Vögel vor einem Sonnenuntergang

Drei Sprachen, die zu Welten führen

Gesellschaftliche Normen und Wünsche schreiben oft Lebenswege vor, früher wie heute. Das Grimm‘sche Märchen „Die drei Sprachen“ zeigt jedoch, dass ungewohnte Wege und Kommunikation Schlüssel in schwierigen Situationen sind.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Nützliches Wissen
  • Verborgene Schätze
  • Synthese, Antithese und Trinität

Text Irmela Neu

Schwarz-Weiß-Bild von Prof. Dr. Irmela Neu.

Prof. Dr. Irmela Neu lehrt Interkulturelle Kommu­nikation in Spanien und Lateinamerika an der Hochschule München für angewandte Wissenschaften (HM), gibt Seminare zu empathischer Kommu­nikation, ist Autorin und studierte Politologin. www.irmela-neu.de

„In der Schweiz lebte einmal ein alter Graf, der hatte nur einen einzigen Sohn, aber er war dumm und konnte nichts lernen.“ So beginnt das Märchen der Gebrüder Grimm.
Da der Graf offensichtlich auf die Ausbildung seines Sohnes viel Wert legte, war er über diese Tatsache sowohl betrübt als auch verärgert; also beschloss er, seinen Sohn einem berühmten Meister zu übergeben, denn: „Der soll es mit dir versuchen“, wie er ihm eines Tages beschied.

Also wurde der Jüngling in eine fremde Stadt geschickt, wo er ein halbes Jahr in der Obhut eines für seine Kunst berühmten Meisters blieb. Als er wieder heimkam, wollte der Vater wissen, was er denn in der Zeit gelernt habe?
Sein Sohn antwortete wahrheitsgemäß: „Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen.“
Die Reaktion des Vaters können Sie sich vorstellen. Er war alles andere als zufrieden, ja sogar enttäuscht, und entgegnete ihm lautstark: „Dass Gott erbarm, ist das alles, was du gelernt hast?“

Der Vater – Sohn Konflikt

Natürlich hatte der Vater gehofft, dass sein Sohn nun „etwas Anständiges“ lernt, wie wir heute sagen würde; etwas Nützliches, das ihm zu einem guten Leben verhilft. Dies kann ein sozialer Aufstieg sein oder im Fall des Grafen eine Erziehung, die standesgemäße Kriterien erfüllt. Stattdessen kommt der Sohn mit so etwas Nutzlosem daher: Kenntnisse über die Hundesprache, die völlig überflüssig sind!

Reine Geldverschwendung, wird der Vater zudem noch gedacht haben, denn sicher hat er ihm die Ausbildung finanziert. Seine Erwartungen sind also nicht nur nicht erfüllt, sondern bitter enttäuscht worden! Sein Sohn blieb in seinen Augen auch weiterhin dumm und gesellschaftlich zu nichts nutze. Was tut er? Er belässt es nicht dabei. Er will das Schicksal des Jünglings in die für ihn, den Vater, richtigen Bahnen lenken; deshalb schickt er ihn zu einem zweiten Meister in einer anderen Stadt.

Wird er im Sinne des Vaters seinen Sohn auf die rechte Bahn bringen, indem er ihm die erwartete, nutzbringende (Aus-)Bildung angedeihen lässt? Folgen wir dem Verlauf des Märchens.

Zwei Männer disktuieren miteinander

Die Verschärfung des Konflikts

Nun, Sie ahnen es schon, geneigte Leser, es gelingt mitnichten. Auch der zweite Meister bringt dem Sohn etwas bei, das dem Vater später Entsetzen entlockt, gepaart mit Ärger, ja blanker Wut. Als der junge Mann nämlich nach einem Jahr der Lehre bei dem zweiten Meister wieder heimkehrt, will der Vater gleich wissen, mit welchen Kenntnissen er denn nun aufwarten könne. Tja, was hat er gelernt?
„Vater, ich habe gelernt, was die Vögli sprechen.“

Voller Zorn bezeichnet dieser ihn als „verlorener Mensch“, der seine „kostbare Zeit“ vergeudet habe. Ja, schlimmer noch: „…du schämst dich nicht, mir unter die Augen zu treten?“ Ein „verfehltes Zeitmanagement“, würden wir ihm heute attestieren, geht gar nicht, und dann auch noch die vom Vater erwarteten Vorgaben als Sohn so zu verhöhnen!

Damit hat er sich als ein Außenseiter qualifiziert, der er immer schon war, und diese unerfreuliche gesellschaftliche Position noch verfestigt. Es ist klar: Er entspricht nicht den Anforderungen seines gesellschaftlichen Standes – ein Abweichler, vielleicht auch noch ein renitenter, so schamlos, wie er ist. Keine Spur vom Bewusstsein seines Fehlverhaltens! Das hätte er in den Augen seines Vaters wenigstens an den Tag legen können!

Entsprechend drohend reagiert der Herr Graf mit folgenden Worten:
Ich will dich zu einem dritten Meister schicken, aber lernst du auch diesmal nichts, so will ich dein Vater nicht mehr sein.“

Klare Ansage, keine Kompromisse. Der Vater gibt ihm noch eine Chance und schickt ihn zu einem dritten Meister in eine weitere, ihm fremde Stadt. Erfüllt sein Sohn die an ihn gestellten Ansprüche wieder nicht, gehört er nicht mehr zum Familienclan. Er würde dann ausgeschlossen, ja verstoßen. Gesellschaftliche Positionierung und die Erfüllung von Normen über Menschlichkeit!

Eine Verhaltensweise, die wir auch heutzutage noch kennen. Sie wird bisweilen gepaart mit der Aussage: „Ich will doch nur dein Bestes.“ Nun, unser Vater im Märchen sagt dies nicht, er droht direkt ohne Rechtfertigung.

Gelingt es ihm – oder bleibt der Sohn ein Außenseiter?

 

Nahaufnahme Frosch

Das gesellschaftliche Aus

Es kommt, wie es kommen muss. Der Sohn bleibt ein Jahr bei dem dritten Meister. Als der Jüngling heimkommt, stellt ihm sein Vater dieselbe Frage wie zwei Mal vorher bei dessen Heimkommen von den zwei vorangegangenen Meistern. Was er denn gelernt habe? Wahrheitsgemäß antwortet der Sohn … doch halt, bevor die Auflösung erfolgt, könnten Sie sich ja überlegen, geneigte Leser, was der Sohn denn antwortet. Also bitte an dieser Stelle eine Pause einlegen.

Die Antwort des Jünglings: „Lieber Vater, ich habe dieses Jahr gelernt, was die Frösche quaken.“

Hmm. Sie ahnen, wie der Vater, der Herr Graf, darauf reagiert. Das ‚Lieber Vater‘ erreicht ihn offensichtlich kein bisschen, stattdessen springt er auf und schleudert ihm in höchster Wut folgende Sätze entgegen:
Dieser Mensch ist mein Sohn nicht mehr, ich stoße ihn aus und gebiete euch, dass er ihn hinaus in den Wald führt und ihm das Leben nehmt.“

Er verstößt ihn also nicht nur aus dem Familienverband, sondern er ordnet sogar an ihn umzubringen. Offensichtlich ist er des Lebens nicht mehr wert.
Was hat er getan? Die an ihn gestellten Erwartungen hat er nicht nur nicht erfüllt, er hat diese in den Augen des Herrn Grafen mit den Füßen getreten, indem er in dessen Augen lauter Unsinn gelernt hat. Ein Frevel! Gegen die gesellschaftliche Ordnung! Gegen das Weltbild – der Familie und überhaupt! Weg mit ihm!

Nun, damit ist das Märchen noch nicht zu Ende. Nun kommt der Sohn zum Zuge. Doch wie?

Der Zugang in die Unterwelt

Der Jüngling wurde in den Wald geführt, doch dann empfanden die Knechte großes Mitleid mit dem unschuldigen Jüngling. Sie ließen ihn laufen. So entkam er dem ihm zugedachten Schicksal und machte sich auf die Wanderschaft.

Nach einer Weile erreichte er eine Burg und bat den Burgherren um eine Übernachtungsmöglichkeit. Der gewährte sie ihm, doch mit einer schrecklichen Warnung. Er könne zwar in dem alten Turm unten übernachten, doch seien dort schreckliche Hunde, die ständig heulten und bellten und sogar Menschen fräßen. Damit tyrannisierten sie die ganze Gegend. Niemand hatte es bislang geschafft, sie von diesen Monstern zu befreien.

Unser Jüngling schreckte dies nicht, ganz im Gegenteil. Furchtlos antwortete er: „Lasst mich nur hinab zu den bellenden Hunden und gebt mir etwas, das ich ihnen vorwerfen kann; mir sollen sie nichts tun.“

So geschah es, und unser Held stieg hinab in den Turm zu den Hunden. Im Gegensatz zu sonst bei anderen Menschen empfingen sie ihn freundlich und schwanzwedelnd. Sie krümmten ihm kein Härchen. Zu jedermanns Erstaunen kam er am Morgen unversehrt aus dem Turm heraus und erklärte dem Burgherrn, was er von den Hunden erfahren hatte. Er beherrschte ja ihre Sprache, das hatte er gelernt!

Hund beltt

Die Hunde waren, so erfuhr er von ihnen, verwunschen und dazu verdammt, einen wertvollen Schatz unter dem Turm zu hüten. Der Burgherr versprach ihm, ihn an Sohnes statt zu adoptieren, wenn er sich traute, den Schatz auszugraben. Das tat er sogleich. Es kam eine Schatzkiste mit reinem Gold zum Vorschein! Die Hunde waren befreit, trollten sich des Wegs und der Spuk hatte zur Freude aller damit sein Ende.

Die verborgenen Schätze

Die Aufgabe der Hunde lassen an die mythologisch bekannten „Höllenhunde“, an den Höllenhund „Zerberus“ etwa denken, an die Herrscher und Hüter der Unterwelt. Gold, alle Mineralien sind Schätze unter der Erde, der Unterwelt. Sie zu bergen, wird zu einem lukrativen Geschäft. Die Wendezeit in die neue Ära der Industrialisierung lässt grüßen! Der Boden gibt seine Schätze frei, wenn ich denn die Sprache der Hüter verstehe und ihnen diese Schätze entlocke.

Im Laufe der Geschichte braucht es freilich eine solche Kenntnis nicht mehr. Die Schätze werden einfach entnommen. Das Vorhandensein von Bodenschätzen gilt als Gradmesser für die Chance, zu ökonomisch messbarem Reichtum zu gelangen … und Gold ist und bleibt ein mehr denn je wertvoller Schatz!

Die Kundschafter

Unser Held bleibt nicht beim Burgherrn, vielmehr wandert er weiter. Nach einer Weile spürt er einen Ruf, nach Rom zu wandern. Er kommt diesem Ruf nach und begibt sich erneut auf Wanderschaft. Unterwegs kommt er an einem Sumpf vorbei, in dem Frösche sitzen und lauthals quaken. Er hört ihnen genau zu.

Da er ihre Sprache versteht, versetzt ihn das Gehörte in eine nachdenkliche und traurige Stimmung.

Wir erfahren zunächst gar nicht genau, was die Frösche ihm mitgeteilt haben. Es erschließt sich erst im weiteren Verlauf des Märchens. Halten wir einen Moment inne. Welche Symbolik wohnt den Fröschen inne?

Wissen Sie, warum heute „Wetterfrösche“ so populär sind? Warum gerade „Frösche“? Nun, es hat mit den Fähigkeiten von Fröschen zu tun. Sie sind einerseits mit dem Element Wasser, andererseits mit dem Element Luft verbunden. Sie nehmen Wetterwechsel schon im Vorfeld wahr und verkünden sie lauthals quakend. Ein Frosch weiß, was die Zeit uns an Wetter bringt, bevor es sich deutlich zeigt. Insofern ist er ein „Wetterverkünder“.
Mehr noch: Frösche sind in der Lage, kommende Ereignisse, die bereits in der Luft liegen, zu erfassen. Sie geben sie auch exakt kund und wir könnten sie verstehen, wenn, ja, wenn wir ihre Sprache verstehen würden.

Genau das ist bei unserem Jüngling der Fall. Er kann entschlüsseln, was sie ihm gesagt haben. Offensichtlich haben sie ihm geraten, nach Rom weiter zu wandern. Er dürfte auch erfahren haben, dass der Papst in Rom verstorben war, und dass sich die Suche nach einem geeigneten Nachfolger in vollem Gange befindet. Ja, er erhält auch einen Hinweis, dass eine neue Aufgabe auf ihn warten würde, und dass diese Aufgabe alles bisher in den Schatten stellen würde, was er sich jemals vorstellen konnte.

Mehr noch: Wie sich am Ende des Märchens herausstellt, erzählten ihm die Frösche sogar, er solle der neue Papst werden, was ihn erschrak.

Pabst in weißem Gewand

Die Verbindung mit der göttlichen Welt

Wie auch immer, er kommt erwartungsvoll und etwas bange in Rom an. Dort hatten die Kardinäle gerade einen Beschluss gefasst: Es sollte derjenige zum Papst bestimmt werden, „an dem sich ein göttliches Wunderzeichen offenbaren würde.“ Es herrschte also in Rom und unter den kirchlichen Würdenträgern eine gespannte Erwartung, was sich ihnen nun offenbaren würde. Sie sollten nicht lange warten müssen.

Unser junger Graf betrat die Kirche. Im selben Moment „flogen zwei schneeweiße Tauben auf seine Schultern.“ Darin sahen die kirchlichen Würdenträger ein Zeichen Gottes und fragten ihn, ob er auf der Stelle der neue Papst werden wollte. Das war nun doch sehr plötzlich und zudem eine verantwortungsvolle Aufgabe, so dass er mit der Annahme zögerte. Die zwei weißen Tauben auf seiner Schulter sprachen ihm Mut zu; wie gut, dass er die Sprache der Vögel und damit auch ihre erlernt hatte!

Schließlich nahm er die an ihn herangetragene Aufgabe an. Er wurde der neue Papst, als solcher gesalbt und inthronisiert. Die Prophezeiung der Frösche hatte sich erfüllt!

Als neu ernannter Papst sollte er sogleich eine Messe lesen. Natürlich war er damit noch nie in Berührung gekommen. Doch die zwei Tauben flüsterten ihm alles ins Ohr, so dass er seiner neuen Aufgabe gerecht werden konnte. Die Tauben erfüllten hiermit in konkreter Weise ihre Aufgabe als Botschafterinnen des „heiligen Geistes“.

Unser Held verfügt nun über eine Anbindung an die drei Welten: an die untere Welt, an die mittlere, auf der wir leben, und an die spirituelle der göttlichen Dimension. Er hatte sich in den drei Welten bewegt und da er durch seine Sprachkenntnisse Zugang zu ihnen hatte, können wir ihn mit einem neuzeitlichen Begriff mit Fug und Recht als „Superman“ bezeichnen.

Ein Schild mit einer Drei

Das Prinzip der Trinität

In diesem Märchen, doch auch in vielen weiteren, finden wir das Prinzip der „Trinität“. Bekannt ist es u.a. als wissenschaftliche Methode in der Hermeneutik, die zur klassischen Ausbildung von Philologen und Philosophen gehört(e). Es genügt nicht, eine These herauszuarbeiten, sondern man muss auch Argumente entfalten, die der These als Antithese widersprechen. Daraus ergibt sich dann als Gesamtbild eine Synthese, die beiden gerecht wird. Das ist Wissenschaft, so wie sie Jahrhunderte lang praktiziert wurde.

Mit den Naturwissenschaften trat das Kriterium der „Messbarkeit“ in den Mittelpunkt. Nur das Evidente, Überprüfbare, Quantifizierbare gilt als „wissenschaftlich“. Damit hat eine Parzellierung von dem, was erforscht werden soll, den Siegeszug angetreten und sich durchgesetzt. Ergebnisse, die diesen Kriterien nicht standhalten, die also eine „Antithese“ bilden würden, finden zumindest keine vorrangige Beachtung. Demnach entfällt auch die Suche nach einer Synthese.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Wissenschaft bzw. das, was als Wissenschaft im öffentlichen Diskurs bekannt wird, nur noch Befürworter und Gegner auf den Plan ruft. Das Prinzip der „Trinität“ weicht dem der „Dualität“, dem Gegeneinander.

Es ist an der Zeit, sich in der Kunst zu üben, Argumente und Phänomene von beiden Seiten aufzunehmen, um daraus eine Synthese zu bilden. Dies gilt nicht nur im Bereich der Wissenschaften, sondern auch insgesamt für unsere Haltung gegenüber dem Leben. Der Fokus auf den Dreiklang erweitert unseren Blickwinkel: er richtet sich auf das Zusammenspiel der zwei Kräfte, die sich zu einer dritten Kraft entwickeln, die beide harmonisierend in sich aufnimmt.

Dabei hilft uns die Verbindung mit der Natur, die uns in die Harmonisierung bringt. Wir spüren, wie wohltuend es ist, die Naturelemente auf uns wirken zu lassen. Das tun auch die Tiere, die mit ihnen leben und auf sie reagieren. Dies gibt ein Gefühl von Einheit; das „ich“ und „du“ wird zum „wir“. Das ist die Trinität!

Es lohnt sich sehr, dieses Prinzip im Alltag zu erkunden und zu leben: eine lebenslange Reise mit vielen überraschenden Entdeckungen, Erkenntnissen und Überraschungen! Viel Freude dabei …

Fotos: iStock, Unsplash / Drew Brown, Max Fuchs, Pete Godfrey

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