DAS WESEN DER WEISHEIT, TEIL 2
In diesem Teil der Untersuchung führen zwei „Edle Wahrheiten“ zur Beendigung des Leidens und auf den wahren Weg des Geistes.
Text & Video Van Nguyen Hoang
Van Nguyen Hoang wurde in Vietnam geboren. Dort und in London studierte sie Jura, bevor sie Dozentin für Internationales Recht an der Hanoi National University und Gastforscherin am Max-Planck-Institut in München wurde. Ihre buddhistischen Gedanken zeigen sich in ihren Arbeiten.
Nachdem wir die beiden ersten „Edlen Wahrheiten“ kennengelernt haben (Leben ist Leiden, und Leiden hat eine Ursache) möchte ich Ihnen zeigen, worin die beiden weiteren Wahrheiten liegen.
DIE BEENDIGUNG DES LEIDENS
Die dritte „Edle Wahrheit” ist die Beendigung des Leidens: Dies bedeutet, dass man, um die Wirkung des Leidens zu beenden, die Ursachen derselben beenden muss. Daraus ergibt sich dann die erstrebte Abwesenheit von Leiden, oder die Umwandlung von Leiden – was wiederum die Anwesenheit von Glück bedeutet. Das Leid zu beenden führt also zu Glückseligkeit, und diese ist die Umkehr des Leidens.
Mit Leiden umzugehen bedeutet, seine Frustrationen, seine Blockaden (unterdrückte Gefühle, Depressionen) zu lösen. Der schon erwähnte Zen-Meister Thich Nhat Hanh gibt auch hierzu eine Anleitung: Wenn wir das Leiden annehmen, tief in das Leiden hineinschauen und beginnen, das Leiden zu transformieren, müssen wir drei Arten von Energie verwenden: Achtsamkeit, Konzentration und Weisheit.
Dies führt zur Quelle des Glücks, die uns hilft, das Leiden zu bewältigen. Wenn wir die „Vier Edlen Wahrheiten” erkennen, verstehen wir auch das Ziel und den Weg, der dorthin führt. Da die Ursachen des Leidens Gier, Hass und Verblendung sind, wissen wir nun, dass das Leiden erst dann ein Ende hat, wenn wir vollständig von diesen Ursachen befreit sind, was man auch Erleuchtung nennen kann.
Wie das möglich ist? Nun, ich zitiere Buddha, als er die Fragen eines Mannes beantwortete, der zu ihm kam, um von seinen Anhaftungen befreit zu werden.
Frage: Welches Schwert ist das schärfste? Welches Gift ist das schlimmste? Welches Feuer ist das heftigste? Welche Dunkelheit ist die dunkelste?
Antwort: Die Rede im Zorn ist das schärfste Schwert, die Lust ist das tödlichste Gift, die Leidenschaft ist das heftigste Feuer, die Unwissenheit ist die dunkelste Finsternis.
Frage: Wer profitiert am meisten? Wer ist am meisten benachteiligt? Welche Rüstung kann nicht durchdrungen werden? Welche Waffe ist die stärkste?
Antwort: Derjenige, der am meisten profitiert, ist derjenige, der viel gibt, aber das Geben nicht sieht. Derjenige, der am meisten benachteiligt ist, ist derjenige, der nur gierig und ohne Dankbarkeit zu empfangen weiß. Geduld ist die undurchdringliste Rüstung, und Weisheit ist die stärkste Waffe.
Der Mann stellte eine letzte Frage: Was kann nicht vom Feuer verbrannt, nicht vom Wasser fortgetragen, nicht vom Wind umgeworfen werden, das die ganze Welt zu verändern vermag?
Der Buddha antwortete: Die gute Tat. Kein Feuer, kein Wasser, kein Wind kann die Wirkung einer guten Tat zerstören, und diese Wirkung verändert die ganze Welt.
DER WAHRE WEG DES GEISTES
Die vierte „Edle Wahrheit” ist „Der wahre Weg des Geistes”. Das bedeutet, dass die Menschen über Möglichkeiten verfügen, das Leiden zu beenden und die Befreiung von ihm zu erlangen, so wie es der Buddha Sakyamuni getan hat.
Der Zen-Meister Thich Nhat Hanh sagt dazu: Wenn man glücklich sein will, muss es einen Weg zum Glück geben, das ist der Buddhismus – der Weg zum Glück. Es gibt einen Weg, der zum Leidensdruck führt, und einen Weg, der zum Glück führt. Noch deutlicher: Der Buddhismu ist der Weg zum Glück und Glück ist der Weg.
Man kann auch sagen: Es gibt keinen Weg zum Frieden. Frieden ist der Weg. Oder: Es gibt keinen Weg zum Nirvana. Nirvana ist der Weg. Thich Nhat Hanh will also dualistische Denken vermeiden: Der Weg ist das Mittel und das Glück ist das Ziel.
Das bedeutet, dass man einen schwierigen und schmerzhaften Weg gehen muss, um anschließend glücklich zu werden. Aber für den Zen-Meister ist der Weg das eigentliche Glück, deshalb gibt es Glück auf jedem Schritt des Weges, und das heißt: Das Glück ist der Weg.
Ich finde, dass dies ein sehr weiser und optimistischer Ansatz ist, da er die Freude und die harte Arbeit nicht voneinander trennt und das Leben im Augenblick einen sehr guten Weg darstellt, das Glück zu erreichen.
DIE DREI STUFEN DES GLÜCKS
Zum Thema Glück möchte ich noch etwas hinzufügen:
Wahres Glück kennt drei Stufen: Freude – Glück – Frieden. Ich denke, die untersten Stufen der Maslowschen Pyramide können diese erste Stufe darstellen, die aus den grundlegendsten Bedürfnissen besteht, wie dem Bedürfnis nach Nahrung, Wasser, Schlaf und Wärme. Kurz gesagt, wenn unsere grundlegenden Sinne befriedigt sind, wie z.B. durch eine gute Mahlzeit oder einen guten Schlaf, erleben wir Freude.
Freude ist aber im Grunde genommen abhängig von der Außenwelt und durch diese fast schon dominierend. Bis zur zweiten Stufe ist sie halb im Innen, halb im Außen zu finden. Das heißt, es gibt Freude von innen, von unserem eigenen Geist, sowie Freude von außen, welche die sechs Sinne beeinflusst. Die letzte und höchste Stufe aber ist der Frieden, jenes subtile Glück, das nur von innen kommt, ohne die Notwendigkeit von äußeren Umständen.
Die traurige Realität jedoch ist: Je größer das Glück, desto größer das Leiden. Deshalb: Nur wenn das Leiden verschwindet, gibt es wirklichen Frieden. Das heißt, je weniger wir von der Außenwelt abhängig sind, desto glücklicher und friedlicher können wir leben.
Für den Zen-Meister Thich Nhat Hanh entsteht das Glück durch Achtsamkeit, Konzentration und Weisheit. Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass der Tag kommen wird, an dem wir alt und schwach sein werden und vielleicht im Rollstuhl sitzen, werden wir uns jetzt friedlich und glücklich fühlen – dank der Konzentration, Achtsamkeit und Weisheit. Jeder Schritt, jeder Atemzug, jede Handlung kann Konzentration, Achtsamkeit und Weisheit erzeugen und somit werden Frieden, Freude und Glückseligkeit vorhanden sein.
DER TIGER, DER BÜFFEL UND DER BAUER
Am Ende dieser Überlegungen möchte ich Ihnen noch eine Fabel aus Vietnam erzählen: Vor langer Zeit, als die Tiere noch sprechen konnten, schlich sich ein weißer, streifenloser Tiger an den Rand des Dschungels und schaute auf die Reisfelder hinaus. Er sah einen Bauern mit seinem Büffel ein Feld pflügen. Der Büffel arbeitete sehr hart. Er ging Schritt für Schritt, und von Zeit zu Zeit wurde er mit einer Peitsche auf sein Hinterteil geschlagen. Der Tiger war sehr überrascht.
Am Mittag, als die beiden eine Pause machten, ging der Tiger zu dem Büffel und fragte ihn: Du siehst so stark aus, warum lässt du dich von dem kleinen Bauern schlagen? Der Büffel antwortete leise: Er ist zwar klein, aber er hat Weisheit, Bruder! Der Tiger verstand nicht und fragte neugierig: Was ist Weisheit? Der Büffel wusste nicht so recht, wie er das erklären sollte, und sagte beschämt: Weisheit ist Weisheit, aber was noch? Wenn Du mehr wissen willst, frag den Bauern!
Der Tiger ging langsam auf diesen zu und fragte ihn: Wo ist deine Weisheit, kannst du mir ein bisschen davon zeigen? Der Bauer dachte einen Moment nach und sagte: Ich habe heute meine Weisheit zu Hause gelassen. Lass mich sie holen, damit du sie sehen kannst. Wenn du sie brauchst, werde ich dir etwas davon geben. Der Tiger hörte es und war sehr glücklich.
Der Bauer wollte gerade gehen, aber dann erinnerte er sich plötzlich an etwas und sagte: Aber wenn ich gehe, dann wirst Du vielleicht meinen Büffel fressen!? Der Tiger überlegte, was er antworten sollte, aber der Bauer fuhr fort: Oder würdest du mich dich vorübergehend an diesem Baum festbinden lassen, damit mein Büffel in Sicherheit ist? Der Tiger stimmte zu, und der Bauer band den Tiger mit einem Seil fest an einen Baum. Dann stapelte er Stroh um den Tiger, zündete es an und rief: Hier ist meine Weisheit!
Dem Büffel gefiel das so gut, dass er sich vor Lachen auf dem Boden wälzte, dabei schlug der Oberkiefer auf einen Felsen und seine Zähne brachen ab. Erst als das Seil verbrannt war, konnte sich der Tiger befreien und lief geradewegs in den Wald, ohne sich umzusehen. Seitdem hat jeder Tiger, der geboren wird, lange schwarze Streifen am Körper, die Spuren von Verbrennungen sind, und Büffel haben keine Zähne im Oberkiefer.
FAZIT: WEISHEIT IST GLÜCK
Ich möchte jetzt zum Ende meiner Ausführungen zur Weisheit kommen und hoffe, dass ich mit ihnen zu einem erweiterten Verständnis beitragen konnte. Wie Sie erkennen, ist Weisheit Glück und bedeutet das Ende des Leidens; in der Weisheit ist alles vollendet, denn sie ist ein Prozess des Denkens und Handelns in Übereinstimmung mit Ursache und Wirkung, mit Selbstlosigkeit, und sie existiert in Übereinstimmung mit allen Gesetzen des Universums.
Intellektuelles Wissen ist eine der höchsten Möglichkeiten von Wissen, die Menschen haben sollten. Das ist das Wunder in der realen Welt, das ein jeder praktizieren, erfahren und verwirklichen kann. Ein Mensch aber mit umfassender Weisheit, die alles im Universum durchdringt, braucht sich nicht auf andere Dinge zu verlassen, sondern erkennt, dass er sich nicht an Körper und Geist einschließlich der Gefühle, Gedanken und Wahrnehmungen klammern sollte, so dass er das Leiden leicht und schnell beenden kann, um sich mit dem neuen Leben auseinanderzusetzen und es in das bisherige zu integrieren.
Wie ich jedoch bereits oben erwähnt habe, stellt Weisheit eher eine allgemeine als eine spezielle Fähigkeit des Menschen dar, und sie scheint auch größer zu sein als das Wissen. Wissen kann ohne Weisheit existieren, aber nicht andersherum. Man kann wissend sein, ohne weise zu sein. Wissen bedeutet, dass man weiß, wie man eine Waffe benutzt; Weisheit bedeutet, dass man weiß, wann man sie benutzt und wann man sie besser nicht zückt.
WEISHEIT BEDEUTET DIE BREMSE ZU ZIEHEN
Wissen bedeutet, zu wissen, dass die Ampel rot geworden ist; Weisheit bedeutet, die Bremse zu ziehen. Und wenn Weisheit eine bestimmte Art von Wissen ist, dann ist es kein wissenschaftliches oder technisches Wissen, denn sonst wären die Menschen von heute weiser als selbst die weisesten Philosophen der Antike. Jeder Schulabgänger des einundzwanzigsten Jahrhunderts wäre weiser als ein Seneca oder ein Sokrates.
Sokrates war der weiseste aller Menschen, nicht weil er alles oder irgendetwas wusste, sondern weil er die Grenzen des Wenigen, das er wusste, kannte. Das ist der Grund, warum wir uns ständig mit folgenden Fakten auseinandersetzen sollten:
Alles ist relativ und nicht ewig. Bitte überprüfen Sie von Zeit zu Zeit anhand von Fakten- Was heute richtig ist, kann morgen schon falsch sein. Nichts ist so absolut.
Seien Sie aufgeschlossen und skeptisch zugleich. Es verhält sich wie bei den zwei Seiten einer Medaille: Einerseits sollten Sie skeptisch sein, nicht um den Dingen zu misstrauen oder zu sie anzuzweifeln, sondern um die Wahrheit herauszufinden.
Andererseits sollte man seinen Geist öffnen, um neue Dinge zu sehen oder zu entdecken, um die Realität zu verstehen, die einem ungewohnt oder sogar fremd erscheint; man sollte sich an das anpassen, was man nicht ändern kann, und versuchen, es zum Besseren zu wenden.
Ich möchte noch ein wenig weiter darauf eingehen, wie man das so genannte Denken und die Offenheit nutzen kann, um die „Erleuchtung“ zu erreichen. Im Buddhismus ist dazu die Meditationsform „Vipassana“ erforderlich. Das bedeutet, dass der gesamte Körper und der Geist „extrem ruhig“ sein müssen, um das „Ende des Geistes“ zu betrachten; es ist genau der Geist, den Einstein benutzte, als er sein Formel E=mc² aufstellte; erst dann wird die „Wahrheit“ durch die Wissenschaft erreicht.
Heutzutage streiten sich die Menschen über Religion und Wissenschaft (die beide vom menschlichen Geist geschaffen wurden). Es ist ein Streit des abstrakten Denkens und des kreativen Verstandes, der wie ein magisches Telefon oder Smartphone benutzt werden kann, das man einfach in der Hand halten kann, aber wenn es nicht mehr funktioniert, können wir bis zum Lebensende dafür beten, dass es wieder funktioniert, doch dadurch wird es nicht repariert oder wieder funktionieren. Mit dem Wissen und der Anstrengung eines Technikers jedoch, der physische Teile des Telefons austauscht, wird Ihr Telefon sofort funktionieren!
WUNDER, ERLEUCHTUNG UND KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Jetzt sehen Sie das „Wunder“, das vom menschlichen Gehirn geschaffen wird. Und das wird im Buddhismus mit dem Wort Erleuchtung beschrieben.
Die Dinge hängen sehr stark von der Perspektive ab, von der Art, wie man sie betrachtet. Die Realität soll wahr sein, wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, und sie wird falsch, wenn man sie aus einem anderen betrachtet. Die Realität hat also keine Vorgabe an sich. Alle Vorgaben werden normalerweise nur von Menschen gemacht, die aus verschiedenen kulturellen, gewohnheitsmäßigen und religiösen Perspektiven heraus handeln.
Nun möchte ich noch etwas erwähnen, das für uns alle von entscheidender Bedeutung ist: Sie wissen, dass heute die Fortschritte in Wissenschaft und Technik immer größer werden und uns die Möglichkeit geben, diese Errungenschaften in unserem täglichen Leben zu genießen. Es scheint jedoch, dass Maschinen mehr und mehr ein intellektuelles Leben führen, während wir als Menschen, wenn wir unserer intellektuellen Seite beraubt werden, zu einer einfachen materiellen Kraft werden.
Es ist klar, dass wir Menschen künstliche Intelligenz geschaffen haben, und obwohl ich nicht glaube, dass künstliche Intelligenz komplett die menschliche Intelligenz ersetzen kann, möchte ich nicht, dass wir diese Warnung vergessen, denn unser tägliches Leben wird mehr und mehr von KI bestimmt und abhängiger!
Deshalb sollte immer alles auf den Prüfstand gestellt werden und sich mit der Zeit weiterentwickeln, ganz gleich, ob es sich dabei um eine große Theorie, eine lange und traditionelle Weisheit oder etwas anderes handelt, denn nichts ist ewig. Wenn es der Menschheit nicht mehr dient oder veraltet ist im Vergleich zu dem, was in der Gegenwart geschieht, dann ist es an der Zeit, es zu ändern, zu ergänzen oder weiterzuentwickeln – das ist es, was die Weisheit immer erkennt und deshalb wird sie auch Weisheit genannt.
Im folgenden Film ist der in Englisch gesprochene Originalbeitrag von Van Nguyen Hoang zu sehen:
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