Nahaufnahme einer Eule.

DAS WESEN DER WEISHEIT, TEIL 1

Im Buddhismus ist Weisheit ein Ziel, das durchaus erreicht werden kann, folgt man dem Weg der „Vier Edlen Wahrheiten.“ Der erste Teil dieser Untersuchung beschäftigt sich mit dem Leiden.

Text & Video Van Nguyen Hoang

Schwarz-Weiß-Bild von Van Nguyen Hoang.

Van Nguyen Hoang wurde in Vietnam geboren. Dort und in London studierte sie Jura, bevor sie Dozentin für Inter­nationales Recht an der Hanoi National University und Gast­forscherin am Max-Planck-Institut in München wurde. Ihre buddhistischen Gedanken zeigen sich in ihren Arbeiten.

Heute werde ich Sie mit einem Thema überraschen, das auch mich zunächst herausgefordert hat: Weisheit ist ein sehr großer, nicht festgelegter, vielfältiger sowie geheimnisvoller Begriff, besonders in einer von Wissenschaft und Technologie dominierten Zeit wie der heutigen.

Ich halte mich nicht für jemanden, der weise genug ist, um ausführlich über dieses Thema zu sprechen. Jedes Jahr, wenn ich Geburtstag habe und meine Freunde mir Glück wünschen, sage ich immer: „Ja, ein Jahr älter und nicht weiser, nur das Haar wird langsam weißer.“

Diese Selbsterkenntnis gibt mir die Hoffnung, mehr zu lernen und mehr über nützliche Dinge zu sprechen, die ich gelernt habe und die ich heute mit Ihnen teilen kann, denn ich habe gehört: „Weisheit ist die Kunst zu wissen, dass man nicht weise ist“ oder wie Buddha es ausdrückt: „Ein Narr, der seine eigene Unwissenheit erkennt, ist in Wirklichkeit ein weiser Mann.“

Ich halte mich, wie gesagt, nicht für weise. Aber ich bin dafür, die Unwissenheit zu respektieren, an sich selbst zu zweifeln und die Grenzen des eigenen Verstandes zu erkennen. Da ich aus Vietnam stamme, einem asiatischen Land, das sehr stark von der buddhistischen Kultur geprägt ist, möchte ich dieses Thema hier im Lichte der buddhistischen Lehre betrachten.

Ich glaube, wir alle sollten ein gemeinsames Ziel haben, nämlich unser Leben friedlicher und glücklicher zu gestalten und alles zu vermeiden, was uns leiden lässt. Im Zentrum des Buddismus steht genau dies – ausgedrückt in den so genannten „Vier Edlen Wahrheiten”.

WAS IST WEISHEIT?

Obwohl ich es nicht mag, Dinge zu definieren, da dies dieselben nur schlechter macht, möchte ich, dass wir einen kurzen Blick darauf werfen, was Weisheit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet sein kann. Im Wörterbuch wird sie definiert als „Wissen und die Fähigkeit, dieses angemessen zu nutzen“ oder als „die Fähigkeit, zu erkennen oder zu beurteilen, was wahr, richtig oder dauerhaft ist“.

Wir wissen, dass König Salomo in der Bibel, als Gott ihm eine Bitte gewährte, Weisheit erbat. Im Sanskrit wird Weisheit oft mit „Intelligenz“ oder „Verständnis“ assoziiert. Und in den Augen der Philosophen bedeutet Weisheit „Einsicht” und „ein tieferes Verständnis für bestimmte Dinge zu haben.” Weisheit hat zudem verschiedene Bedeutungen: Intelligenz, Klugheit oder die Fähigkeit, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.

Wenn man von Weisheit spricht, bezieht sie sich gewöhnlich auf die Fähigkeit, mit Hilfe von Wissen, Erfahrung, Verständnis, gesundem Menschenverstand und Einsicht zu denken und zu handeln. Weisheit wird mit Eigenschaften wie unabhängigem Urteilsvermögen, Mitgefühl, erfahrungsbasierter Selbsterkenntnis, Selbsttranszendenz und Unvoreingenommenheit sowie Tugenden wie Moral und Wohlwollen in Verbindung gebracht.

WEISHEIT IM ABENDLAND

Aristoteles liefert in seinem Werk „Metaphysik“ einen weiteren wichtigen Anhaltspunkt, wenn er sagt, dass „Weisheit das Verständnis der Ursachen ist“.

Robert Darnton – ein amerikanischer Kulturhistoriker – geht davon aus, dass es drei Arten von Weisheit gibt: Die erste Weisheit, die wichtigste, ist die göttliche Weisheit; ihr folgt die irdische Weisheit; und schließlich gibt es noch die satanische Weisheit. Es ist notwendig, dass man den Unterschied zwischen diesen drei Arten von Weisheit kennt, damit man genau weiß, welche man wählen muss.

Für Marcus Tullius Cicero – ein römischer Philosoph – besteht die wahre Weisheit darin, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, um nicht überrascht oder überrumpelt zu werden. Und es stimmt, dass Weisheit als das Verständnis von Ursachen und Zusammenhängen seit jeher sowohl mit Einsicht als auch mit Voraussicht in Verbindung gebracht wird.

Für einige Denker, insbesondere den Philosophen Robert Nozick, „hat Weisheit eine praktische Dimension, da sie ein Verständnis für die Ziele und Werte des Lebens, die Mittel zur Erreichung dieser Ziele, die potenziellen Gefahren, die es zu vermeiden gilt”, beinhaltet. Dies deckt sich mit Sokrates‘ Behauptung, „dass niemand wissentlich Unrecht tut: Die Menschen machen nur deshalb etwas Falsches, weil es ihnen aus ihrer begrenzten Perspektive als das Richtige oder Beste erscheint, das sie tun können.“

  • Große Buddha-Statue vor einen grünen, hügeligen Landschaft.
  • Zwei Hände werden von einem Lichtstrahl beleuchtet.

WEISHEIT IM BUDDHISMUS

Für mich ist jede Definition oder Theorie, auf die man sich bezieht, nutzlos, wenn sie den Menschen nicht auf eine gute Art und Weise dient, damit wir auch wissen, wie wir sie im täglichen Leben sinnvoll einsetzen können.

Mit anderen Worten, es macht Sinn, dass das beste Ergebnis jeder Art von Weisheit darin besteht, uns aus dem Leiden herauszuführen und uns in eine Situation zu bringen, in der Glück und Frieden herrschen oder regieren. Und deshalb werden wir jetzt betrachten, welche „Vier Edlen Wahrheiten“ dabei eine Rolle spielen.

Der Theravada-Buddhismus sagt also Folgendes:

1. Die erste „Edle Wahrheit” ist das Leiden. Das bedeutet, dass dieses Leben das Ergebnis von Gefühlen ist (genannt die “Wahrheitsursachen des Leidens”).

Um mit Leiden umgehen zu können, müssen wir das Leiden zunächst erkennen. Warum leiden die Menschen in dieser realen Welt? Es liegt daran, dass sie durch Gier, Böswilligkeit, Ärger, Verblendung und Dummheit vom rechten Weg abkommen.

Im Buddhismus gibt es zwei Arten von Leiden: geistiges Leiden und körperliches Leiden. Physisches Leiden ist spezifisch, leicht zu erkennen und wird oft als Schmerz bezeichnet, wie z.B. Kopf- oder Bauchschmerzen. Leiden ist die psychische Reaktion, die folgt, wenn wir den Schmerz der Körperbiologie nicht kontrollieren können. Diese beiden Dinge mögen ein begleitender Prozess sein oder auch nicht, je nachdem, wie gut wir uns darin üben, mit Schmerz als Phänomen umzugehen. Seelisches Leiden umfasst dabei die Gefühle, die Ideen, die Gedanken und die Wahrnehmung.

VOM MEHR ZUM WENIGEN, VOM WENIGEN ZUM NICHTS

Der Buddhismus betrachte das Leiden auf unterschiedliche Weise wie das Leben selbst es tut. Im Leben geht es schlicht und einfach um ein „Mehr”, und „mehr” ist immer weniger, denn selbst wenn wir mehr bekommen, scheint es weniger zu sein, da wir mehr wollen.

Im Buddhismus hingegen steht das Streben nach „Weniger” für die Ausrichtung auf die anzustrebende Leere. Lao Tze, der Gründer des Taoismus, erwähnt, dass, je mehr man hat oder je mehr man haben will und das auch bekommt, man andere Dinge verliert, so dass man deshalb nie genug hat. Deshalb strebt der Buddhismus nach immer weniger, bis nichts mehr übrig ist, was man reduzieren könnte, nichts, was man gewinnen könnte, nichts, was man sein könnte, gar nichts.

Wenn zum Beispiel Ihr Seelenverwandter plötzlich die Richtung ändert, fühlen Sie sich unerträglich einsam und suchen nach einer neuen Beziehung. Einsamkeit bedeutet Unglück, aber im Buddhismus ist Einsamkeit eine unabdingbare Voraussetzung, um zum Frieden zurückzukehren und sich selbst in aller Ruhe zu entdecken. Sie ist die „enge Tür“, um in das Reich des Buddhismus einzutreten.

Wenn wir nicht zu uns selbst zurückkehren (die vier Grundlagen der Achtsamkeit, s.u.), wenn wir nicht nach den buddhistischen Prinzipien (dem „achtfachen Pfad”) leben, können wir die letzte Wahrheit (Nirvana) nicht erkennen.

Eine Lotusblüte.

DER SCHLAMM VERHILFT DER LOTUSBLUME ZUM DUFT

Besonders, wenn man allein ist, Leid und Unglück im Leben erträgt, ohne sich bei irgendjemandem zu beschweren, ohne Trost suchen zu müssen – dann sind es gerade diese Ressentiments, die einem helfen zu wachsen. Es ist wie der übelriechende Schlamm, der der Lotusblume hilft, ihren Duft zu entfalten.

Wenn man wirklich ganz zu sich selbst zurückkehrt, wird man erkennen, wie wunderbar es ist, allein zu sein, denn nur wenn man bis einsam ist, kann sich der Geist den vier Grundlagen der Achtsamkeit gegenüber unermesslich öffnen: Wohlwollen – Barmherzigkeit – Heiterkeit – Gleich-Gültigkeit.

Versucht man hingegen, im Außen Zuflucht zu finden, indem man sich auf einen Seelenverwandten verlässt, ist der Geist sofort in einer engen Beziehung gefangen, die sehr verletzlich ist. Buddha hat viele Menschen erleuchtet, aber er wollte nie, dass jemand von ihm abhängig ist, und er hat sich nie von jemandem abhängig gemacht.

Ein Mann sitzt auf einem Felsen über rosa strahlenden Wolken.

DIE VIER ASPEKTE DES LEIDENS

Nun sollten wir einzelne Aspekte des Leidens identifizieren, nämlich Habgier, Böswilligkeit und Wut, Verblendung und Dummheit:

Habgier: Ich habe bereits oben erwähnt, dass diese Lebensweise immer das „mehr und noch mehr” anstrebt, weshalb sie nie genug von allem bekommen kann.

Böswilligkeit und Wut: Böswilligkeit ist der Wunsch, einem anderen Schaden zuzufügen, ihn zu verletzen oder ihm Leid zuzufügen, entweder aus einem feindseligen Impuls heraus oder aus tief sitzender Bosheit. Sie verursacht ein unfreundliches Gefühl – ein Gefühl des Hasses oder der Abneigung.

Wut ist eine natürliche, adaptive Reaktion auf Bedrohungen. Wenn wir wütend sind, haben wir vielleicht ein Gefühl von Macht, aber das ist eine falsche Macht, denn sie wird durch Abneigung und Schuldzuweisung genährt. Wut braucht einen Feind, um zu überleben. Da Wut ein natürliches Gefühl des Menschen ist, ist nicht die Wut selbst das Problem, sondern wie man damit umgeht.

Verblendung und Dummheit: Verblendung ist ein Geisteszustand, in dem falsche oder unrealistische Überzeugungen oder Meinungen bestehen. Man könnte es auch so sehen, dass man an falschen Überzeugungen festhält, selbst wenn man mit Fakten konfrontiert wird – was man dann auch Dummheit nennen kann. Dieser gesamte Bereich des Leidens muss jedoch durch Erfahrung erkannt werden.

Die zweite „Edle Wahrheit“ besagt, dass alle Wirkungen ihre Ursachen haben. Dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh zufolge ist es unsere Lebensweise, die Leiden schafft – dann nämlich, wenn wir in Willkür zu leben, ohne Achtsamkeit und ohne Konzentration. Man kann also sagen, dass Unwissenheit oder Dummheit sowie geistige Abwesenheit die wichtigsten Voraussetzungen für Leiden sind.

Ich bedanke mich an dieser Stelle und verspreche, dass ich im zweiten Teil dieser Untersuchung auf die beiden weiteren „Edlen Wahrheiten” eingehen werde

Fotos: Unsplash / Abhijeet Gourav, Elia Pellegrini, Dalibor Perina, Ian Stauffer, Zoltan Tasi

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