Wozu sind wir auf dieser Welt?
Viktor Frankl, Professor an der Universität Wien und Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, sah „in jedem Menschen den Willen zu einem Sinn im Leben.“ Unsere Autorin machte sich auf die Spurensuche nach unserer Berufung und Sinnaufgabe …
Hier erfahren Sie mehr über
- Sinn-, und Selbsterkenntnis
- Sinnerfüllten Selbstausdruck
- Sinnvolle Mitgestaltung unserer Welt
TEXT Ursula Maria Lang
Ursula Maria Lang studierte Kommunikationswissenschaften, Kulturanthropologie und Geographie. Sie arbeitet als freie Journalistin für ganzheitliche Themen, Umwelt und Gesundheit. 2002 entwickelte sie die nach ihr benannte Berufungsberatung, die mehrfach international ausgezeichnet wurde.
Vor vielen Jahren befragte mich ein 11-jähriger Schüler ganz wissbegierig über meine Berufungsberatung. Als ich mich nach dem Grund seines Interesses erkundigte, antwortete er inbrünstig: „Ursula, es ist doch das Wichtigste im Leben zu wissen, wozu man auf dieser Welt ist?“
Ich war sprachlos und tief bewegt, so etwas von einem kleinen Jungen zu hören, geht es doch genau darum im Leben eines jeden Menschen: Was ist mein Purpose, was der Sinn meines Daseins?!
Das Besondere an diesem Thema, was mich auch nach über 20 Jahren – seitdem ich Menschen in dieser Frage begleite – immer noch bewegt, ist die tatsächliche Emotionalität rund um die Sinnfrage, die bei jedem Alter zu spüren ist. Egal ob 17 oder 70: Findet ein Mensch seinen Purpose, den Sinn seiner Existenz und die damit verbundene Sinnaufgabe, also Berufung, dann kommt es zu Freudentränen, zum inneren Strahlen, zum Ausdruck des Glücklichseins.
Dabei spielen sowohl die Selbsterkenntnis – wer bin ich, was kann ich – als auch der Selbstausdruck – was will ich von mir zeigen oder geben – eine zentrale Rolle, bis hin zur spirituellen Dimension – wie möchte ich diese Welt sinnvoll mitgestalten, was bewirken, bewegen, hinterlassen. Schließlich ist der Purpose in der eigenen Berufung die Erfüllung dessen, was wir als Menschen sind und wozu wir bestimmt sind.
Selbsterkenntnis und Selbstliebe
„Das Wertvolle im Leben ist die Entfaltung der Persönlichkeit und ihrer schöpferischen Kräfte.“
Albert Einstein
Greift man die obige Frage des Schülers auf, so stößt man auf eine zentrale Frage rund um Purpose und Berufung. Aus meiner Erfahrung ist der Prozess der Berufungsfindung weit mehr als das Finden des passenden Jobs. Es ist der tiefgreifende Entdeckungsprozess der eigenen Persönlichkeit, der ureigenen Potenziale, Stärken, Talente und Persönlichkeits-Eigenarten, die uns selbst ausmachen – in Verbindung mit unserer inneren Sinn-Ausrichtung, der Frage wofür wir uns engagieren und einsetzen möchten.
Sprechen wir Menschen auf ihr Selbstbild an, so erfahren wir öfters zwei Pole der Selbstwahrnehmung: Entweder sind es Menschen, die schon fast überzogen selbstbewusst bzw. von sich selbst überzeugt sind oder Menschen, bei denen allein die Frage Unsicherheit auslöst und die sich am liebsten gar nicht über sich selbst äußern. In beiden Fällen kommt man nicht an den authentischen Kern der Persönlichkeit.
Der Grund dafür sind meist die soziale Anpassung und der Selbstvergleich in einer Welt des Wettbewerbs und äußeren Scheins, in welcher der Purpose und damit auch das echte, authentische Engagement des Einzelnen kaum eine Rolle spielen.
In einer Berufswelt, in der Menschen, anstatt authentisch sie selbst zu sein, oft eine Rolle spielen. In einer Berufswelt, die wenig mit Berufung und damit auch wenig mit Purpose zu tun hat.
Kommt ein Mensch dann irgendwann in eine berufliche Sinnkrise, die meist auch eine Persönlichkeitskrise auslöst, so fallen die Masken des äußeren Scheins und im Zentrum steht immer mehr die zentrale Purpose-Frage: Wer bin ich, warum bin ich hier und was soll ich mit meinem Leben anfangen, wem oder was bin ich nützlich, welchen Sinn hat mein Leben?
Der Psychoanalytiker Viktor Frankl sagte einst dazu: „Das Wissen um eine Lebensaufgabe hat einen eminent psychotherapeutischen und psychohygienischen Wert. Wer um einen Sinn seines Lebens weiß, dem verhilft dieses Bewusstsein mehr als alles andere dazu, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden.“
Aus meiner Erfahrung heraus geht der Prozess der Purpose- und Berufungsfindung sogar noch weiter. Um unsere Sinnaufgabe zu finden, besteht der erste Schritt darin, unsere authentische Persönlichkeit zu kennen und auszudrücken oder – nach Albert Einstein – die eigene Persönlichkeit zu entfalten und die Potenziale, Stärken und Talente, also Schöpferkräfte, die in uns stecken, zu entdecken.
Das Besondere innerhalb dieses Erkenntnis-Prozesses ist nicht nur das Finden der Sinnaufgabe, sondern eine ganz neue Selbstwahrnehmung. Erkennen Menschen ihre Einzigartigkeit, trauen sie sich, authentisch zu sein und können in ihrer Berufung ihre gesamte Persönlichkeit ausdrücken, so führt das zu einer neuen Form der Selbstliebe, der Grundvoraussetzung für das Ausstrahlen und Weitergeben von Liebe, auch in unserem beruflichen Tun.
Unsere Lebenskraft sinnvoll einsetzen
„Sieht der Mensch der Wahrheit ins Auge, dann erfasst er, dass sein Leben nur dann einen Sinn hat, den er ihm selbst gibt, indem er seine (Schöpfer-)Kräfte entfaltet.“
Erich Fromm
An dieser Stelle kommen unsere Lebens- und Schöpferkraft, unser Purpose und unser berufliches Engagement zusammen und werden zu unserer Sinnaufgabe. Und es werden enorme Kräfte freigesetzt, mit denen wir etwas bewegen können, was wir uns in einem langweiligen oder sinnleeren Job vorher niemals hätten vorstellen können. Hierfür gibt es Tausende Beispiele, denn wir sind dazu geboren, unsere Lebens- und Schöpferkraft sinnvoll und sinnstiftend einzusetzen und damit unser Leben und die Welt zu verbessern.
In dem Moment, in dem wir unseren Purpose kennen, sind wir Magneten für seine Verwirklichung.
Sehr bekannte Beispiele sind Mahatma Gandhi, der vom indischen Rechtsanwalt zum geistigen und politischen Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung wurde, indem er seinen Purpose „Gewaltfreier Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit“ unerschütterlich lebte und einfach immer weiter ausbaute.
Oder Reinhold Messner, dessen Passion für das Bergsteigen im Alter von vier Jahren begann und ihn so faszinierte, dass er nicht nur der bekannteste Bergsteiger der Welt wurde, sondern seine Passion zum Purpose machte und heute mit seinen Messner Mountain Museen in Südtirol und seinen Filmen, Büchern und Vorträgen der wichtigste Naturschützer der Bergwelt ist.
Die eigene Lebenskraft sinnvoll und sinnstiftend einsetzen, kann jeder Mensch, und oft liegt die dazu passende Sinnaufgabe und Berufung uns direkt zu Füßen. So geschehen bei Sebastiao und Lelia Salgado aus Brasilien, welches innerhalb von 20 Jahren auf ihrem geerbten und gerodeten Urwald-Grundstück 2,7 Millionen Bäume gepflanzt und inzwischen über 7000 Hektar Regenwald wieder aufgeforstet hat. Das Entsetzen über die Umweltzerstörung löste in dem in Brasilien aufgewachsenen Ehepaar den Purpose aus, dem etwas entgegenzusetzen und, anstatt die Zerstörung zu beklagen, einfach einen neuen Urwald zu pflanzen. Inzwischen ist daraus eine Stiftung – das Instituto Terra – geworden, und für den weltweit bekannten Fotografen Salgado das wichtigste Projekt seines Lebens.
Das gleiche Gefühl, „die Kraft des Purpose“, entsteht bei jedem Menschen und zwar bereits bei der scheinbar kleinsten Sinnaufgabe, aus der etwas Großes entstehen kann, aber nicht muss. So erlebe ich es immer wieder in meinen Berufungsberatungen, wenn z.B. die eigene Berufung ist, Tieren oder Menschen zu helfen und dieser Purpose im Beruf verwirklicht werden kann. Oder wenn sich jemand für die Begrünung von Städten oder „Urban Farming“ engagieren möchte und in der eigenen Nachbarschaft beginnt. Oder wenn jemandem der interkulturelle Austausch am Herzen liegt und aus der Idee eines Kultur-Cafés schließlich eine wunderbare Berufung und ein wichtiger gesellschaftlicher Beitrag wird. Hier gibt es so viele Beispiele wie es Sinnthemen und einzigartige Menschen gibt, die sich dafür engagieren.
Unsere Welt sinnvoll mitgestalten
„Frage nicht was Dein Land für Dich tun kann, sondern was Du für Dein Land tun kannst!“
John F. Kennedy
Googelt man den Begriff „Sinnthemen“ dann erscheint ganz oben sofort ein Beitrag „Berufe mit Sinn“ sowie „Zukunftsberufe“ für junge Menschen. Besonders berührt mich hier das Engagement der „New Generation“, für die das Leben der eigenen Berufung immer mehr zum Selbstverständnis wird und für die Authentizität und „die Welt sinnvoll mitgestalten“ ein zentrales Thema des eigenen Purpose ist.
Die sogenannten „Millennials“ werden daher immer öfter auch die „Purpose Generation“ genannt und sehen Sinn- und Lebensaufgabe als untrennbar miteinander verbunden. Berufung ist ein wesentlicher Teil der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die bereits mit einem neuen Bewusstsein auf die Welt gekommen sind und wissen, dass wir unsere globalen Probleme nur dann lösen und unsere Welt nur dann zu einem besseren Ort machen können, wenn wir sinnstiftend denken und handeln. In dieser Generation wird „Purpose“ zum Motor des dringend notwendigen Werte- und Gesellschaftswandels.
Wichtig ist mir an dieser Stelle der sanfte Hinweis, genau hinzuschauen, ob es sich bei entsprechenden Aktionen oder Projekten um das Engagement aggressiver Aktivisten handelt oder um das konstruktiver junger Menschen, die mit ihren Ideen und ihrem Einsatz wertvolle Lösungen für unseren aus dem Lot geratenen Planeten beisteuern. Aus meiner Sicht ist Berufung und das Leben des eigenen Purpose im Sinne der Seelenaufgabe immer konstruktiv und das Wohl des Ganzen im Auge behaltend.
Und hier trennt sich die Spreu vom Weizen, wenn der Purpose schleichend zum Wahn wird und dem Wohl der Menschen widersprechend eingebracht wird.
Spiritualität und Transzendenz
„Ich glaube, Gott hat uns in diese Welt gestellt, um darauf glücklich zu sein. Das Glück ist nicht die Folge von Reichtum oder Erfolg im Beruf […] Das eigentliche Glück findet ihr darin, dass ihr andere glücklich macht. Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt.“
Robert Stephenson Baden-Powell (Begründer der Pfadfinder-Bewegung)
Aus dieser Blickweise auf das Thema Purpose ist der Schritt nicht mehr weit zu dem aus meiner Sicht „Urgrund des Purpose: Spiritualität und Transzendenz“. Wir sind spirituelle Wesen, also Seelen in einem menschlichen Körper. Der Körper mit Hilfe unseres Gehirns und Nervensystems allein vermag nur unseren Stoffwechsel aufrecht zu erhalten. Erst durch unsere Seelenkraft, unseren Spirit, werden wir zu schöpferischen Wesen mit einer uns angeborenen Sinnorientierung, die wir in eine Sinnaufgabe, Berufung oder auch Seelenaufgabe einbringen können.
Schauen wir in die Augen eines neugeborenen Kindes, so können wir schon seine Seele erkennen, eingebettet in eine Ausstrahlung von Licht und Liebe. Unsere Seele ist unsere Essenz, unsere innerste Instanz, unser innerstes Selbst. Aus spiritueller Sicht finden wir unseren Purpose in unserer Seele, die mit uns über unser Gewissen, unser Herz, unsere Gefühle kommuniziert. Wenn wir genau hinhören oder hin spüren, so bekommen wir klare Hinweise, was uns wichtig ist, was wir schützen, unterstützen, stärken, bewegen, bewirken oder ins Leben rufen wollen.
So hat unser Purpose aus meiner Sicht immer mit etwas Gutem zu tun, denn wir sind auf diese Welt gekommen, um etwas Gutes, etwas Wertvolles, etwas Sinnstiftendes zu tun. Viktor Frankl sagte dazu: „Den einen Aspekt der Selbst-Transzendenz, den grundlegenden Tatbestand, dass der Mensch über sich selbst hinaus nach dem Sinn langt, den zu erfüllen – und zunächst einmal überhaupt zu entdecken – es gilt, pflege ich mit dem Sinn motivationstheoretischen Konzept eines ‚Willens zum Sinn’ zu umreißen.“
Insofern ist das Finden des Purpose und der Berufung eines der zentralen Themen im Leben eines jeden Menschen. Das kann nur jeder für sich tun (bzw. mit Unterstützung), um den Weg zur Selbsterkenntnis und zum Einbringen seiner authentischen Persönlichkeit in seine Berufung zu finden. Auf diese Weise erfüllen wir unseren Purpose, unsere Bestimmung, unsere Lebensmission und erleben gleichzeitig selbst die Erfüllung unserer Berufung.
Hören Sie hierzu auch den Beitrag über „Die Frage nach dem Sinn“ von Viktor Frankl und klicken Sie unten zu einem weiteren Artikel von Ursula Maria Lang über Lebenssinn und Berufung.
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