu tun haben?

Ines Imdahl: „Im Rahmen unserer Forschung befassen wir uns auch im weitesten Sinn mit Alltagsphänomen. Wir haben im Auftrag von Kasper König die Psychologie des Museumsbesuches für das Museum Ludwig in Köln untersucht, um herauszufinden was die Menschen eigentlich motiviert, sich mit der Kunst zu beschäftigen.

Aufgeschlagenes Notebook mit der Mona Lisa auf dem Display.
Über 480.000 Werke hat der Louvre online gestellt. Die Mona Lisa ist nur eines von vielen.

MIT DA VINCI AUF DEM HEIMISCHEN SOFA

Im Zeitalter der Digitalisierung fällt demnach den Museen und Galerien ein besonderer Bildungsauftrag zu. Vor knapp drei Jahren ging ein Raunen durch die Weltöffentlichkeit, als der ehrwürdige Louvre der Sängerin Beyoncé gestattete, vor der Mona Lisa ein Video zu einem ihrer Songs zu drehen. Damit reagierte der Popstar indirekt auf das, was die Digitalisierung der Kunst eigentlich antreibt: neue Blickachsen neben der starren musealen Anordnung zu schaffen, andere gedankliche Connections zuzulassen und die alten Meister von der Renaissance bis zur Popart auf das heimische Sofa zu hieven.

Letztes Jahr legte der Louvre noch eins darauf und öffnete selbst seine geheimsten Winkel für das Internet. Seitdem reiht sich die Mona Lisa zum digitalen Genuss für Handy und Desktop auf dem Internetportal http://collections.louvre.fr unter 480.000 Kunstwerken ein, unscheinbar und ohne Panzerglas oder Warteschlangen.

TIK TOK, INSTA, PINTEREST – MUSEEN KÖNNEN NICHT MEHR OHNE FOLLOWER

Hat der damalige Louvre-Direktor Jean-Luc Martinez auf diese Weise das besucherstärkste Kunstmuseum der Welt gar entmystifiziert?
Der deutsche Kunsthistoriker und Museumskollege Eike Schmidt von den Uffizien, jenem geschichtsträchtigen Ort, wo in der Renaissance das neue Bild vom Menschen entstanden ist, sieht dies nicht so. Dem deutschen Handelsblatt verriet er: „Es ist schon jetzt abzusehen, dass das Metaverse die Sehnsucht nach dem Original noch einmal deutlich verstärken wird. Je präsenter das Werk im Digitalen, desto stärker die Nachfrage nach dem Original“.

DER DIRETTORE POP IN FLORENZ

Schmidt, der wegen seiner Bereitschaft, fernab ausgetrampelter Museumspfade zu wandeln, auch „Direttore Pop“ genannt wird, hat dies zu Beginn der Coronakrise, als die Uffizien pandemiebedingt geschlossen blieben, selbst erlebt. Auf Tik Tok stellte er verfremdete Kunstmemes von Michelangelo und da Vinci ein, auf Instagram ließ er eine Influencerin als moderne Venus auftreten und löste bei den Kids wahre Begeisterungsstürme aus. Denn Kunst, so berichtete Schmidt, der seit 2015 die Geschicke der Uffizien leitet, der römischen Zeitung „La Repubblica“ gehört allen, nicht nur einer selbsternannten kulturellen Elite.

Aber auch das renommierte Getty Museum in Los Angeles hat die sozialen Medien als probates Mittel zur Demokratisierung der Kunst erkannt und Teile der Sammlung auf Pinterest online verfügbar gemacht. Seitdem hat das Museum fast eine Million Follower und zählt zu den aktivsten auf diesem Channel.

Wie wichtig ist denn aus psychologischer Sicht die Kunst für uns Menschen?

Ines Imdahl: „Ich habe ja bereits mitten in der ersten Welle der Corona Pandemie darüber publiziert, dass Kunst und damit meine ich nicht nur die bildenden Künste, sondern durchaus auch Musik, Literatur und Theater, für die Menscheit absolut systemrelevant ist. Für die Gesundheit der Psyche, für die Lebensfreude und auch für unsere Leistungsfähigkeit im Beruf. Da kann man in der Forschung sehr weit zurückgehen und immer wieder feststellen, dass die Geschichten, die durch Kunst ausgedrückt werden, dazu beitragen, dass unsere menschliche Kultur nicht verkümmert, wegstirbt und irrelevant wird.

Ines Imdahl vor ihrem Gemälde von Dieter Haack.
Das Gemälde von Dieter Haack befindet sich im Privatbesitz von Ines Imdahl und erzählt eine ganz persönliche Geschichte.

OHNE KUNST KEIN ÜBERLEBEN

Wir können ohne Kunst und die Geschichten dazu, die sich als Ausdrucksform der Kunst etablieren, nicht überleben. Die Menscheit braucht die Kunst als seelische Unterhaltung. Wir lieben es ja in der Psychologie solche Worte ursächlich zu zerlegen, in den ‚Halt‘, die seelische Stütze, und den ‚Unterhalt‘, also das was uns nährt.“

Woher kommt denn Ihrer Meinung nach die Sehnsucht der Menschen, sich in Kunst zu spiegeln?

Ines Imdahl: „Da mache ich als Psychologin eher ein Fragezeichen dahinter. Wenn ich am Wochenende mit meinem Mann und den Kindern ins Museum gehe und wir uns Bilder anschauen, dann merkt man, dass einige Bilder etwas auslösen, dass sich da etwas weiter entwickelt, was vielleicht auch zu Konstruktionserfahrung führt; wo wir unser Leben, also das was uns bewegt, unsere Probleme und Konflikte in ihrer Konstruktion einmal aus einer anderen Perspektive erkennen können“.

Vielleicht auch, um unsere eigenen Muster einmal wieder etwas aufzubrechen?

Ines Imdahl: „Genau. Wir können das, was uns im Alltag unbewusst ist, an der Kunst bewusst machen. Zu sehen, so ist unser Leben gerade konstruiert, so gehen wir damit um. Das kann manchmal auch ganz schön erschüttern.“

VOM HOMO SAPIENS ZUM HOMO DIGITALIS

Der französische Regisseur Jacques Malaterre zeigt, wie der Homo Sapiens ein Bewusstsein für seine Vergangenheit schafft, indem er mit der Höhlenmalerei Geschichten erzählt und somit zum Kulturschaffenden wird. In ihrer These über die Systemrelevanz von Kunst und Musik zitiert Ines Imdahl Yves Coppens und Fabrice Demeter vom Collége de France: „Vernichtet man die (Kunst-)Werke und die Geschichten der Menschen … ist es, als hätten sie nie existiert.“

Das Aussterben des Neandertalers erscheint damit in einem ganz anderen Licht und auch die Selfie-Manie des Homo Digitalis.

Fotos: Roland Breitschuh, Shutterstock / Sira Anamwong, Unsplash / Thomas William, Screenshot: collections.louvre.fr

 

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