DAS VERMÄCHTNIS DES LAO TSE
Es gibt ein Buch, das seit mehr als 2000 Jahren die Leser fasziniert. Was es damit auf sich hat? In vielen schwierigen Lebenslagen ist es sinnvoll, bei diesem weisen Werk Rat zu suchen.
Text Hans Christian Meiser
Dr. Hans Christian Meiser ist Philosoph und Publizist, zudem Herausgeber und Chefredakteur von PURPOSE, dem Magazin für Sinnhaftigkeit. Dieses Thema zieht sich durch sein gesamtes Werk.
„Der Zweck des Lebens ist die Durchdringung all seiner Erscheinungen mit Liebe“, sagt Leo Tolstoi. Die Stufe davor aber, die Erkenntnis eben des Lebens und all seiner Erscheinungen hat ein Werk hervorgerufen, dessen Wirkungsgeschichte uns bis heute beschäftigt: Das Tao-te-King des chinesischen Weisen Lao Tse.
Selten ist ein Buch der Weisheit in so unterschiedlicher Art aufgenommen und interpretiert worden wie diese Sammlung von einundachtzig Sinnsprüchen, die in ihrer endgültigen, heute vorliegenden Form vermutlich um das Jahr 300 vor Christus vollendet wurden.
PHILOSOPHISCHE LYRIK
Die Urheberschaft der Sentenzen des „Buches vom Sinn und Sein“ aber geht zurück in das sechste vorchristliche Jahrhundert, als Lao Tse im Jahr 604 im Dorf Kü-jen geboren wurde; es liegt in der heutigen Provinz Honán, an der Nordgrenze des alten Dschu-Staates (ein Thai-Stamm, der sich noch in Mittel- und Südchina findet). Dies geschah fünfzig Jahre bevor ein anderer großer chinesischer Denker die Bühne der damaligen Welt betrat, Konfuzius.
Die philosophische Lebensauffassung dieser beiden legendär gewordenen Weisen differiert erheblich. Während sich Konfuzius in seinem Schaffen vor allem um Recht, Moral und den Staat sorgt und Richtlinien zum ehrbaren Leben vorgibt, bedenkt Lao-Tse (was ein Ehrentitel ist und „Der alte Meister“ bedeutet) den Menschen an sich und seinen Bezug zum Urgrund allen Seins, dem Tao.
Seine Überlegungen gießt er in 81 Kapitel, die man „philosophische Lyrik“ nennen könnte oder auch „lyrische Philosophie“. Schon im ersten Kapitel klingt diese literarisch-philosophische Form an, wenn es heißt:
Das Tao,
das keine Namen hat,
ist nicht das ewige Tao.
Ein Name,
der als Benennung verwendet werden kann,
ist kein Name für das Ding an sich.
Das Namenloses ist der Ursprung von Himmel und Erde.
Das Nennhafte die Mutter aller Wesen.
Darum: Blicke das Wunder des Tao ohne Begierde an.
Prüfe seine Erscheinungsformen voller Verlangen.
Diese beiden bringen zusammen die Welt hervor,
aber nur das eine ist benennbar.
Zusammen bezeichnen wir sie als Unergründliches,
Als das schlechthin Schleierhafte.
Das größte Geheimnis
Öffnet den Weg zu jedem Geheimnis.
KONFUZIUS BEI LAO TSE
Dem Wort des chinesischen Historikers Si-Ma-Tsien zufolge, der von 163 bis 85 vor Christus lebte, war es Lao Tses Bestreben, im Verborgenen und ohne Namen zu sein und zu wirken.
Wir erfahren daher nicht viel von seinem Leben, außer dass er als Historiograph am kaiserlichen Staatsarchiv tätig war. Diese Stellung ermöglichte es ihm, politische und kulturelle Entwicklungen im Reich zu überblicken und sich seinen Forschungen, die „letzten Fragen“ betreffend, hinzugeben.
Der junge Konfuzius soll ihn während dieser Zeit besucht und nach Riten und Zeremonien des altchinesischen Volkes befragt haben. Obwohl ihm Lao Tse von diesen Fragen abriet, wohl, weil sich Konfuzius etwas eingebildet benahm, lehrte er ihn: „Banne den stolzen Geist, die vielen Wünsche, schmeichelndes Wesen, ausschweifende Pläne. Dies alles ist ohne Wert für die Persönlichkeit.“
Konfuzius muss von diesem Meister im Denken und Leben sehr ergriffen gewesen sein, denn gleich darauf soll er seinen Schülern berichtet haben: „Was den Drachen betrifft, so bin ich außerstande zu begreifen, wie er Wind und Wolken besteigt und so gen Himmel fährt. Ich habe heute Lao Tse gesehen. Ist er nicht wie ein Drache?“
LAO TSE UND BERTOLT BRECHT
Als das Dschu-Reich unterzugehen drohte, da der Anspruch des Kaisers, zugleich der oberste Priester zu sein, sich nicht gegen die angrenzenden Lehensstaaten durchsetzen konnte, und die Dynastie ihrem Ende entgegenstrebte, beschloss Lao Tse fortzugehen. Es wird berichtet, dass er auf einem Wasserbüffel reitend seine Heimat verließ.
Bertolt Brecht, sein eigenes Exil verarbeitend, hat diese Szene in seinem Gedicht „Die Legende von der Entstehung des Buches Tao te King auf dem Weg des Lao Tse in die Emigration“ beschrieben. Dort heißt es:
Als er siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu
Und er gürtete den Schuh.
Am Grenzpass Han Gu angelangt, bat der dortige Befehlshaber den Lao Tse, seine Erkenntnisse niederzuschreiben, da er ja als Lehrer sonst nichts zu verzollen habe. So entstand die Urform des Tao te King, das sich in zwei Teile gliedert: in das „Buch vom Höchsten Wesen“ und das „Buch vom Höchsten Gut“.
Danach sei Lao Tse mit unbekanntem Ziel nach Westen weitergezogen. Wann und wo er gestorben ist, ist nicht bekannt. Es wird allgemein das Jahr 520 vor Christus angenommen.
AUF DEM WEG NACH EUROPA
Eintausend und zweihundert Jahre später wird das aus nur 5000 Schriftzeichen bestehende Tao te King, was übersetzt so viel wie „Das heilige Buch vom Tao“ bedeutet, von einem Mitglied der Jesuitenmission in China zum ersten Mal in eine Sprache des Okzidents, in das Lateinische übertragen. 1788 gelangt diese Übersetzung an die Londoner Royal Society.
Von hier aus beginnt die Verbreitungsgeschichte des Tao te King in alle Welt. Welch eine spannende Geschichte! Und welches Buch kann von sich behaupten, einen derart ungewöhnlichen Weg in die Herzen der Menschen genommen zu haben! Nicht ohne Grund ist das Tao te King das nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
WAS BEDEUTET „TAO“?
Die Schwierigkeit der Übertragung aber beginnt schon beim Begriff „Tao“. Was bedeutet er?
Der lateinische Text setzt noch „Ratio“ an seine Stelle, etwa vergleichbar mit dem (ebenso letztlich nicht übersetzbaren) griechischen „Logos“. Deutsche Übersetzungen leiden allesamt unter dieser unmöglichen Begriffsbestimmung und sind überdies von der persönlich-geistigen Lebensauffassung der Autoren geprägt.
So wählt der Theosoph Franz Hartmann für Tao: „Der Pfad“, Josef Tiefenbacher „Sinn/Urbild“, Carl Dallago spricht vom „Anschluss an das Gesetz“, Erwin Rousselle von der „Die Führerin des Alls“, Alexander Ular nennt das Tao „Die Bahn/Der rechte Weg“, und Richard Wilhelm, der auch die bis heute beste Übersetzung des berühmtesten chinesischen Orakels, des „I Ging“ (sprich: I Dsching) lieferte, nennt es „Sinn“ oder „Leben“.
Bei anderen Autoren finden sich auch Begriffe wie „Gott“ oder „Natur.“ Sicher ist es richtig, von jener Grundbedeutung auszugehen, die „Weg“ meint. Zudem ist es auch nicht unrühmlich, gewisse Deutungen in den Text einzubringen, vor allem, weil Lao Tse urbildhaft spricht und sich in Symbolen und Metaphern auszudrücken weiß. Am besten aber ist es freilich, das Wort „Tao“ gar nicht zu übersetzen und es dem Leser oder Hörer zu überlassen, was er darunter verstehen mag.
So bleibt das Orakelhafte, Enigmatische des Tao te King erhalten, was wohl auch in der Absicht seines Autors lag, denn es ist mitunter schön und erhellend, sich meditierend auf das Werk einzulassen, um seine wahre Tiefe zu ergründen und um darin sich selbst und somit der Welt zu begegnen.
KLABUND UND LAO TSE
Auch der Schriftsteller Alfred Henschke, der vor allem unter dem Namen „Klabund“ bekannt ist, veröffentlichte 1920 eine Übersetzung von 28 Sprüchen aus dem Tao te King, die dem Leser gewissermaßen in Kurzform den Inhalt der Weisheit des Lao Tse vermittelt.
Dadurch haben wir das Vergnügen, altchinesische Weisheit in der Übertragung durch einen bedeutenden deutschen Schriftsteller kennenzulernen. Hier einige Beispiele:
Ohne aus dem Haus zu treten, kann man die Welt erkennen.
Ohne aus dem Fenster zu blicken, kann man des Himmels Sinn sehen.
Je mehr einer aus sich herausgeht, desto weniger kann er in sich gehen.
Also erzielt der Weise sein Ziel ohne zu wandern.
Er ruft Deinen Namen ohne sich umzuschauen.
Er tut nichts und erlangt alles.
Ein weiteres Zitat:
Wer andere kennt, ist klug.
Wer sich selbst kennt, ist erleuchtet.
Wer andere bezwingt, ist stark.
Wer sich selbst bezwingt, ist der Held.
Wer genug hat, ist reich.
Wer Milde will, dessen Wille geschieht.
Wer seinen Platz nicht leichtsinnig verlässt,
wird überall seinen Platz finden.
Wer sich vom Tod nicht töten lässt, lebt ewig.
Oder:
Was verwelkt, muss vorher geblüht haben.
Was schwach wird, muss vorher stark gewesen sein.
Was einstürzt, muss vorher in die Höhe gebaut worden sein.
Was von uns gehen will, muss vorher zu uns gekommen sein.
Dies ist die geheimnisvolle Erleuchtung:
Das Zarte überwindet das Harte.
Das Schwache überwindet das Starke.
Den Fisch soll man nicht aus der kühlen Tiefe nehmen.
Das Volk soll man nicht entvölkern.
Man erkennt ohne Mühe die zeitlose Weisheit, die diese Worte offenbaren. Und man versteht, weshalb dieses kleine Buch mit seinen wenigen Seiten seit über zwei Jahrtausenden die Menschen begeistert. Es gibt nur wenige Werke, denen dies gelingt.
In unserer Zeit haben diese Wirkkraft vielleicht „Der Prophet“ von Khalil Gibran oder „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Aber erst die kommenden Jahrhunderte werden zeigen, ob sie auch wirklich über dieselbe Kraft verfügen wie das Tao te King.
YIN UND YANG
Lao Tse lehrt, dass alles dem Tao entspringt. Dieses lenkt das gesamte Universum; seine Kraft wirkt weiter in jedem Menschen. Das Universum selbst ist in sich tätig im Zeichen des Gegensätzlichen, wobei aus Sein das Nichtsein entspringt, aus dem Leben der Tod, aus dem Guten das Böse, aus dem Schönen das Nicht-Schöne. Im berühmten Yin-Yang-Symbol, das ebenfalls schon seit Jahrtausenden bekannt ist, hat diese Vorstellung der alles beherrschenden polaren Kräfte bildnerische Gestalt angenommen.
Lao Tse lehrt weiter, dass der Mensch dem Tao, dem Weg, dem Urquell allen Seins folgen soll. Da das Tao aber nicht intellektuell erfassbar ist, sondern sich im Rhythmus des gesamten Alls entäußert, ist der Mensch aufgerufen, sich diesem Rhythmus anzuschließen. Im Verschmelzen mit ihm wird der Weise schließlich vollkommen.
TUN IM NICHT-TUN
Eine der größten und höchsten Prinzipien der taoistischen Lehre ist das Wu-Wei (sprich U-W ei (ei wie das englische a)), das Tun im Nicht-Tun, das Handeln im Nicht-Handeln. Dieses scheinbare Paradox, das auf keinen Fall als Passivität, als ein vollständiges Sich-gehen-lassen gedeutet werden darf, erklärt am besten der japanische Dichter Soseki Natsume, der von 1867 bis 1916 lebte, in einer Kurzgeschichte aus seinem Werk „Zehn Tagträume“:
„Ein berühmter Bildhauer schlägt aus einem Holz eine Bodhisattva-Statue. Ein Besucher, der dabeisteht, wundert sich, dass der Holzschnitzmeister die Nase und die Augen des Bodhissatvas mit dem Meißel so leicht und spielerisch herausarbeitet.
Darauf sagt ein anderer Besucher, der Meister schnitze die Nase und die Augen nicht in das Holz, sondern er schlage mit dem Meißel einfach das heraus, was sich schon als Nase und Augen von vornherein im Holz verberge, wie man einen Stein aus der Erde herausholt.
Der erste Zuschauer läuft sofort nach Hause und versucht, aus einem Stück Holz einen Bodhisattva hervorzubringen. Es gelingt ihm aber nicht. Er sieht, dass er kein Meister ist, denn er findet kein Holz, in dem sich der Bodhisattva verbirgt, und zugleich sieht er, warum ein Meister ein Meister ist.“
Es scheint, dass Lao Tse solch ein Meister war. Und so kann er im letzten Kapitel seines Werkes sagen:
Aufrichtiges Reden ist kein Schöntun.
Schönrederei ist nicht aufrichtig.
Der ernste Redner lässt sich nicht auf Wortstreit ein.
Der Streithahn ist nicht ernst zu nehmen.
Der Einsichtige ist kein Vielwisser.
Der Vielwisser ist nicht einsichtsvoll.
Der vollendete Weise speichert nicht auf.
Je mehr er zum Besten anderer aufgewendet hat,
Desto mehr hat er seinem Besitz Zuschuss verschafft.
Je mehr er verausgabt hat an andere,
Desto mehr hat er zugelegt.
Die Art des Himmels ist er, zu fördern
Und nicht zu schädigen.
Des vollendeten Weisen Art ist es,
Etwas zu schaffen und nicht zu streiten.
Kann man den Schöpfer solcher Worte „erleuchtet“ nennen? Lao Tse selbst hätte dies vermutlich für sich strikt abgelehnt, wir aber, in Zeiten des gewaltigen Umbruchs und einer aus den Fugen geraten zu drohenden Welt, sollten uns zurückbesinnen auf die knapp 5000 Worte, die uns Lao Tse hinterlassen hat.
Denn es gibt kaum ein Werk, das uns – trotz oder gerade wegen der Vielschichtigkeit seiner Aussagen dabei unterstützen kann, uns in den Wirrnissen unserer globalisierten und digitalisierten Zeit zurechtzufinden.
Lao Tse kann uns helfen, uns selbst zu erkennen, anderen auf ihrem Lebensweg zu helfen und jene Herzensruhe zu erlangen, die nötig ist, um die Herausforderungen der Moderne zu bestehen. Im ewigen Wechsel der Gewalten können wir dann nur eines, um all das, was uns bedrängt, zu überwinden: dem Tao folgen.
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