Boeris Begeisterung für Bäume
Natur in Städte zu holen, die urbane Lebensqualität und Biodiversität erhöhen: das ist das Ziel von Stefano Boeri. Vor zehn Jahren wurde der Architekt mit seinem Bosco Verticale berühmt. Heute gilt er als einer der wichtigsten Vordenker nachhaltigen Bauens weltweit.
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- Nachhaltige Architektur & Green Building
- Begrünung von Häusern
- Senkrechten Wald
Text Antoinette Schmelter-Kaiser
Stefano Boeri studierte in Mailand Architektur. 1993 eröffnete er sein erstes Boeri Studio, das heute Filialen in Mailand, Tirana und Shanghai hat. Als Professor lehrt er an mehreren Universitäten, ist Autor für Magazine und Bücher sowie ein gefragter Redner.
Weil er ein Schneckengericht seiner Schwester nicht essen will, klettert der zwölfjährige Cosimo auf eine Steineiche und von dort aus in andere Bäume. In deren Wipfeln richtet sich der Junge häuslich ein – und zwar auf Dauer. Denn bis zu seinem Tod 50 Jahre später setzt Cosimo keinen Fuß mehr auf den Boden, ergreift kurz vor dem Sterben das Seil einer zufällig vorbeischwebenden Montgolfière und verschwindet für immer.
Diese phantastische Handlung in Italo Calvinos 1957 erschienenem Roman „Il barone rampante“ beeindruckte Stefano Boeri als Kind so sehr, dass ihm fortan eine besondere Begeisterung für Bäume erhalten blieb.
Ein Haus, speziell für Bäume
Ein Haus speziell für sie – und nicht mit ihnen als dekoratives Beiwerk – zu bauen: Diese Idee schwebte Boeri Jahrzehnte später als Architekt vor. Der 1956 geborene Mailänder bekam mit seinem 1993 eröffneten Studio die Chance, seinen Traum im Rahmen der Neugestaltung des Viertels Porta Nuova im Norden vom Zentrum Mailands ab 2007 in die Tat umzusetzen: zwei Türme mit 112 und 80 Metern Höhe, auf deren 27 beziehungsweise 19 Etagen insgesamt 113 Eigentumswohnungen untergebracht sind.
Der Name des Duos spricht Bände:
Bosco Verticale – auf Deutsch „senkrechter Wald“ – steht für die Begrünung sämtlicher Terrassen und Balkone mit über 900 Bäumen, 5.000 Sträuchern und 15.000 weiteren Pflanzen.
Risiko mit offenem Ausgang
Um die passenden Arten auszuwählen und den Bau auf sie abgestimmt zu gestalten, holte Stefano Boeri die Botanikerin Laura Gatti und Wissenschaftler mit ins Boot, ließ sie zu den besonderen Wachstumsbedingungen, Bewässerungs- und Pflegemöglichkeiten forschen, aber auch die Widerstandskraft von Bäumen im Windkanal testen, denn „Sicherheit sollte oberste Priorität haben“. Schließlich kamen Kräne zum Einsatz, um fast ein Jahr lang die durch Auskragungen strukturierte Fassade mit Akazien, Ahornen, Steineichen, Eschen, Olivenbäumen, Farnen und Kräutern zu bepflanzen.
„Es war ein Risiko. Wir wussten nicht, was dabei herauskommt“, blickt Stefano Boeri auf die herausfordernde Planung und Umsetzung des Bosco Verticale zurück.
„Ich hatte anfangs zugegebenermaßen viele Sorgen.“
Pflege durch kletternde Gärtner
Diese Ängste erwiesen sich als unbegründet. Seit der Fertigstellung 2014 gedeiht die Bepflanzung, die einer Fläche von drei Hektar Wald oder fünf Hektar Park entsprechen, besser als erwartet. Die Bewohner genießen in jede Himmelsrichtung einen Blick ins Grüne, das sich mit dem Wechsel der Jahreszeiten immer wieder verändert und ihnen selbst keinerlei Arbeit macht. Denn um das Beschneiden oder Ausdünnen kümmern sich kletternde Gärtner, die sich vom Dach abseilen; auch die Bewässerung läuft vollautomatisch über Sensoren in den Pflanzkübeln.
Auf Anhieb bekamen die ikonischen Doppeltürme den Internationalen Hochhauspreis 2014, wurden in den letzten zehn Jahren zigtausendfach von Architekturfans genauso wie von Touristen fotografiert und machten Stefano Boeri Architetti international bekannt.
Prototyp für weltweite Projekte
Als größtes Lob nutzte die UN den Bosco Verticale als Referenz für ihr 11. Ziel, „Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten“. Stefano Boeri motiviert sein Bosco Verticale als „Prototyp, bei dem noch nicht alles perfekt war, die Ziele immer höher zu stecken und weitere Möglichkeiten auszuloten“; er dient ihm als Beweis, dass die großflächige Bepflanzung von Gebäuden Schatten spendet, im Sommer die Temperatur auf der Fassade und in Innenräumen signifikant senkt, Vögel und andere Tiere anlockt und so die Artenvielfalt erhöht, Feinstaub aus der Luft herausfiltert und CO2 in Sauerstoff umwandelt.
Folgerichtig ließ und lässt sich Stefano Boeri von seiner „Green Obsession“ leiten, über die er 2023 mit anderen Autoren ein gleichnamiges Buch veröffentlicht hat.
Mehr urbane Lebensqualität
Mit dem Ziel, mehr lebendige Natur in Städte zu holen und die urbane Lebensqualität sowie Biodiversität zu erhöhen, fokussieren sich Stefano Boeri Architetti auf Gebäude mit vertikaler Aufforstung. Drei Büros in Mailand, Shanghai und Tirana sind derzeit an 77 Projekten in 28 Ländern beteiligt – zum Teil fertig gestellt, andere im Bau oder geplant. Zum Beispiel der Trudo Vertical Forest in Eindhoven, wo hinter der begrünten Fassade dank vorfabrizierter Elemente 125 kostengünstigere Sozialwohnungen entstanden.
Auf der neuen Poliklinik in Mailand soll ein 7.000 Quadratmeter großer Dachgarten für Patienten, Personal und öffentliche Events angelegt werden.
Und in den Komplex des Rehabilitation Center in Shenzhen, China, wurden Terrassen mit Obst-, Gemüse- und therapeutischen Gärten integriert.
Spezifischer Platz für jede Pflanze
Je nach Ort und den (mikro-)klimatischen Bedingungen wählen Expertinnen und Experten geeignete Pflanzen für die zukünftige Begrünung der Gebäude aus. Bei deren Entwurf wird berücksichtigt, welchen spezifischen Platz und welche Position alle Pflanzen zum Wachsen brauchen. Um sie auf darauf vorzubereiten, dass sie später nicht in die Tiefe wurzeln können, lernen sie in lokalen Baumschulen, mit dem begrenzten Raum von Pflanzgefäßen zurecht zu kommen. Bei ihrer späteren Anordnung am Gebäude wird darauf geachtet, dass sich die Pflanzen ergänzen und nicht behindern, rund ums Jahr immer irgendetwas grünt oder blüht.
Bekämpfung der globalen Erderwärmung
Über einzelne Gebäude hinaus beschäftigen sich Stefano Boeri Architetti auch mit Masterplänen für Stadtviertel, Parks oder komplette Forest Cities, zum Beispiel im chinesischen Liuzhou, im slowakischen Bratislava und im mexikanischen Cancún. Denn für Stefano Boeri sind Wiederaufforstung und Bewaldung „der effizienteste, kostengünstigste und umfassendste Weg zur Bekämpfung der globalen Erderwärmung“; für diese Ziele macht er sich auch als Präsident der Stiftung „Future of Cities“ und Co-Vorsitzender des wissenschaftlichen Ausschusses des „World Forum of Urban Forests“ stark und spricht regelmäßig vor Publikum, „weil es sich um eine komplexe Idee handelt, die erklärt werden muss“.
Um sie zu verbreiten, gibt es kein Copyright für den Bosco Verticale oder Varianten, Nachahmung ist laut Stefano Boeri ausdrücklich erwünscht.
Neue Balance aus Bauwelt und Umwelt
2024 war er Creative Explorer der munich creative business week (mcbw). Sie stand unter dem Jahresmotto „How to co-create with nature“, um mit der Natur zu arbeiten, zu leben und zu wachsen statt sie zu dominieren.
“Jedes Jahr suchen wir Pioniere, die mit ihrem Engagement das jeweilige Leitthema verkörpern und unsere Gesellschaft voranbringen. Boeri ist ein solcher Pionier“, hieß es im Begleitheft der mcbw.
Der Architekt und Stadtplaner gelte als einer der wichtigsten Vordenker nachhaltigen Bauens weltweit. Sein Blick richte sich auf eine neue Balance aus Bauwelt und Umwelt. In seiner Key Note beim Design Summit forderte Stefano Boeri:
„Städte sollten nicht Opfer des Klimawandels sein, sondern ihn als Akteure verlangsamen.“
Der Bosco Verticale sei ein Versuch, etwas anders zu machen.
„Erst war die Skepsis ihm gegenüber groß. Aber jetzt spricht das Ergebnis für sich“, sagt Stefano Boeri.
Dass es ihm gelungen ist, mehr Bäume in Städte zu bringen, macht ihn sichtlich stolz – ein wichtiger Beitrag zur besseren Koexistenz von Pflanzen, Menschen und anderen Lebewesen.
Fotos: Stefano Boeri Architetti, Laura Cionci, Giovanni Gastel