Ein Schwarm Vögel vor einem Boot.

Der Fischer und der Manager

Über ein Gespräch zwischen einem einfachen Fischer und einem reichen Manager und die Frage: Sollte man das Heute für ein scheinbar besseres Morgen opfern? Was wirklich zählt im Leben.

Text Felix Grewe

Schwarz-Weiß-Bild von Felix Grewe.

Felix Grewe ist Journalist, Autor, Coach und zertifizierter Facilitator der weltbekannten „The Inner Game“ Methode von Timothy Gallwey. Neben dem Tennissport sind Glück & Zufriedenheit sowie Sinn & Erfüllung seine Lebensthemen.

Es gibt eine bekannte Parabel über einen einfachen Fischer und einen reichen Manager. Sie kursiert in verschiedenen Fassungen und inspiriert Menschen immer wieder, sich der Frage zu widmen, was wirklich wichtig ist im Leben. Meine Version der Geschichte geht so:

In einem kleinen und abgelegenen Küstendorf lebt ein Fischer mit seiner Familie. Jeden Vormittag fährt er mit einem kleinen, alten Boot raus auf das offene Meer, um Fische zu fangen. Ein paar verkauft er an die Restaurants im Ort, die anderen verspeist er am Abend mit seiner Frau und seinen Söhnen selbst.

Eines Tages besucht ein reicher Manager das Dorf, um das, was er unter Ferien versteht, dort zu verbringen. Zwei Tage hockt er mit Laptop, Tablet und Smartphone am Hafen und beobachtet mitleidsvoll, wie der Fischer mit seinem spärlichen Fang von seiner Tour zurückkehrt. Am dritten Tag fragt der Manager: „Du hast so wenige Fische in deinem Netz. Wie lange warst du heute unterwegs?“ Der Fischer antwortet: „Nur ein gutes Stündchen, der Fang reicht mir, wir kommen damit über die Runden.“

Die Freuden des Fischers

Der Manager wundert sich und fragt: „Was machst du sonst den ganzen Tag?“ Der Fischer entgegnet: „Meistens schlafe ich bis acht. Ich spiele mit meinen Kindern, lese in einem Buch oder in der Zeitung. Später halte ich Siesta, trinke einen Espresso mit meiner Frau oder treffe mich mit Freunden aus dem Dorf. Meistens spielen wir Skat oder Schach.

Am Abend sitze ich mit der Familie am Strand. Wir entzünden ein Feuer, grillen den köstlichen Fisch. Manchmal nehme ich die Klampfe mit und spiele „Wild World“ von Cat Stevens. Ich liebe seine Musik. Wir beobachten, wie die Sonne am Horizont im Meer versinkt und jeder erzählt, was ihn gerade bewegt. Dann philosophieren wir über Gott und die Welt.“

Der Fischer sagt mit leuchtenden Augen: „Du siehst: Ich habe viel Freude in meinem Leben. Ist das nicht herrlich?!“

Der Tipp des Managers

Der Manager lächelt abfällig und runzelt die Stirn. „Guter Mann, im Leben geht es nicht immer nur um Freude. Wohin kämen wir, würde jeder nur an seinen Spaß denken?! Ich führe seit vielen Jahren ein globales Unternehmen mit einigen Tausend Mitarbeitern. Meistens arbeite ich 60 Stunden in der Woche, oft auch mehr. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu erklären, wie sie ihren Umsatz steigern und profitabler wirtschaften können.

Spitze deine Ohren, hier kommt mein goldener Tipp für dich:
Jeden Tag musst du viele Stunden auf dem Meer verbringen. Deine Arbeit sollte dir immer das Wichtigste sein! Du solltest noch vor Sonnenaufgang rausfahren, damit du vor allen anderen Fischern da bist. Fange so viele Fische wie möglich. Beliefere damit nicht nur die Gaststätten hier im Ort, sondern alle Restaurants in der Umgebung. Dann wirst du dir bald ein größeres Boot leisten können und eines Tages sogar mehrere Boote. Du kannst andere Fischer anheuern, die für dich arbeiten werden. So fangt und verkauft ihr immer mehr Fische und erhöht euren Umsatz. Ein Kreislauf des Erfolgs. Eines Tages kannst du damit reich werden!“

  • Fischer wirft ein Netz aus.
  • Schwarz-Weiß-Bild eines Fischers im Boot.

Die Wege des Managers

Der Fischer schweigt zunächst und überlegt. Dann fragt er: „Was denkst du, wie lange wird dies wohl dauern?“ – „Vielleicht 10,15 oder 20 Jahre. Kommt drauf an, wie hart du arbeitest, wie clever du verhandelst und wie gut du deine Leute im Griff hast“, antwortet der Manager.

„Und dann, was passiert dann?“, fragt der Fischer. „Irgendwann wirst du expandieren. Der Vertrieb wird immer stärker wachsen. Je größer dein Unternehmen wird, desto mehr kleinere werdet ihr vom Markt verdrängen. Du wirst ein richtiger Geschäftsmann mit Anzug und Krawatte. Natürlich musst du dann nicht mehr selbst rausfahren, stattdessen kannst du mit deiner Familie in eine große Stadt ziehen und von dort die Prozesse steuern. Wichtig ist nur eines: Du musst immer dein Ziel im Blick behalten. „Und was ist das Ziel?“, fragt der Fischer nachdenklich.

Der Fischer am Ziel

„Das ist doch klar!“, ruft der Manager aufgebracht. „Irgendwann verkaufst du den ganzen Laden und machst dicken Reibach! Wenn alles gut läuft, kannst du Millionen verdienen. Du setzt dich endlich zur Ruhe und beginnst, dein Leben zu genießen. Vielleicht zieht ihr zurück in ein kleines Dorf. Du schläfst aus, erfreust dich mit deiner Frau an den schönen Seiten des Lebens. Du fährst vielleicht mal ein Stündchen am Tag aufs Meer hinaus, triffst deine Freunde im Ort und zum Sonnenuntergang setzt ihr euch an den Strand, grillt einen Fisch und spielt auf der Gitarre.“

Der Fischer schmunzelt, dann beginnt er, lauthals zu lachen. „Hab‘ vielen Dank für deine Beratung. Du hast mich daran erinnert, was für ein wunderbares Leben ich bereits heute führen darf!“

Dankbar sein im Augenblick

Ich mag die Geschichte. Sie verdeutlicht mir, was das Leben wirklich lebenswert macht. An Tagen, an denen der Gedankenlärm besonders laut ist, erinnert sie mich daran, wieder mehr Dankbarkeit für den Augenblick zu empfinden und der Gewissheit zu vertrauen, dass jetzt gerade alles genau so sein darf, wie es ist. Sie lässt mich darüber reflektieren, warum ich mache, was ich mache. Manchmal auch, warum ich nicht mache, was ich nicht mache. Mich immer wieder zu hinterfragen, welches Motiv hinter meinen Zielen steht. Und wie verbunden ich mich mit meinem Leben und meinen Träumen fühle.

Boot auf dem Wasser vor Sonnenuntergang.

Ziele als Orientierung

Ich finde: Das Leben dreht sich viel zu oft um ferne Ziele. Die Gegenwart soll für die Zukunft geopfert werden, das Heute für ein besseres Morgen. Nur: Wann wird dieses Morgen sein? Und wer sagt mir, dass es mir wirklich noch besser gefallen wird?

Natürlich können Ziele helfen, sie können einen antreiben und Orientierung bieten. Entscheidend ist aber doch die Frage nach dem „Warum“ dahinter. Welches Ziel verfolge ich mit meinem Ziel wirklich? Existiert es deshalb in meinem Kopf, weil ich gelernt habe, dass es zur allgemein gültigen Definition von Erfolg passt? Will ich irgendwann einmal dort ankommen, nur um in Applaus, Respekt und Anerkennung zu baden? Wie lange wird der Zustand des Glücks dann anhalten?

Glücklich sein ist der Weg

Oder bereitet mir der Weg zum Ziel wahre Freude? Empfinde ich Leidenschaft dabei, auf diesem Weg neue Erfahrungen zu sammeln und vielleicht auch mal eine Abzweigung zu nehmen, um ortskundiger zu werden? Würde ich diesen Weg auch dann beschreiten, wenn ich nicht sicher wüsste, wohin er mich führen soll? Buddha sagte: „Es gibt keinen Weg zum Glück. Glücklich sein ist der Weg.“ Was Buddha sagte, hat meistens Hand und Fuß.

Fotos: Unsplash / Daniele Levis Pelusi, Fredrik Ohlander, Redcharlie, Aditya Saxena

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