Berührend nachhaltige Bauten aus Lehm
Anna Heringer ist Idealistin und baut bevorzugt mit Lehm. Architektur versteht sie als ein mächtiges Werkzeug für den Wandel und die Verbesserung von Lebensbedingungen, auch in Deutschland.
Hier erfahren Sie mehr über
- Die Nutzung natürlicher, lokaler Materialien
- Das nachhaltige Baumaterial Lehm
- Vorbilder für nachhaltiges Bauen auf der ganzen Welt
Text Antoinette Schmelter-Kaiser
Anna Heringer hat in Linz Architektur studiert. Seit ihrem Abschluss plant und realisiert sie Bauten aus nachhaltigen, natürlichen Materialien und lehrt an verschiedenen Universitäten. Ihre Arbeit wurde mit namhaften Preisen ausgezeichnet und auf Ausstellungen gezeigt.
Wenn Anna Heringer ein neues Projekt angeht, hat sie immer die Frage im Kopf: „Was braucht der Ort?“ Außerdem fokussiert sie sich bei ihren „maßgeschneiderten“ Entwürfen auf die Nutzung lokaler Materialien aus und hat aufgrund dessen „gewisse Limits“. Abgesehen davon greift sie aber weder auf ein bewährtes Repertoire noch einen bestimmten Formenkatalog zurück. Stattdessen macht sich die Architektin „komplett leer“, nimmt einen großen Batzen Ton und gibt ihm mit den Händen eine Form.
Dabei lässt sie sich von ihrem Bauchgefühl leiten und spürt, „wenn es innerlich Klick macht“?, ihr also plötzlich eine passende Idee kommt. Diese Vorgehensweise vergleicht sie mit einem Koch, der sich aus einem vollen Kühlschrank bedient und daraus ohne Rezept ein leckeres Gericht zubereitet – allerdings kein Anfänger, sondern einer mit Erfahrung, weil man für ihre intuitive Herangehensweise zuvor „viel gesehen und ausprobiert haben muss“, so Anna Heringer.
BERÜHRENDE BAUTEN
Mit diesem kreativen Konzept sind ihr besondere Bauten gelungen wie eine luftige Schule und ein geschwungen geformtes Therapiezentrum für Behinderte aus Lehm sowie Bambus in Bangladesch, drei filigrane Bambuskonstruktionen für ein Hostel in China, ein schlicht-schönes Gästehaus aus Holz und Lehm für das Ayurveda-Kurzentrum RoSana in Rosenheim oder der Prototyp für einen Gebärraum aus Lehm, der mit Hunderten kleiner, roter Holzschindeln verkleidet auf einer Wiese in der Nähe des Frauenmuseums Hittisau steht.
Sie alle sollen mit ihren Materialien die „Menschen berühren“, ein Gefühl der Geborgenheit geben und sie idealerweise beim Entstehungsprozess einbeziehen – seien es ortsansässige Handwerker, seien es Gemeindemitglieder vom Kind bis zum Senior, die zum 1.000sten Geburtstag des historischen Doms in Worms einen monolithischen Altar aus Stampflehm errichtet haben.
KRAFT IM GEMEINSAMEN PROZESS
Den Werdegang von Anna Heringer haben mehrere Faktoren entscheidend beeinflusst. Als Mädchen war die 1977 Geborene bei den St. Georgs Pfadfindern im oberbayerischen Laufen, deren Stamm ihr Vater Sepp Heringer gründete. „Bei unseren sommerlichen Zeltlagern haben wir für ein oder zwei Wochen mit einfachen Materialien eine kleine Siedlung gebaut“, erinnert sich Anna Heringer. „In diesem gemeinsamen Prozess entsteht ein echtes Empowerment.“
Nach dem Abitur ging sie ein Jahr nach Bangladesch, um sich bei der NGO-Organisation Dipshikha für einen besseren Bildungsstandard auf dem Land zu engagieren und „das Leben aus einer anderen Perspektive kennenzulernen“. In ihrem anschließenden Architektur-Studiums in Linz lernte sie in einem Workshop von Martin Rauch das Baumaterial Lehm kennen, das sie auf Anhieb als „Missing Link“ empfand und in der Folge als zentrales Thema ihrer Diplomarbeit auswählte. Resultat war der Entwurf für das „Modern Training Institute“ (METI) im bangladeschischen Rudrapur, wo Kinder in den üblichen Schulfächern lernen, aber auch kreativ arbeiten, musizieren und tanzen können.
NETZWERK ALS UNTERSTÜTZER
Um dieses Lehmbau-Projekt zu realisieren, mobilisierte Anna Heringer ihr gesamtes Netzwerk, sammelte mit den Laufener Pfadfindern und dem Verein Shanti 30.000 Euro und stellte einen Bautrupp zusammen, zu dem auch Studienkollegen und ihr Cousin – ein Korbflechter und Zimmerer – gehörten.
„Am Anfang hielt sich die Begeisterung in Rudrapur in Grenzen, weil Schulen dort Prestigeobjekte sind und der Standard-Vorstellung eines Baus aus Ziegeln und Beton entsprechen sollten“, blickt sie zurück. Doch dann habe im ständigen Austausch mit der Bevölkerung das Verständnis für ihren Ansatz zugenommen, lokale ökologische Ressourcen als Material zu verwenden und einheimische Arbeitskräfte mit ins Boot zu holen.
Auch ästhetisch konnte Anna Heringer mit der Kombination aus einer Lehm-Basis überzeugen, die ein Obergeschoss samt Dach aus Bambusstangen krönt. Farbtupfer sind bunte Stoffbahne vor bodentiefen Fensteröffnungen und entlang der Raumdecken.
NEUES, HOFFNUNGSVOLLES MODELL
Als hochkarätige Anerkennung bekam sie 2007 den Aga Khan Award für Architektur. In ihrer Begründung lobt die Jury die METI-Schule als „neues und hoffnungsvolles Modell für nachhaltiges Bauen auf der ganzen Welt.“
Auf diese Auszeichnung sind mehr als ein Dutzend weitere gefolgt und vor allem im Ausland spannende Projekte. Aber auch hierzulande fasst Anna Heringer immer mehr Fuß. Derzeit arbeitet sie an einem Ausbildungszentrum namens Tatale in Ghana, das von den Salesianern betrieben wird, und dem Campus für Nachhaltigkeit St. Michael in Traunstein mit der Erzdiözese München und Freising als Auftraggeber.
In Afrika hat Anna Heringer mit der Herausforderung zu kämpfen, als Architektin genauso anerkannt und ernst genommen zu werden wie männliche Kollegen. In ihrer Heimat sei „wahnsinnig viel Kraft“ gefordert, weil Lehmbau zwar eine lange Tradition, aber keine Lobby habe und es noch immer keine behördliche Zulassung für den Campus in Traunstein gibt.
DANKBARKEIT FÜR DEN BERUF
Trotz Momenten der Erschöpfung dominiert bei Anna Heringer „ein gutes Gefühl“ und Dankbarkeit für ihren Beruf, in dem für sie „jeder Moment Sinn macht“. Denn als „leidenschaftliche Idealistin“ ist sie der Überzeugung, dass Architektur „ein mächtiges Werkzeug für den Wandel“ und die Verbesserung von Lebensbedingungen ist – möglichst immer unter Verwendung vor Ort vorhandener, natürlicher Materialien.
Als Favoriten verwendet sie Lehm, weil der vielerorts rund um den Globus vorkomme, ohne großen Energieaufwand zu verarbeiten und leicht zu formen sei, die Luftfeuchtigkeit perfekt ausbalanciere, sich faszinierend anfühle und rückstandlos recycelt werden könne.
„Zu Unrecht gilt Lehm als armes, altmodisches Material, das zum Beispiel Ziegeln unterlegen ist. Für mich kommt auf die kreative Fähigkeit an, es auf zeitgemäße Weise zu verwenden und das Beste aus ihm herausholen“, macht Anna Heringer klar.
Konsequenterweise umgibt die Architektin sich auch in ihrer Altbauwohnung in Laufen mit sechs Tonnen dieses Materials, die an den Wänden für ein angenehmes, gesundes Raumklima sorgen und Ruhe ausstrahlen.
UNTERSTÜTZER ALS GROSSER SCHATZ
Nicht nur wegen dieses Wohlfühlorts kehrt Anna Heringer von regelmäßigen Geschäftsreisen, Lehrveranstaltungen oder Vorträgen im In- und Ausland gerne in ihr Heimatstädtchen zurück, das an der österreichischen Grenze liegt.
Weitere wichtige Gründe sind ihre Familie, viele Freunde, das engagierte Team in ihrer Bürogemeinschaft und andere Unterstützer, die für sie „ein total großer Schatz“ sind. Zu ihm gehören auch die Schneidermeisterin Veronika Lena Lang und die Designerin Elke Burmeister, die zu einem weiteren Herzensprojekt beitragen: Dipdii Textiles – Kissen, Jacken und Westen, für die bis zu sechs Schichten getragener Saris und Longis, die Männer als Wickelrock verwenden, per Hand zusammengenäht und bestickt werden.
Dieses Upcycling übernehmen Frauen in Nord-Bangladesch, die dank dieser Tätigkeit in ihren Dörfern bleiben können und nicht in städtischen Zentren der Textilproduktion abwandern müssen.
POESIE STATT PERFEKTION
Statt uniformen, schnelllebigen Modetrends zu folgen, ist jedes Stück von Dipdii bewusst individuell und drückt mit einer farbenfrohen, strukturierten Oberfläche, zu der auch fadenscheinige Stellen gehören, vielfältige Lebensgeschichten aus – Poesie statt Perfektion.
„Die Motivation für meine Arbeit ist es, Architektur und Design als Medium zu nutzen, um das kulturelle und individuelle Vertrauen zu stärken, die lokale Wirtschaft zu unterstützten und das ökologische Gleichgewicht zu erhalten“, so Anna Heringer. „Für mich ist Nachhaltigkeit ein Synonym für Schönheit und Schönheit ein formaler Ausdruck von Liebe.“
Fotos: Alizée Cugney, Frauenmuseum Hittisau/Angela Lamprecht, Gerald v. Foris, Jenny JI, Stefano Mori