
Das Verschwinden des Bildungsbürgertums
Wo kommt eigentlich her, was wir unter bildender Erziehung verstehen, und welches Gedankengut steckt dahinter? Eine historische Betrachtung von der humanistischen Bildung bis zu „Fack ju Göhte“ — und den möglichen Folgen der Digitalisierung.
Hier erfahren Sie mehr über
- Bildende Erziehung
- Bildungspolitik
- Bildungsbürgertum vs. Digitalisierung
Text Irmela Neu

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommunikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zur empathischen Kommunikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de
Vom Unterschied zwischen „Bildung“ und „Erziehung“
In den vom Lateinischen abstammenden Sprachen gibt es für beide Begriffe ein Wort, nämlich „educatio“; diese heißt auch education (englisch), éducation (französisch), educación (spanisch), educazione (italienisch). Im Deutschen wird sprachlich und damit weltanschaulich ein Unterschied zwischen beiden Begriffen gemacht.
„Bildung“ umfasst das, was sich ein Mensch durch seine Aus-Bildung, aber auch durch eigene Fort-Bildung seiner Persönlichkeit aneignet. Die Worte „Charakterbildung“, „Herzensbildung“ zeugen von dem umfassenderen Verständnis von Bildung. Sie ist das Ergebnis eines Lernprozesses, der sowohl einem vorgegebenen Lernkanon entspricht, als auch eine innere Entwicklung meint.
Die „Erziehung“ wiederum hängt von Personen oder Institutionen ab, die einen Menschen zu einem möglichst integren Mitglied der Gesellschaft macht. Zwischen Erziehern und Zöglingen, Kindern bzw. allgemein zu erziehenden Personen besteht ein mehr oder minder ausgeprägtes Hierarchieverständnis.
Zur Erziehung gehören pädagogische Konzepte und Vorstellungen, die dem Wandel der Zeiten unterliegen – womit wir bei dem Thema der „Bildungspolitik“ wären. Diese ist historisch gesehen eng mit der Herausbildung eines Bildungsbürgertums verbunden.

Spurensuche zum Thema des Ideals von Bildung
Die Vorstellung vom Wesensgehalt dessen, was „Bildung“ ausmacht, führt uns zum so genannten „Deutschen Idealismus“ nach der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft. Mit einem Mehr an Bildung sollte der Mensch in die Lage versetzt werden, seine besten Eigenschaften zu entfalten und gesellschaftlich zum Tragen bringen. Damit verbunden ist ein entsprechendes bildungspolitisches Ideal ebenso wie der Anspruch der Charakterbildung.
Dieser Anspruch fand seinen Niederschlag in der Bildungspolitik des Kultusministers von Preußen: Wilhelm von Humboldt. Auch wenn er 1819 nur kurze Zeit das Ministerium innehatte, brachte diese philosophisch ganzheitliche Ausrichtung Institutionen auf den Weg, deren Ausrichtung noch lange nachhallte und es vielleicht auch hier und da noch tut.
Unter dem Schock der Gewaltausbrüche während der Französischen Revolution und der Kriege gingen Philosophen, Schriftsteller und Politiker der Frage nach, wie dies zukünftig zu verhindern sei. Die Antwort der Intellektuellen ihrer Zeit – der Geschwister Humboldt, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe, um nur die Klassiker zu nennen – ist in ihrer Essenz klar: eine entsprechend breit gefächerte Bildung sollte die Menschen in die Lage versetzen, ihre durch niedere Instinkte geschuldeten Gewaltausbrüche zu transformieren. Sie setzten ihre Hoffnung in die Verfeinerung des Menschen zum „Wahren, Schönen, Guten“. Auf dieser Grundlage ist der kosmopolitisch ausgerichtete „Weltbürger“ (Immanuel Kant) denkbar.
Wie Friedrich Schiller – ein enger Freund der Familie von Humboldt – es formulierte, kann die „ästhetische Bildung“(„éducation esthétique“) den Menschen befähigen, seine Kräfte für eine wohltuende Strukturierung seines Lebens einzusetzen; sie ist ebenso von wertschätzenden Umgangsformen wie von ästhetischem Feinsinn in der Gestaltung seiner Umwelt geprägt.
„Das Denken muss über das Herze gehen“, wie Friedrich Schiller sein Credo formulierte. Mitmenschlichkeit, Empathie lassen grüßen. Welch visionäre Ausformulierung von Verhaltensweisen, die in unserer Zeit, also gut 200 Jahre später, hoch im Kurs stehen! Früher wie heute anspruchsvoll….
Diese vom so genannten „Idealismus“ inspirierte Vorstellung von Gewaltprävention und positiver Entwicklung der Menschheit dank Bildung beeinflusste die deutsche Bildungspolitik.

Bildungspolitik
In dem Maße, in dem die allgemeine Schulpflicht auch wirklich durchgesetzt wurde, etablierte sich eine staatliche Bildungspolitik.
In Frankreich z.B. wurde das Schulsystem zentralistisch organisiert. Wer es bis zu einer gewissen Stufe erfolgreich durchlaufen und die Ziele von „éducation“ erreicht hatte, qualifizierte sich hiermit auch zum Staatsbürger Frankreichs – insbesondere in den republikanischen Zeiten mit verstärkter zentralistischer Bildungspolitik. Die „Grandes écoles“ zur Ausbildung einer Elite, die in der französischen Kultur verankert ist, gibt es auch noch heute. Für die spätere Karriere der Absolventen sind sie wichtiger als die Universitäten.
In Deutschland hingegen führte die Tradition des Bildungsideals zur Einrichtung des „Studium generale“ an den Universitäten, das Studenten aller Fachrichtungen zu durchlaufen hatten. Der humanistische Kanon aus Philosophie, Geschichte und Kultur gehörte zur ganzheitlichen Ausrichtung des gebildeten Menschen. Er wurde erst im Zuge der Neuorientierung durch entsprechende Reformen nach 1968 abgeschafft.
„Education“ als staatsbürgerliche Erziehung einerseits, „Bildung“ als Formung des humanistisch ausgerichteten Menschen, ja des „Weltbürgers“ andererseits – zwei Traditionen in Nachbarländern, die bis heute nachwirken. In Deutschland, das zwei verheerende Weltkriege verloren hat, fanden infolgedessen dramatische Veränderungen statt, die das einstige Ideal in den Hintergrund gedrängt haben. Die Filme „Fack ju Göhte“ sind weit populärer als der Autor selbst, von Schiller ganz zu schweigen. Diese Klassiker sind zudem jüngst von den Lehrplänen gestrichen worden.
Das Bildungsbürgertum als Träger von humanistischer Bildung
Bleiben wir beim Beispiel von Frankreich und Deutschland. Ein „citoyen“ war und ist ein Staatsbürger von Frankreich, während in Deutschland Bildung nicht an Staatsbürgerschaft gebunden war; es gehörte zum Selbstverständnis des Bürgertums. Mit der Industrialisierung im 19. Jh. bildete sich ein Mittelstand heraus, der auf Bildung großen Wert legte. Damit verbunden waren Werte wie Zuverlässigkeit, Bescheidenheit, Arbeitsmoral und eine Lebensführung, die weitgehend an der Ethik des Protestantismus ausgerichtet war. Der umfassend gebildete Bürger sollte in der Lage sein, sein Leben zum Wohle für sich, seine Familie und die Gemeinschaft zu führen.
Unter „humanistischer Bildung“ ist einerseits die Auseinandersetzung mit dem griechischen und römischen Erbe Europas zu verstehen, darüber hinaus jedoch die Ausbildung der Fähigkeit, aufgrund der umfassenden Bildung Argumente klug abwägen zu können; dies befähigt dann zu kritisch konstruktiven, innovativen Vorschlägen, und zwar in allen Bereichen – ob in Wirtschaft, Technik, Lebensführung und Alltagsgestaltung.
Mit zunehmender Spezialisierung in einem Bildungssystem, das vor allem berufsqualifizierende Abschlüsse vermitteln soll, tritt der Aspekt der Bildung in den Hintergrund. Dennoch bestand es auch weiterhin, zumindest bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Welche Faktoren waren und sind maßgeblich für das Verschwinden des bildungsbürgerlichen Ideals?
Der Fortschritt der Industrialisierung führte zu einer Ökonomisierung und immer spezielleren Ausbildungsprogrammen; dieser Prozess schreitet weiter voran. Die Ausrichtung am Fortschritt der globalisierenden Digitalisierung bewirkt paradoxerweise eine Verengung im Ausbildungsbereich: in kürzerer Zeit fachspezifische Inhalte und Erwerb von technischen Kenntnissen im Elektronikbereich erwerben. „Fachidioten“ war das Kritik-enthaltende Schimpfwort der 68er Generation….

Die Bewegung der „68er Generation“
Das bildungspolitische Ideal führte sicher zu zahlreichen positiven Ausformungen, doch hatte es sich keinesfalls in seiner ursprünglichen Absicht durchgesetzt. Faschismus, der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg waren mit extremen Gewaltausbrüchen verbunden, gegen die das Ideal der „Bildung“ vor 200 Jahren ja einst angetreten war! Es entstand die „68er Bewegung“ von jungen Menschen, die verkrustete Strukturen aufbrechen wollten, um in Wirtschaft, Politik, Zusammenleben, Paarbeziehungen eine Rundumerneuerung herbei zu führen.
Der „kalte Krieg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus regte zu Protesten an. Autoren wie Marx/Engels, Marcuse, die Frankfurter Schule etc. gehörten zum Pflichtkanon von allen 68ern! Daheim stand dann die elterliche Bibliothek, die meistens gut mit humanistischer Literatur gespickt war. Es war also eine Protestbewegung von Kindern aus dem Bildungsbürgertum, zumindest zunächst.
Das damalige Bildungssystem hat ihnen auch den nötigen Freiraum gegeben, der eine Auseinandersetzung mit „Sit Ins“, Seminarsprengungen, neuem Outfit, Demonstrationen gegen Amerika etc., später Häuserbesetzungen überhaupt erst ermöglichte. Es war leicht, in Nebenjobs Geld zu verdienen – falls dies angesichts der Unterstützung durch ihr bürgerliches Elternhaus überhaupt nötig war. An den Universitäten gab es keine allzu einengenden Vorschriften in punkto Studiendauer und Fächerkombinationen. Zudem eröffnete der zweite Bildungsweg zusätzliche Möglichkeiten der Weiterbildung.
Diese Kombination von wirtschaftlichen, politischen und privaten Freiräumen mit bildungsbürgerlichem Hintergrund war eine bestimmte Phase in der Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft. Sie mündete nach und nach in eine neue Phase, die der „Digitalisierung“ einschließlich der KI heutzutage. Was bedeutet dies konkret im Hinblick auf das Bildungsbürgertum und dessen Bildungsideal?
Bildung und Digitalisierung
Dank der elektronischen Medien können wir uns heutzutage mit aller Welt virtuell verbinden. Dies eröffnet Möglichkeiten, kann jedoch auch zu einer Überforderung und gewissen Beliebigkeit der Kommunikation weitgehend mit Emojis führen. Sprache verblasst demgegenüber. Schreibprogramme tun das Übrige.
Es bilden sich Gruppen von Gleichgesinnten heraus, die sich eher bestätigen als kritisch hinterfragen. Das, was „in“ ist, findet im Mainstream die volle Aufmerksamkeit, und die liegt sicher nicht beim klassischen Bildungsideal. Influencer sorgen für zusätzliche Wunschvorstellungen. Klassisches Bildungsideal endgültig ade!
Eine weitere Folge der Digitalisierung ist die Ausrichtung des gesamten Bildungssystems auf die möglichst intensive Nutzung der elektronischen Medien, was technische Kenntnisse erfordert. Schon in der Kindheit werden Computerspiele gefördert, was die eigene Kreativität konditioniert. Jugendliche und Erwachsene verbringen immer mehr Zeit im Netz. Lesen wird zur Nebensache. Spaß haben zur Hauptsache.
Warum nicht, könnten wir an dieser Stelle einwenden. Es ist eben die neue Generation der „Digitalisierten“, auch der „digitalen Nomaden“, die sich da niederlassen, wo die Sonne scheint und das Meer ruft. Schon verlockend – doch was geht andererseits verloren?

Der verlorene Mensch
Verloren geht bei aller Individualisierung, Flexibilität und Innovationsfreude der geborgene Mensch als vitales Lebewesen mit seinem Bedürfnis, Mensch zu sein: die Essenz dessen ist Geborgenheit, Vertrauen und Zuwendung. Die Globalisierung eröffnet zwar viele Möglichkeiten; ob sie allerdings den einzelnen auch dazu befähigt, sie für ein harmonisches Leben im Gleichgewicht zu nutzen, ist mehr als fraglich. Für die Phase der Jugendlichkeit wie für die digitalen Nomaden mag es reizvoll sein, das eigene Leben „hipp“ zu gestalten. Für das Leben insgesamt reicht dieser Aspekt nicht aus. Es gibt ja auch noch andere Berufe und Lebensmodelle!
Leistungsdruck schon im frühen Alter, Stressphänomene, Müdigkeit und Erschöpfung sind die Folgen der Globalisierung. Da haben wir es, das Paradox: Öffnung von verlockenden Möglichkeiten einerseits, Verloren sein im Ozean der Möglichkeiten andererseits. Die Suche nach wärmendem Halt in der peer-group ist die logische Folge, die bis zu ideologischer Kurzsichtigkeit und zu Fanatismus reichen kann.
Damit geht genau der kreative Freiraum verloren, aus dem heraus Impulse entstehen, die das gängige Narrativ in Frage stellen. Die Fähigkeit, umsichtig zu argumentieren und dann bewusste, eigene Entscheidungen zu treffen, findet nicht nur keinen Widerhall, sie wird mit plakativen Begriffen unterdrückt. Alles, was Widerspruch sein könnte, wird ausgegrenzt. Dies reicht bisweilen bis zum gegenseitigen Hass.
Der verlorene Mensch ist leicht empfänglich für Angstszenarien, die ihn bedrohen. Daraus entsteht das Bedürfnis nach mehr Geborgenheit in einer Gruppe, die zum Familienersatz wird. Das Kuschelige der Gruppe macht wiederum abhängig – welch ein Circulus viciosus an Einengung!
In der digitalisierten Welt ist der einzelne dazu aufgefordert, aktiv für sich selbst zu sorgen. In jeder Hinsicht! Ökonomisch, in Beziehungen, für die eigene Gesundheit etc. Auch das gehört zum Paradox: Vieles ist möglich, weniger machbar. Die Individualisierung stellt hohe Ansprüche an uns Menschen! Sich selbst managen, auf der ganzen Linie – einschließlich und gerade der Emotionen; denn ohne diese Fähigkeit besteht die Gefahr, sich von Spontanreaktionen wie Gewaltausbrüchen wegreißen zu lassen. Aufgestauter Frust bahnt sich allzu gerne auch bei nichtigen Anlässen seinen unheilvollen Weg.
Da steht er nun, der verlorene, zu eigener Aktivität und Lebensplanung aufgeforderte Einzelne, mit seinen Möglichkeiten, Herausforderungen, Wünschen, Sehnsucht nach Zuwendung und Nähe. Wie sich orientieren? Wie rauskommen aus Krisen? Wie für sich und mit anderen glücklich in Harmonie leben? Fragen von vor 200 Jahren hochaktuell!

Chancen einer bildungsbürgerlichen Renaissance
Aus dem bildungsbürgerlichen, humanistischen Kanon können wir das herausfiltern, was uns auch, ja gerade heute noch Impulse zu geben vermag.
Da ist zunächst die Erkenntnis, dass in den alten Weisheitslehren und in der klassischen Literatur Lebensmodelle vorgestellt werden, die uns Antworten auf existentielle Fragen geben können: was ist Glück? Wie finde ich Harmonie in meinem Leben? Wie können wir unseren Alltag entsprechend gestalten?
Des Weiteren regen sie zu einer kritischen Beschäftigung mit allem an, was uns in allzu starre Einseitigkeiten führt. Das gilt für politische Programme wie für unser Privatleben. Aufspüren, analysieren, überprüfen, und dementsprechend gestalten, ist die Devise!
Zur humanistisch-bildungsbürgerlichen Ausrichtung gehört auch die Fähigkeit zu einer Achtsamkeit, die über die eigene Person hinausgeht. Ein Beispiel: Kürzlich war ein Interview mit einem digitalen Nomaden zu hören, der sich wie viele dieser Community auf den kanarischen Inseln niedergelassen hat. Der hippe Modetrend führt zu Preissteigerungen, was vor allem für die Einheimischen schwer zu stemmen ist. Auf einen entsprechenden Einwand der Moderatorin erwiderte er: „Naja, die einen gewinnen halt, die anderen verlieren. So ist das nun mal.“
Was für eine Ellenbogenmentalität! Eine Ausrichtung auf ein freundliches „Wir“ -, hallo, dann wäre das Finden von gemeinschaftlichen Lösungen im Fokus. Genau darum geht es in einem Zeitalter, das den verlorenen Einzelnen auffängt. Es gilt, ein WIR herauszubilden, dass sich nicht gegen andere, unliebsame abgrenzt, sondern gemeinsame Gestaltungsebenen findet. Empathie, Wertschätzung, Achtsamkeit mit sich und anderen sind die Elemente.
Genau das wussten die Bildungsbürger nur allzu gut. Knüpfen wir an diese Tradition an und entwickeln sie weiter!
Fotos: Unsplash / Airfocus, Philippe Bout, Aaron Burden, Jaredd Craig, Hudson Hintze, Thought Catalog