
DIGITAL DETOX FÜR DIE KINDERSEELE – EIN MANIFEST
Klassenchats, Zoom-Unterricht, Tablet-Jahrgänge: Hinter dem Schlagwort ‚Digitalisierung‘ verbirgt sich eine der größten Sünden unserer Zeit. Warum der vermeintliche Fortschritt unsere Kinder traumatisiert und wie wir ihre Welt retten können.
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- Kinderaugen und Kindheit
- Natürliche Intelligenz
- Analoge Erziehung
Text Daniela Holsboer

Daniela Holsboer ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Expertin für Digital Detox. Unter ihrem Mädchennamen Daniela Otto veröffentlichte sie zwei Sachbücher zu diesem Thema. Sie setzt sich als Vorstand der Florian Holsboer Foundation für das Thema Mental Health ein.
Seitdem ich Mutter bin, empfinde ich das größte Glück. Und einen tiefen, quälenden Schmerz. Beides hätte ich mir in diesem Ausmaß nicht erträumen lassen. Weder hätte ich gedacht, dass die Liebe zu einem Kind so allumfassend ergreifend sein kann, noch hätte ich gedacht, dass sich meine Wahrnehmung der Welt derart verändert.
Meine Tochter hat mich so vieles gelehrt: Ihr Staunen, ihr Beobachten der Welt, berührt mich jeden Tag aufs Neue.
Sie ist vollkommen präsent, vollkommen im Moment, vollkommen im Hier und Jetzt.
Ohne Ablenkung. Ich erkenne die Wunder, die im Kleinsten verborgen liegen, weil ich sie durch ihre Augen sehe. Im fliegenden Schmetterling, in einer einzelnen Schneeflocke. Es braucht nicht viel dafür. Wir müssen nur genau hinsehen.
ABSOLUTE PRÄSENZ UND DIE BETRACHTUNG DER WELT
Meine Wahrnehmung der Welt hat sich aber auch im unschönen Sinne verändert. Ich sehe überall Gefahren, scanne die Welt auf Widrigkeiten und jegliche Unbill, die da kommen mag. Dabei wird ein Schreckensszenario immer dominanter: dass die absolute Präsenz meiner Tochter verlorengehen kann, indem sie irgendwann nicht mehr die Welt betrachtet, sondern einen kleinen leuchtenden Bildschirm. Tag für Tag, Stunde für Stunde. So wie wir Erwachsene es vorleben. Mehr noch: so wie wir Erwachsene es vorgeben.
Seit vielen Jahren engagiere ich mich als Autorin für das Thema Digital Detox. Ich habe nach meiner Doktorarbeit das erste deutschsprachige Buch darüber geschrieben, das war bereits 2016. Dann 2021 ein zweites „Digital Detox für die Seele“. Ich darf also behaupten: Ich kenne mich auf dem Gebiet aus. Immer schon war der Leidensdruck der Eltern groß und ihre Fragen nach jedem meiner Vorträge voller Besorgnis. „Wie nur bekommen wir die Kinder vom Smartphone weg?“
Solange ich keine eigenen Kinder hatte, habe ich mich mit meinen Antworten stets als Theoretikerin gefühlt. Nun aber, als Mutter, erlaube ich mir, eine neue Antwort zu geben, eine Antwort, die tief aus meinem Herzen kommt, die ich mit zunehmender Verzweiflung in diese moderne, immer verrückter werdende Welt hinausschreien möchte:
Wir müssen die Schuld umkehren.
Nicht unsere Kinder tragen Verantwortung für ihre Mediennutzung, sondern wir Erwachsene tun es. Wir Erwachsene sind es, auf die man den Finger zeigen sollte, denn was wir tun, was wir unseren Kindern antun, ist Irrsinn und es ist eine Schande.

UNSER GEHIRN IST EIN WUNDERWERK
Lassen Sie mich etwas ausholen. Das Einzige, das man sich als Elternteil wirklich wünscht, ist, dass das Kind gesund ist. Eine Schwangerschaft dauert 40 Wochen und an jedem Tag ist man als Mutter in Sorge. Entwickelt es sich so, wie es soll? Ist alles in Ordnung? Und wenn man ein gesundes Kind in sich trägt, kommt es auch durch die – das vergessen wir zu oft – an sich riskante Geburt heil zur Welt? Ja, ein gesundes Kind ist ein unendliches Glück, ein Himmelsgeschenk.
Zur Gesundheit zählt indes nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern insbesondere auch die geistige. Nochmals: Ein gesundes Kind ist nicht selbstverständlich. Während des großen Organscreenings in der 20. Schwangerschaftswoche wird auch das Gehirn untersucht. Ein gesundes Gehirn ist das Wichtigste überhaupt und weil ich oben von Wundern sprach, unser Gehirn ist ein einzigartiges Wunderwerk. Es besteht aus über 90 Milliarden Nervenzellen, alle miteinander verbunden und knüpft man alle Nervenbahnen aneinander, so ergibt sich eine Strecke von 5,8 Milliarden Kilometer – das ist rund siebenmal die Reise zum Mond und zurück. In einem Wort: Was Gott uns hier mitgegeben hat, ist einfach unvorstellbar.
BILDUNGSEXPERIMENTE UND DIE ENTWICKLUNG DES GEHIRNS
Während der Erziehung muss man als Elternteil dafür Sorge tragen, dass ein Kind gesund bleibt. Und auch hier gilt: körperlich wie seelisch. Nun aber sind wir am springenden Punkt angekommen. Die Art und Weise, wie wir unseren Kindern Digitalisierung vorleben, wie wir sie ihnen aber auch vorschreiben, riskiert eine gesunde geistige Entwicklung. Unser Gehirn ist neuroplastisch, d.h., es passt sich unserer Nutzungsweise an. Lesen wir oft lange am Stück ungestört, so können wir das. Scrollen wir ständig und springen wir hin und her, können wir es eben nicht mehr.
Führen wir lange intensive Gespräche, tragen wir auch Konflikte von Angesicht zu Angesicht aus, so können wir das. Chatten wir nur noch, können wir das im echten Leben nicht mehr. Usw. Wir klagen darüber, dass unsere Kinder in ihrer Freizeit nur noch an Bildschirmen kleben, zusehends aber zwingen bereits die Schulen sie genau dazu. Es gibt inzwischen ‚Tablet-Klassen‘, bei denen der Unterricht vollständig auf klassische Bücher verzichtet. Hausaufgaben? Digital. Kommunikation mit den Lehrern? Digital. Die Folgeschäden? Offensichtlich auch egal.
„Digitalisierung“ ist der inflationäre politische Schlachtruf und alle, die sich diesem in den Weg stellen, werden als fortschrittsfeindlich beschimpft.
Derartige oben beschriebene Bildungsexperimente sind blanke Idiotie.
Wirklich notwendige innovative Baumaßnahmen werden unterbunden, weil an besagten Entstehungsorten Wühlmäuse Winterschlaf halten oder Kröten wandern müssen. Für das Klima gehen viele auf die Straße und Recht und Ordnung stehen Kopf, für die Bildung aber, für unsere Kultur, nicht. Dabei sollte diese Priorität haben, denn Kultur ist das, was uns als Gesellschaft prägt, was wir tagtäglich im Hier und Jetzt leben, erleben und selbst lebendig machen. Oder anders gesagt: Den Einfluss, den wir nichtige Menschen aufs allumfassende Klima nehmen können, ist marginal. Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein Kampf gegen Windmühlen.
Den Einfluss hingegen, den wir auf den Alltag unserer Kinder nehmen können, ist gigantisch. Hier können wir tatsächlich einen fundamentalen Unterschied machen.
Wir zwingen Kindern die Digitalisierung auf
Durch die Digitalisierung an Schulen, und hier sprechen wir oft von mehreren Stunden täglich bis hin zum kompletten Schulalltag, wächst die Bildschirmzeit der Kinder ins Unermessliche, ihr Stresslevel auch. Jeder, der nach einem langen Arbeitstag den Rechner ausmacht und endlich in die Ferne schauen kann, weiß, wie anstrengend der permanente Blick auf den Bildschirm alleine für die Augen ist. Für den Geist ganz zu schweigen.
Überhaupt wundere ich mich immer mehr darüber, was wir unseren Kindern antun. Schon Kitas und Kindergärten werben inzwischen damit, dass Tablets eingesetzt werden, um schon die Kleinsten auf die digitale Welt vorzubereiten. Jeder, der ein Kind einmal auf ein Smartphone losgelassen hat, weiß, dass es binnen Minuten verstanden hat, wie diese funktionieren. ‚Intuitive Bedienungsweise‘ nennt sich das. Braucht man dafür also noch extra Unterricht? Aufklärung ja, aber die geht auch ohne Bildschirm. Meine Intuition sagt mir jedenfalls, dass wir hier Schlimmes anrichten. Wir haben die Büchse der Pandora geöffnet. Es waren nicht die Kinder. Die aber müssen jetzt damit leben.
KINDERHIRNE SIND FRAGIL
Es sind nicht die Kinder, die sich selbst nach der Grundschule ein Smartphone geben. Wir sind es, die das tun. Und das Argument, es bekämen dann eben alle eines, ist fadenscheinig. Wir alle könnten dafür sorgen, dass dem eben nicht so wäre. Aber wir tun es nicht. Wir unterwerfen uns äußeren Zwängen.
Es waren nicht die Kinder, die Zoom-Unterricht gefordert hatten, als Präsenzunterricht nicht möglich war. Der Bildungsverlust während der Pandemiejahre ist unrevidierbar. Es waren wir Erwachsene, die sich das ausgedacht haben.
Wir traumatisieren unsere Kinder, indem wir von ihnen verlangen, was nicht gut sein kann. Die fragilen Kinderhirne werden durch die erzwungene Digitalisierung auf eine Weise umgebaut, die toxisch ist. Nochmals: Ein gesundes Kind ist ein Geschenk. Warum verschenken wir dies, indem wir unsere Kinder Bildschirmen aussetzen?
Dies macht in vielerlei Hinsicht krank: Psychische Erkrankungen wie Depression und Angststörungen nehmen durch den permanenten Vergleich in sozialen Netzwerken zu, genauso wie Körperwahrnehmungsstörungen; Schlafstörungen sind an der Tagesordnung, denn insbesondere junge Menschen scrollen vor dem Zubettgehen und kommen nicht mehr zur Ruhe; die Konzentrationsfähigkeit wird zerstört, genauso wie die Empathiefähigkeit, denn um sich in andere einfühlen zu können, muss ich mich meinen Mitmenschen ungestört widmen; die schulischen Leistungen sinken.
Junge Menschen trauen sich auch immer weniger, in den echten Dialog, insbesondere mit Vorgesetzten, zu gehen. Tausend Mails ja. Ein persönliches Gespräch nein. Es ist eine große Paradoxie, dass der Terror des permanenten digitalen Kontakts zu einer Kontaktscheu im echten Leben führt. Ja, wir verschenken die Gesundheit unserer Kinder an Bildschirme. Ihre Kindheit geht verloren.

Unser Alltag ist ihre Kindheit
Und mehr noch: Warum verschenken wir die gemeinsame Zeit, indem wir selbst lieber in den Bildschirm starren als Zeit mit unseren Kindern zu verbringen? Vergegenwärtigen wir uns bitte eines:
Unser Alltag ist ihre Kindheit.
Wir Erwachsene sind es, die eine neue Kultur der liebevollen Präsenz vorleben müssen. Für unsere Kinder da sein, bedeutet: ganz da zu sein, ohne Ablenkung. Zeit mit ihnen zu verbringen. Denn diese Zeit ist begrenzt.
Ja, seit ich Mutter bin, erlebe ich tiefstes Glück und empfinde eine stets mitschwingende Melancholie. So anstrengend die Tage manchmal auch sind, und so lange sie mir manchmal vorkommen, die Zeit rast. Bald schon ist die Freiheit der ersten Jahre vorbei, bald schon kommen die ersten Erziehungseinrichtungen. Und ist es nicht absurd, dass Erwachsene nur noch vier Tage arbeiten wollen, Kinder aber am besten schon in eine Ganztages-Kita gehen sollen?
Auch das ein Irrsinn unserer Zeit, der eines zeigt: Wir haben den Verstand verloren. Die gemeinsame Zeit als Familie sollte wieder zu dem werden, was sie ist: ein Heiligtum. Das klassische Familienmodell mag nicht mehr en vogue sein, weil es unwoke ist. Es aber zu leben, sich als Mutter die Zeit zu nehmen, daheim zu sein, ist wunderschön. Es macht glücklich. Auch unsere Kinder.
Erobern wir uns dieses Glück wieder zurück. Denn es gibt sie, die Lösungen.
DIGITAL DETOX IM FAMILIENALLTAG
Allem voran dürfen digitale Geräte im Familienalltag keine Rolle mehr spielen. Sie sollten unsichtbar werden, indem wir ihnen keine Beachtung mehr schenken. Das Festnetz und der Fernseher sind auf diese Weise nebensächlich geworden. Sie sind da, aber egal. Energie folgt stets der Aufmerksamkeit. Ziehen wir unsere Aufmerksamkeit von unseren digitalen Geräten ab, werden sie unwichtig und das Wesentliche, unser Miteinander, darf wieder in Vorschein treten.
Digitale Geräte dürfen in der Erziehung keine Rolle spielen. Bildschirme sind keine Babysitter. Die ersten Jahre sollten komplett bildschirmfrei gestaltet werden – und ja, das geht. Auf keinen Fall dürfen digitale Geräte in Kita, Kindergarten oder Grundschule zum Einsatz kommen. Und auch auf weiterführenden Schulen nicht.
Unsere Kinder müssen lesen lernen und schreiben. Aus Büchern, mit der Hand. Wer mit der Hand schreibt, trainiert sein Gehirn, memoriert das Niedergeschriebene viel besser als Getipptes (ganz Wagemutige fotografieren Tafelbilder ohnehin nur noch ab). Wer jedoch nur noch tippt, verlernt auch die Rechtschreibung. Wer nur noch ChatGTP nutzt, verlernt das Denken. Adieu, intellektuelle Elite. Ich trauere ihr so sehr nach.
Doch vielleicht ist noch nicht alles verloren, steuern wir weiter gegen. Fördern wir alles Analoge bei unseren Kindern: Sie sollen in der Natur spielen, malen, klettern, laufen, turnen, schwimmen, reiten, töpfern. Die Welt, diese wunderbare Welt, ist zum Entdecken da! Hören wir auf mit absurder Technikverliebtheit. Eine VR-Brille, die man aufsetzt und alles sieht wie echt aus, ist toll? Viel toller ist es, die Brille abzunehmen und alles ist echt.
Künstliche Intelligenz kann so toll denken? Viel toller ist die natürliche Intelligenz, die auf kreative Assoziationen, emotionale Nuancen und intuitive Gedanken kommt, wie es keine KI je könnte. Werfen wir diese Befähigung zum Denken nicht weg. Nutzen wir unser Gehirn und ermutigen wir unsere Kinder dazu. Jeden Tag aufs Neue. Und auch dazu gehört, dass wir selbst erst denken, bevor wir googeln.

Der Untergang einer Welt
Klinge ich altmodisch? Ich oute mich gerne als pädagogischer Dinosaurier. Ich sage all dies aus tiefster Überzeugung. Jeder Tag, den Schüler ohne Bildschirme verbringen, ist ein gewonnener. Hören wir auf, den Schlachtruf „Digitalisierung“ an Schulen zu rufen.
Hören wir auf, den Gehirnen unserer Kinder unwiderruflichen Schaden zuzufügen. Das, was sie durch Scrollen und Tippen und Wischen in der Schule vermeintlich lernen, steht in keinem Verhältnis zu dem, was sie dadurch verlieren.
Der alte Spruch, wir lernten nicht für die Schule, sondern fürs Leben, stimmt mehr denn je. Durch einen digitalisierten Bildungsalltag verlernen unsere Kinder das echte Leben. Ich möchte mir dies für meine Tochter nicht ausmalen. Und auch nicht für alle anderen Kinder, die ihren Alltag begleiten, die unsere Welt gestalten werden.
Befürworter der Digitalisierung schon in jungen Jahren mögen argumentieren, neue Medien seien kein Weltuntergang. Das stimmt. Die Digitalisierung ist kein Weltuntergang, aber der Untergang einer Welt. Dies ist ein enormer Unterschied. Ich spreche vom Untergang der alten analogen Welt, in der gewiss nicht alles perfekt, aber vieles noch heilsamer war als heute. Insbesondere die analoge Kindheit, in der Raum für die Seele war.
Daher sage ich noch einmal aus ganzem Herzen und so eindrücklich ich es kann:
Die digitale Welt ist da, gewiss. Aber solange wir können, sollten wir unsere Kinder davor bewahren.
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