LASS MICH DEINE BOTSCHAFT WISSEN!
Ein ungewöhnliches Experiment: Eine weihnachtliche Geschichte von Kat Schuetz nicht MIT, sondern ZU den Bildern von Anke Schaffelhuber. Das Ergebnis? Lesen Sie selbst!
Hier erfahren Sie mehr über
- Glauben
- Erleuchtung
- Gemeinschaft
Text Kat Schuetz, Fotos: Anke Schaffelhuber
Kat Schuetz lebt in München und Sarasota, Florida. Sie ist Mitgründerin des Sarasota Art Museums und verfasste die Biografie über den New Yorker Künstler Geoffrey Hendricks „Himmel über Fluxus“ sowie die „Know Thyself. Heal Thyself.“ – Buchserie. knowandhealthyself.net
Mit einer Hand hielt sie ihren Mantel zu, mit der anderen Hand griff sie ihre Mütze. Das plötzliche Schneetreiben hüllte die Stadt voller Weihnachtslichter und glitzernder Dekorationen in einen weiß-grauen Schleier. Konturen und Formen verwischten vor ihren Augen. Von Weitem war „Jingle Bells“ zu hören. Aber nichts von dem war ihr bewusst, als sie das Museum betrat. Sie ließ diese Welt zurück und tauchte für eine Weile in ein beschütztes Reich von Schönheit, Stille und Kontemplation ein. Ein Reich, das weit über die äußere Realität hinausreichte und voller Botschaften war.
Sie betrat das Museum stets mit demselben Ritual. Sie schloss ihre Augen und nahm 10 tiefe Atemzüge. 10 – die Zahl der Vollkommenheit. 10 – die Zahl, die die maskuline 1 mit der femininen 0 verband und so Balance symbolisierte. Und mit jedem Ausatmen stellte sie sich vor, wie sie den Lärm und den Stress der verrückten Welt abstreifte, während sie mit jedem Einatmen Stille und Frieden inhalierte.
Dann öffnete sie langsam ihre Augen und nahm eine bewusste Verbindung mit dem Museum auf. Sie sog seine Stimmung in sich auf, atmete seine Gerüche ein, lauschte seinen Geräuschen, fühlte die Historie seiner Gemäuer in ihren eigenen Knochen. Bis sie schließlich einen inneren Ruf empfing, dem sie vertrauensvoll folgte und der sie zu einem bestimmten Kunstwerk führte.
Sie betrat das Museum stets mit demselben Ritual. Sie schloss ihre Augen und nahm 10 tiefe Atemzüge.
10 – die Zahl der Vollkommenheit. 10 – die Zahl, die die maskuline 1 mit der femininen 0 verband und so Balance symbolisierte. Und mit jedem Ausatmen stellte sie sich vor, wie sie den Lärm und den Stress der verrückten Welt abstreifte, während sie mit jedem Einatmen Stille und Frieden inhalierte. Dann öffnete sie langsam ihre Augen und nahm eine bewusste Verbindung mit dem Museum auf. Sie sog seine Stimmung in sich auf, atmete seine Gerüche ein, lauschte seinen Geräuschen, fühlte die Historie seiner Gemäuer in ihren eigenen Knochen. Bis sie schließlich einen inneren Ruf empfing, dem sie vertrauensvoll folgte und der sie zu einem bestimmten Kunstwerk führte.
Incarnation
INKARNATION
Und dann stand sie vor ihm, erfüllt von diesem tiefen Glauben, dass dieses Kunstwerk eine Botschaft offenbaren würde, wie es schon so oft passiert war. Eine Botschaft, verborgen irgendwo in seiner Bildsprache von Farben, Formen, Symbolen und Metaphern.
Eine Botschaft, die ihr Dasein verändern würde.
Sie wusste wohl, dass es nie eine Botschaft war, die sie auf den ersten Blick erkennen konnte. Sie musste sich an die Botschaft, die das Kunstwerk für sie bereithielt, herantasten mit all ihren Sinnen, mit all ihrer Geduld. Von außen nach innen, präsent im Hier und Jetzt. So fing sie an mit den Offensichtlichkeiten des Kunstwerks. Geburtsort. Geburtszeit. Erschaffender Künstler. Ein paar kunsthistorische Details vielleicht. Bei einem Ölbild betrachtete sie die Konduktion des Pinselstrichs, die Dicke der aufgetragenen Ölfarbe, die Farbverläufe. Bei Fotografien interessierte sie die Technik. Digital oder analog? Farbe oder schwarz-weiß?
Bei Skulpturen war es das Material. Marmor. Holz. Ton. Draht. Kombinationen. Warum diese Technik? Warum jenes Material? Dann widmete sie sich dem Inhalt und der Komposition. Welche Landschaften, Gebäude, Szenerien, Personen oder abstrakte Formen waren abgebildet und in welchem Verhältnis standen sie? Wo lag die Dynamik der Komposition? Warum gerade diese Szenerie?
„Lass mich Deine Botschaft wissen!“, flüsterte sie.
Bisweilen drängte ihre Ungeduld sie, dieses formale Vorspiel abzukürzen. Doch ihre Erfahrung ließ sie stets fortfahren. Das Vorspiel war der Schlüssel für die Entdeckung des Verborgenen. Sie konnte nichts überstürzen. Sie wusste, dass die Kunst nur mit dem Herzen kommunizierte und den separierenden, rationalisierenden Geist umging. Die Kunst verwendete die Sprache des Unterbewusstseins, wo alles traumhaft und fließend war. Sie stiftete Sinn in symbolhafter und metaphorischer Weise. Sie musste also langsam mit dem Kunstwerk verschmelzen und stillgelegte Energien ihres Herzensbewusstseins heraufbeschwören. Seine Formen mussten ihre werden. Seine Farben mussten ihre werden. Seine Szenen mussten ihre werden. Von außen nach innen, präsent im Hier und Jetzt.
„Lass mich Deine Botschaft wissen!“, flüsterte sie erneut.
Bis sie irgendwann eine leise Bewegung in sich spürte. Eine Emotion. Vage innere Bilder. Immer im Herzensraum, nie im Kopf. Die Botschaft begann, sich in ihr zu regen. Ganz still stand sie, all ihre Sinne auf das Kunstwerk gerichtet, ihr Herz offen und empfangsbereit. Der Atem ruhig und regelmäßig. Sie war beschützt im Reich von Schönheit, Stille und Kontemplation.
Nichts anderes war relevant.
Dann endlich. Ein energetischer Schauer ging durch ihren ganzen Körper, warm und elektrisierend. Und mit ihm kamen die Erinnerungen, breiteten sich aus im Hier und Jetzt.
Nichts anderes hatte mehr Platz.
Inception
ERINNERUNGEN UND DER ANFANG VON ALLEM
Erinnerungen, die tief in ihr geschlummert hatten. Nicht gelebte Träume. Vergessene Gefühle von vergangenen Dramen und Triumpfen.
Erinnerungen, die sie vielleicht sogar unterdrückt hatte, die nun aber drängten von ihr wieder gespürt zu werden.
Erinnerungen, die nun bereit waren zu heilen.
Der Geruch von Pinien, der im Sommer die Côte d’Azur tränkte. Das Glitzern der Sonne auf dem türkisfarbenen Meer. Jeden Sommer war sie mit ihren Eltern und ihren Bohème-Freunden in Saint-Tropez gewesen. Es wurde zusammen gekocht, gegessen, getrunken und gelacht. Bis in die späte Nacht hinein. Lichterketten vor dem sternengefüllten Himmel. Die Füße im noch warmen Sand.
Louis Armstrong’s rauchig-warme Stimme, die „What a Wonderful World“ sang. Das Lieblingslied ihrer Großmutter. Bis zu ihrem Tod schallte die Melodie auf einem alten Schallplattenspieler täglich durch ihr kleines Haus. Die zarten, faltigen Hände ruhig auf ihrem Schoss. Der verträumte Blick aus dem Fenster gerichtet, hinaus in die Weite. Ein leises Lächeln auf den Lippen. Als ob sie den geliebten Großvater, der vor ihr gegangen war, sah.
Der frühe und unerwartete Tod der Mutter. Die Enge in der Kehle und im Herzen. Die Ohnmacht, als die Endgültigkeit klar war. Die vielen Fragen. Warum? Warum so früh? Gab es ein Leben nach dem Tod? Was war der Sinn des Lebens? Gab es eine Lebensbestimmung?
Oder das Ende einer langen und intensiven Beziehung. Verloren sein. Die Angst vor Einsamkeit. Die Tränen auf der Wange. Appetitlosigkeit. Lieblosigkeit.
Jede Botschaft führte sie auf sich selbst zurück. Aus der Benommenheit und Taubheit heraus, die diese Welt in ihrer Verrücktheit, Schnelligkeit und Brutalität oftmals von ihr verlangte, zurück in das Spüren. Zurück in das gesamthafte Sein im Hier und Jetzt. Mit allen Schmerzen und Freuden, Ängsten und Lieben.
In manchen Momenten kam ihr der Gedanke, dass ihr Glaube an die Botschaft nichts anderes war als der Glaube an sich selbst und ihr ursprünglichstes Sein.
Doch heute war es anders.
Kein Kunstwerk rief sie. So sehr sie auch im Glauben lauschen mochte. So sehr sie auch in Geduld verharrte. Sie fragte sich, ob sie irgendetwas anders gemacht hatte. Aber sie konnte nichts finden. Sie schloss abermals ihre Augen und wiederholte ihr Atemritual. Aber auch das änderte nichts.
The Temple of Art
DER TEMPEL DER KUNST
Nach einer Weile, etwas irritiert, aber nicht bereit aufzugeben, begann sie stattdessen die Besucher des Museums zu betrachten. Kleidung, Gang, Haltung. Sie studierte ihre Gesichter und Gesten. Da war eine ältere Dame mit Hut und Stock. Eine Familie mit Kinderwagen und einem ziehenden und zerrenden Kind an der Hand. Ein Pärchen, Arm in Arm. Und waren das nicht buddhistische Mönche? Sie beobachtete all die Menschen, wie sie von Kunstwerk zu Kunstwerk gingen, wie lange sie vor den einzelnen Bildern verharrten, wie sie miteinander flüsterten.
Sie observierte die Kinder einer Schulklasse, wie sie verteilt auf dem Boden saßen, ausgestattet mit Heft und Stift, und ein Werk ihrer Wahl analysierten. Sie stellte sich vor, wie all diese Menschen ihre Herzen öffneten und mit den Kunstwerken in energetischen Austausch gingen. Sie fragte sich, welche verborgenen Gespräche wohl geführt wurden, welche Fragen gestellt wurden, welche Botschaften sie erhalten mochten.
Dabei merkte sie kaum, dass sie langsam mit all diesen Menschen und all der Kunst verschmolz, dass all diese Museumsszenen ihre eigenen wurden, dass sie langsam stillgelegte Energien ihres Herzensbewusstseins heraufbeschwor.
„Lass mich Deine Botschaft wissen!“, flüsterte sie intuitiv.
Script
DAS REICH DER KONTEMPLATION
Und dann endlich spürte sie eine leise Bewegung in sich. Eine Emotion. Vage innere Bilder. Im Herzensraum, nicht im Kopf. Ganz still saß sie, all ihre Sinne auf die Menschen gerichtet, ihr Herz offen und empfangsbereit. Der Atem ruhig und regelmäßig. Sie war beschützt im Reich von Schönheit, Stille und Kontemplation. Nichts anderes war relevant.
Und dann plötzlich ging ein energetischer Schauer durch ihren ganzen Körper. Er traf sie wie ein Blitz. Er war wärmer und elektrisierender als jemals zuvor, brachte eine Botschaft, – eine Erinnerung -, die grandioser war als jemals zuvor.
Eine Erinnerung, die nicht ihr allein, sondern allen Menschen zu gehören schien.
Eine Erinnerung, dass es etwas gab, was allen Menschen gleichermaßen innewohnte, alle Menschen verband und damit jegliche Differenz von Alter, Geschlecht, Tradition, Religion, Kultur, oder Bildung nivellierte.
Hier und jetzt, in der Gegenwart der Kunst und dieser Menschen, wurde sie sich zum ersten Mal der Ur-Einsamkeit und des fundamentalen Gefühls der Fremdheit bewusst, die das Leben durchzog. Es war die Tragik der Isolation und Verlorenheit, die alle Menschen einte. Doch diese Tragik kannte auch die unleugbare Sehnsucht in allen Menschen, die Isolation und Verlorenheit zu überwinden. Und diese Sehnsucht lag wie ein ewiger Hoffnungsschimmer über dem Leben, gab der Dunkelheit des Herzens Licht.
Jeder Mensch war ein Vergessender, der sich sehnte zu erkennen, wer er war, woher er kam und wohin er ging.
Jeder Mensch war ein Suchender, der finden wollte, wohin er gehörte.
Jeder Mensch wollte die unerklärten Tiefen des menschlichen Daseins erhellen.
Jeder Mensch wollte in einem gesamthaften Sein leben, das seine Schmerzen und Freuden, Ängste und Lieben, umfasste.
Jeder Mensch glaubte tief im Inneren daran, dass er eines Tages die ersehnte Botschaft erhalten würde und sich erinnerte.
Curiosity
ZUGEHÖRIGKEIT UND GEMEINSCHAFT
Für eine weitere Weile ließ sie diese Erkenntnis auf sich wirken, spürte hinein in diese neugefundene Allverbundenheit in ihrem Herzen. Sie genoss den Balsam dieses Gefühls menschlicher Zugehörigkeit und Gleichheit, badete in dem Segen dieser Offenbarung.
Und mit diesem offenen Herzen verließ sie schließlich das Museum und kehrte zurück in diese verrückte, laute Welt. Ihr Herz schlug gleichmäßig und freudig, als Schneeflocken ihr Gesicht streiften, als sie die Weihnachtslichter sah, als der Geruch von Lebkuchen und Glühwein ihre Nase umspielte, als die Melodie von „Last Christmas“ ihren Hörsinn beschwingte, als sie das Lachen und Reden der Menschen vernahm.
Sie war eins mit allen Menschen.
Sie glaubte fest an diese Botschaft und nannte es Erleuchtung.
Anke Schaffelhuber, verliebt in die Schönheit dieser Welt, ausgezeichnet von unendlicher Empathie für dieselbige, erschafft in ihrer digitalen Kunst die Einheit von Natur, Mensch und Kultur. Eine Einheit, die noch Utopie ist und damit die Missstände unserer Welt sichtbar macht. Die Basis ihrer Kunst sind die Fotos, die sie seit 1993 auf zahllosen Reisen, vor allem in die Wildnis von Afrika, macht. www.anke-schaffelhuber.com
Fotos: Anke Schaffelhuber