Windrad in Wunsiedel

Energiewende: Ideen, wie sie gelingen kann

Wunsiedel kann mit Wind, Sonne und Biomasse mehr Energie erzeugen als nötig. Mittlerweile gilt der „WUNsiedler Weg“ als Vorbild für ressourcenschonende, klimaneutrale und dezentrale Energieerzeugung.

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  • Strom- und Wärmeerzeugung

Text Antoinette Schmelter-Kaiser

Bild von Marco Krasser

Marco Krasser hat Elektrotechnik studiert. 2001 wurde der 29-jährige Ingenieur Geschäftsführer der Stadtwerke Wunsiedel und entwickelte ein innovatives Konzept für die Nutzung regenerativer Energien. Das Modell macht heute als „WUNsiedler Weg“ Schule.

Im Jahr 2000 betrug der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch laut Bundesregierung 6,3 Prozent, 17,1 Prozent 2010, 45,3 Prozent 2020, 52 Prozent Mitte 2023. Kein Zweifel: Das Tempo beim Ausbau von Windkraft, Solaranlagen & Co zieht spürbar an. Doch um die Klimaschutzziele zu erreichen, reicht das nicht.
Bis 2030 soll laut der nationalen „Dekarbonisierungsstrategie“ der Anteil erneuerbarer Energien auf mindestens 80 Prozent steigen. Denn sie verursachen keine schädlichen Treibhausgasemissionen und reduzieren die Abhängigkeit Deutschlands von Importen fossiler Energieträger. Seit Ausbruch des Ukrainekriegs ist das relevanter als jemals zuvor.

Energiewende Wunsiedel

Energiewende: ein bundesweites Vorbild

In einem 10.000 Einwohner-Städtchen im Nordosten Bayerns nahe der tschechischen Grenze ist diese Zukunftsvision bereits Gegenwart, ja, es werden die hochgesteckten Erwartungen von der Realität übertroffen: In Wunsiedel im Fichtelgebirge kann mit Wind, Sonne und nachwachsender Biomasse wetterabhängig deutlich mehr Energie erzeugt werden als vor Ort benötigt. Der Überschuss wird ins Netz eingespeist oder für sogenannte Dunkelflauten gespeichert: Zeiten, in denen weder Wind weht noch Sonne scheint.

Seit 1. Januar 2011 beliefern die Stadtwerke Wunsiedel alle Kunden mit 100 Prozent Ökostrom, der damals aber noch nicht vollständig vor Ort produziert werden konnte.

Schon 2012 wurde Wunsiedel zu „Deutschlands nachhaltigster Kleinstadt“ gewählt.

Mittlerweile ist der „WUNsiedler Weg“ ein Vorbild für ressourcenschonende, klimaneutrale und dezentrale Energieerzeugung.

Nicht ernst genommene Spinner

In den Anfangszeiten vor 20 Jahren war das anders. „Erneuerbare Energien waren noch kein Thema“, erinnert sich Marco Krasser. „Unser Interesse an ihnen wurde nicht ernst genommen, wir wurden als Spinner bezeichnet.“

Seite an Seite mit Wunsiedels damaligem Bürgermeister Karl-Willi Beck setzte Krasser als frischgebackener Geschäftsführer der Stadtwerke Wunsiedel trotzdem darauf, die lokale Energieversorgung ebenso gesamtheitlich wie nachhaltig und effizient neu zu denken. Seine Vision dabei: den nachfolgenden Generationen eine Welt zu hinterlassen, die frei von Sorgen um Rohstoff-Engpässe und Umweltgefahren sein sollte.
Schon während seiner Ausbildung war Krasser nämlich klar geworden: „Wir verschwenden zu viel Energie und endliche Ressourcen“.

Bild von Nicolas Lahovnik
Seit 2020 ist Nicolas Lahovnik Erster Bürgermeister von Wunsiedel

Klarer Auftrag von Bürgermeister Beck

Zweiter Grund für sein Engagement war ein „klarer Auftrag“ des Bürgermeisters: „Bei der ersten Aufsichtsratssitzung trug ich meine Sorgen vor, als kleines Stadtwerk von großen Energieversorgern geschluckt zu werden“, so Krasser. „Aber Karl-Willi Beck wollte von mir kein Jammern, sondern innerhalb von 14 Tagen ein tragfähiges Konzept für die Zukunft des kommunalen Unternehmens. Andernfalls sei ich meinen Job los, weil noch in der Probezeit.“
Als optimistisch-zupackender Typ ließ sich Krasser nicht einschüchtern. Stattdessen stellte er sich der Herausforderung und entwarf ein „Big Picture“, das auf dem konsequenten Einsatz und Ausbau regenerativer Energien sowie nachhaltiger Technologien zur Strom- und Wärmeerzeugung basierte – und Becks Zustimmung fand.

Schrittweiser Ausbau der erneuerbaren Energien in zwei Jahrzehnten

Erster Entwicklungsschritt war eine Photovoltaik-Anlage mit einer – aus heutiger Sicht bescheidenen – Leistung von 80,85 kWp auf dem Gebäude der Stadtwerke. Mangels kreditwilliger Banken wurde sie mit Bürgerbeteiligung finanziert und ging 2004 an den Start. Ihr folgten weitere PV-Flächen, die immer leistungsfähiger und umfangreicher wurden.

Als zweite Säule konnten Großwindanlagen zur Stromerzeugung errichtet werden.
Als dritte dienen Holzreste und Späne aus Sägewerken der waldreichen Region, die zu Pellets gepresst werden. Diese können Kunden kaufen und in privaten Feuerungsanlagen in Wärme umwandeln.

Alternative ist im Ortsteil Schönbrunn der Anschluss an ein Nahwärmenetz, das mit einem kommunalen Pellet-Blockheizkraftwerk betrieben wird. Ein größeres Wärmenetz im Zentrum von Wunsiedel ist im Werden; für neue Energiesektoren wurden die GmbHs WUN Solar, WUN Bioenergie, WUN Pellets und WUN H2 gegründet.

Energiewende Speicherung und Verteilung

Speicherung und Verteilung

Um Energie für Zeiten ohne ausreichende PV- oder Windkraft-Erzeugung bevorraten zu können, wurden in den vergangenen Jahren leistungsstarke Batteriespeicher installiert. 2022 ging in Kooperation mit Siemens als Berater, Technologielieferant und Partner ein Großelektrolyseur mit 8,75 Megawatt in Betrieb, der als Deutschlands bisher stärkster aus Sonnen- und Windkraft grünen Wasserstoff für Industrie- und Gewerbebetriebe erzeugt.
Wir hatten die richtige Einstellung zur richtigen Zeit. Unser System funktioniert“, freut sich Marco Krasser, den diese Bestätigung wie ein Perpetuum Mobile vorantreibt. Da er überzeugt war, dass der „WUNsiedler Weg“ auch andernorts funktioniert, akquirierte er weitere Kommunen: 2011 taten sich vier Gesellschafter in der ZukunftsEnergie Fichtelgebirge zusammen. Aus ihr wurde die ZukunftsEnergie Nordostbayern, die unter dem Motto „Gemeinsam Energie bewegen“ aktuell 31 Gesellschafter hat.

Auf andere Kommunen übertragbares Modell

Doch damit nicht genug: „In Deutschland gibt es 11.000 Kommunen mit weniger als 10.000 Einwohnern“, sagt Krasser. „Auch auf sie könnte unser Modell übertragen und so skaliert werden.“
Daran interessierte Besucher sind bei den Stadtwerken willkommen. Auch im „Haus der Energiezukunft“ können sie sich in einer Dauerausstellung schlau machen zu Technologien und Geschäftsmodellen, mit denen die Energiewende wirtschaftlich realisiert werden kann.
Diese Eigenwerbung hat Früchte getragen: In Wunsiedel haben sich mehrere Unternehmen angesiedelt, die ihr Geld mit der Erzeugung erneuerbarer Energien oder als Dienstleister und Zulieferer in diesem Segment verdienen. Andere zieht das Angebot an, lokalen Öko-Strom und -Wärme oder grünen Wasserstoff zu beziehen. Denn damit lässt sich die eigene Klimabilanz klar verbessern.

Großer Standortvorteil und Wirtschaftsmotor

CO2-Neutralität spielt zunehmend eine wichtige Rolle“, weiß Nicolas Lahovnik, der seit 2020 Erster Bürgermeister von Wunsiedel ist. „Insofern ist der Ausbau erneuerbarer Energien für Wunsiedel ein großer Standortvorteil und ein massiver Wirtschaftsmotor – insbesondere nach einer Zeit, in der die Region mit dem Niedergang der Textil- und Porzellanindustrie unter einem massiven Strukturwandel zu leiden hatte.“ Zusätzlich könnten die Stadtwerke dank der dezentralen, autarkiefähigen Strom- und Wärmeerzeugung mit Versorgungssicherheit punkten. Auch diese sei ein Resultat der „Pionierarbeit“ von seinem Vorgänger Karl-Willi Beck und Marco Krasser.

Ausbau erneuerbarer Energien

Feldforschung und Spielwiese

Auf die wird jetzt weiter aufgebaut: Zehn MW zusätzliche Leistung bei Windkraft, 80 MW bei PV und 4,5 MW bei Biomasse sind zeitnah im Netzgebiet der Stadtwerke geplant. On top werden laut Lahovnik Erzeugung, Verteilung und Steuerung mit modernsten digitalen Anwendungen optimiert und „intelligent“ gemacht. Auch dafür fließen Gelder von Finanzinstituten oder Fördermittel. „Früher sind wir bei Banken auf taube Ohren gestoßen“, blickt Lahovnik zurück. „Heute müssen wir dank der überregionalen Aufmerksamkeit und guten Akzeptanz niemanden mehr bitten und überzeugen.“

Jüngster Coup sind 15,5 Millionen Euro, die der Freistaat Bayern für den Bau eines „Future Energy Lab“ zugesagt hat: Unter Federführung der Universität Bayreuth entsteht mit ihm ein Reallabor für Themen rund um Gewinnung und Speicherung von grünem Wasserstoff als Energiebrücke der Zukunft. Auch hier ist das Ziel, aus den praktischen Erfahrungen in Wunsiedel zu lernen – für Lahovnik eine „perfekte Feldforschung“ und „Spielwiese“ zugleich.

Teil der tollen Lebensqualität

Das wegweisende Energiekonzept ist für den 34-Jährigen Teil der „tollen Lebensqualität“ von Wunsiedel. Weitere Pluspunkte sind in seinen Augen jeden Sommer die Luisenburg-Festspiele, kurze Wege, reichlich Arbeitsplätze, erschwingliche Mieten und Immobilienpreise, sämtliche Schularten und die Nähe zur Natur, die vor der Haustür wartet.

Wir haben einen starken Zuzug von jungen Familien“, stellt der Vater eines Sohnes zufrieden fest. Er selbst kommt aus Bad Kissingen, ist seiner Frau zuliebe nach Wunsiedel gezogen und fühlt sich hier mit ihr rundherum angekommen. Auf Lahovniks Hausdach liegen PV-Module; mit ihrem Strom werden zwei E-Fahrzeuge betrieben. Auch das trägt zur Umsetzung der von der Bundesregierung angestrebten Energiewende bei.

Fotos: WUNsiedler Weg, Bernd Schumacher, Monique Wuestenhagen

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