Kind in den Händen der Mutter

DIE GEBURT: Betrachtung eines Wunders

Wann beginnt das Leben? Mit der Zeugung? Mit dem ersten Atemzug? Als Mutter eines Neugeborenen werfe ich alle Gewissheiten über Bord und lasse mich vertrauensvoll in jene Welt zwischen Himmel und Erde fallen, die voll tiefer Weisheiten ist.

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  • Beseelt Sein
  • Das Wunder der Geburt
  • Empfänglichkeit

Text Daniela Otto

Schwarz-Weiß-Portrait von Dr. Daniela Otto.

Dr. Daniela Otto ist Literaturwissenschaftlerin, Expertin für Digital Detox und Buchautorin zum Thema. Als Vorstand der Florian Holsboer Foundation setzt sie sich für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Mehr über mentale Gesundheit im Podcast „Alles nur im Kopf“.

Als meine Tochter zum ersten Mal die Augen öffnete und mich ansah, passierte etwas Magisches: Ein Tor zu einer neuen unbekannten Welt öffnete sich. Diese Augen – staunend und stahlblau – blickten mich mit einer so tiefen Weisheit an, dass ich von Demut ergriffen wurde. Sie blinzelte, runzelte die Stirn und ihr Blick durchdrang mich bis an den Urgrund meines Herzens. Seither kann ich nur noch in den größten Dimensionen denken: Unendlichkeit, Ewigkeit, Göttlichkeit, Glückseligkeit.

Wie lange warst Du, kleine Seele, in diesem Universum unterwegs, bis Du endlich bei mir warst? Diese Frage zwang sich mir auf und damit Gedankengänge, die mir niemand vorhergesagt hatte.

DER BEGINN DES LEBENS

Alles, das ganze Wunder des Seins, scheint sich mir intuitiv zu offenbaren. Denn wann beginnt es, das Leben? Im herkömmlichen Sinne mit der Empfängnis. Wenn Samen und Eizelle verschmelzen, wird die Zellteilung eingeleitet. Schon ab Tag fünf ist dieses Zellbündel eine sogenannte Blastozyste: Sie besteht aus etwa 200 Zellen und ist bereit für die Einnistung in der Gebärmutter. Schaut man sich eine solche Blastozyste im Mikroskop an, kann man im ganz Kleinen das ganz Große erkennen: Wie sehr ähnelt diese Blastozyste einem Planeten. Rund ist sie und mit einer wabernden Oberfläche, die an den Mond erinnert. Mikro- und Makrokosmos scheinen sich zu spiegeln. Ist die Blastozyste fertig eingenistet, etwa 14 Tage nach der Befruchtung, ist ein Embryo bereits erbberechtigt. Und auch für das Bundesverfassungsgericht ist klar: Ab jetzt „besteht Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis“.

Blastozyste im Mikroskop

ZWISCHENTÖNE

Zwischen Einnistung und dem „Baby-take-home“-Erlebnis kann jedoch noch viel passieren: Nicht jede Schwangerschaft endet glücklich und selbst wenn Frühgeborene heute schon ab der 24. Schwangerschaftswoche eine gute Überlebenschance haben, so existieren doch Risiken für bleibende Schäden. Fakt ist: Jede Schwangerschaft ist ein Wunder, jedes Baby ein Geschenk. Als Spätgebärende ist mir das überaus bewusst und ich kann mein Glück kaum fassen.
Ja, da liegt ein gesundes Kind in meinen Armen. Ja, wir haben es geschafft. Und gerade weil ich dieses verschärfte Bewusstsein habe, dass dieses Kind nicht selbstverständlich ist, bin ich offen, ja geradezu durchlässig für all die Zwischentöne des Seins, die mich nun als sanfte Melodie durch das Wochenbett begleiten. Wovon singen diese Töne? Was erzählt mir meine Tochter, wenn sie zarte, liebliche Geräusche von sich gibt? Denn auch das spüre ich: Was hat ihre Seele nicht schon jetzt alles erlebt.

Bild eines Neugeborenen

DAS VERSPRECHEN

Ich vergesse die oben genannten Gewissheiten. Ich betrachte sie, wenn sie schläft, wenn sie wach ist. Eine tiefe Erkenntnis durchzuckt mich: Sie war schon da, bevor sie da war. Und ich weiß: Das Leben beginnt so viel früher als mit der Empfängnis. Die Tage im Wochenbett sind anders als alle anderen Tage meines Lebens zuvor. Während es draußen schneit und die Welt in einem kalten Weiß versinkt, will ich dieses hilflose Leben wärmen und beschützen. Schon um vier wird es dunkel und in manch verletzlicher Stunde überkommen mich die Tränen: Wie sehr ich sie in meinem Leben vermisst habe. Wie lange wir aufeinander gewartet haben.

Natürlich, wie könnte es anders sein: Das Leben beginnt mit einem Versprechen. Mit zwei Seelen, die sich in einem Raum jenseits der Zeit suchen und finden. Wozu, frage ich mich, wenn ich meine Tochter im Arm halte, haben wir uns in diesem Leben verabredet?
Was hat sich ihre Seele vorgenommen und wie kann ich sie dabei unterstützen?

Alles ist bereits in ihr angelegt und ihr Schicksal, so scheint mir, ist den Sternen, die in diesen Tagen für mich heller denn je funkeln, eingeschrieben. Es ist alles schon da, denke ich mir immer wieder, so wie sie bereits da war in meinem Herzen, meinem Geist, meiner Seele. Tatsächlich habe ich die Präsenz meiner Tochter schon seit Jahren gespürt und hochsensible Menschen, denen ich zum ersten Mal begegnet war, hatten mich explizit gefragt, ob ich Mutter sei. Nun weiß ich, ich war es – auf einer anderen, spirituellen Ebene. Nun weiß ich, genau jetzt war sie bereit, zu uns zu kommen, um ihren Seelenplan zu erfüllen. Ich weiß, ich darf so vieles von ihr lernen, weil sie voller Weisheit ist, einem Wissen, das sich uns erwachsenen, rational denkenden Menschen entzieht. Sie ist kein kleiner Mensch, keine kleine Seele, sondern ein vollkommenes Wesen, schon jetzt entfaltet in all ihrer Pracht.

Ja, das Leben beginnt unsichtbar, doch für empfängliche Menschen dennoch spürbar. Wie viele Seelen da draußen warten nur darauf, in die Welt eingeladen zu werden? Der Himmel der ungeborenen Kinder, er ist voll bis auf den letzten Platz.

Fotos: iStock, Unsplash / Jenna Norman, Kelly- Sikkema

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