Friedenstaube und Schriftzug

EIN WEG ZUM FRIEDEN

„Ich und Du“, das zentrale Werk des Religionsphilosophen und Friedenspreisträgers Martin Buber, erschien vor 100 Jahren. Seine Botschaft ist aktuell: Nur wo es Grenzen gibt, entstehen auch Zwischenräume für Begegnungen und Frieden.

Hier erfahren Sie mehr über

  • Die Zwiefältigkeit des Lebens
  • Die Chance der Krise
  • Die Möglichkeit des echten Friedens

Text Brigitte Berger

Paartherapeutin Brigitte Berger

Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.

„Ich und Du“ von Martin Buber

Vor 100 Jahren brachte der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber sein Werk „Ich und Du“ in die Welt. Dessen Botschaft: Nicht allein in uns, in unseren gedachten, wie gefühlten Innenräumen und auch nicht in der bunten und oft erschreckenden Welt dort draußen findet sich das, was für sich genommen beanspruchen könne, die Wirklichkeit zu sein. Im „Zwischen“-uns und der Welt ereigne sich die Wirklichkeit unvordenklich, nicht machbar und voll der Gnade. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ lautet ein zentraler Satz Martin Bubers.  Mit diesem Zitat wird für manches schöne Hideaway geworben. Allein in der Konsequenz führt Bubers Dialogische Denken nicht hinaus, sondern mitten hinein ins Leben und in die Verantwortung für den Frieden.

Martin Buber ging davon aus, dass es zwei Weisen gäbe, durch die der Mensch mit der Welt in Beziehung trete. Er nannte sie die Ich-Es Beziehung und die Ich-Du Beziehung.

Ich-Es, damit bezeichnete Buber die Weise der Entgegensetzung, der Objektivierung der Welt. Das ist die Welt des Wissens über mich, den Anderen, die Natur, die Welt. Wissenschaft, Sprache, Erfahrung, Abgrenzung, Machbarkeit hingegen sind Elemente der Ich-Es Beziehung.

  • Zaun mit Stacheldraht
  • Seitenstreifen einer Strasse mit Asphalt und Wiese nebeneinander

Ich-Du, damit beschrieb Buber die Sphäre der Begegnung. Hier weiß ich nichts mehr vom Anderen, hier erfahre ich nicht die Welt.

Der Andere, die Welt begegnet mir. Hier werde ich angesprochen und antworte mit meinem Wesen. Zwischen Ich und Du entsteht ein schöpferischer Raum, in dem sich existentielle Verantwortung zuträgt. Aus der Begegnung trete ich als ein Veränderter, es ließe sich auch sagen, als ein Ver-Anderter, hervor.
Ich werde am Du.

Die Ich-Es Beziehung ist nicht von Übel, wie Buber es immer wieder betont. Denn nur, wenn eine Grenze vorhanden ist, gibt es einen Zwischenraum. In einer Symbiose kann es kein Du, keine Begegnung geben. Wir müssen von etwas ausgehen können, um auf einen anderen Menschen zugehen zu können. Ganzheitlich kann das zum Beispiel in der Sexualität erlebt werden: Wer sich in seinen Grenzen sicher weiß, der vermag, sich hingebend sie zu überschreiten. Grenzen sind Voraussetzung dafür, in Beziehung treten zu können. Ohne Ich-Es kein ich-Du.

Taube fliegt vor einem Hochhaus

DIE ICH-ES WELT

Die Ich-Es Welt ist nur dann von Übel, wenn sie überhandnimmt und behauptet, die Wirklichkeit zu sein. Wenn wir uns selbst und anderen Menschen, der Natur und den Dingen gegenüber allein auf der Ebene zugeschriebener Eigenschaften und unter dem Blickwinkel unserer Absichten denkend, handelnd und sprechend uns beziehen, geht die Wärme im Kontakt, das lebendige Gespür für sich uns selbst und den Andern verloren. So gerät das Leben zur Konstruktion, der eigene Körper zum Objekt, der Blick auf den anderen Menschen und die Natur orientiert sich an Maßstäben der Zweckmäßigkeit, des Funktionierens und der Gewinnmaximierung.

Die Dosis der Ich-Es Welt macht also das Gift. Dafür einige Beispiele: Natürlich erwarten wir, wenn wir zum Arzt gehen, dass er uns sein medizinisches Wissen zur Verfügung stelle. Wenn der Arzt uns ausschließlich als Symptomträger betrachtet, fühlen wir uns hingegen nicht gut behandelt.

Grenzen im zwischenmenschlichen Kontakt sind notwendiger Schutz.  Machen wir aber komplett dicht, so ist es, als stünden zwei Menschen sich in Rüstungen gegenüber. Küssen ist somit schwer möglich. Vergessen wir nicht, woran uns die amerikanische Schamforscherin Brené Brown im gleichnamigen Buch eindringlich erinnert: „Verletzlichkeit macht stark“ und Küssen zum größeren Genuss.

Mittels Sprache begreifen wir die Welt, können wir einander verstehen. Kleben wir jedoch an Begriffen, haben wir die Verbindung zu der Wirklichkeit, auf die das Wort hindeutet, verloren. So verkommt Sprache zur bloßen Information, werden Worte in Beziehungen in die Waagschale gelegt, gerät Sprache zum Mittel der Entfremdung, anstatt das Zwischenmenschliche zu bewirken.

Martin Buber wünschte sich eine Welt, in der die Ich-Es Beziehung von der Welt des Ich-Du, durchwirkt ist. Grenzen sollten durchlässig bleiben und den Raum für Begegnung und Erneuerung bilden.  Die Sprache, eine Ansprache des Ich an ein Du. Die Antwort, eine Verantwortung für das Leben.

Zwei Menschen zeigen mit Ihren Händen das Peace Zeichen

DER KRIEG UND DIE KRISE DES VERTRAUENS

Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums von „Ich und Du“ veranstaltete die Martin-Buber Gesellschaft im September 2023 eine Philosophische Tagung in der Katholischen Akademie Stapelfeld zur Bedeutung des Dialogischen Denkens. Die Tagung eröffnete Igor Solomadin, Professor für ukrainische Geschichte. Er lebt derzeit in Prag und unterrichtet Kinder russischer Oppositioneller in ukrainischer Geschichte. Solomadin sprach ukrainisch.
Bevor die Übersetzung einsetzte, verstanden wir ihn nicht, jedoch in der Zeit seines Sprechens, wenn er sich ereiferte und dann wieder beruhigte, lachte und schließlich nachdenklich wurde, standen wir über die Melodie der ukrainischen Sprache mehr in Berührung mit der Ukraine als über unser ohnedies dürftiges Wissen über dieses Land in unserer Nachbarschaft. Igor Solomadin ist dem Dialogischen Denken Martin Bubers verbunden.
Auf die Frage, inwieweit der Dialog in der aktuellen Situation eine Möglichkeit des Friedens darstellen könne, antwortete er bedauernd, dass inzwischen selbst das Gespräch mit russischen Oppositionellen in der Ukraine als Verrat angesehen werde. Ist das Dialogische Denken im Angesicht des Krieges obsolet geworden?

Martin Buber erhielt 1953 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Auf jenem Boden stehend, auf dem sieben Jahre zuvor sechs Millionen Juden von Deutschen umgebracht wurden, hielt Buber eine Rede über das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens.
Buber sprach in seiner Dankesrede von den eigenen Grenzen des Du-sagen-könnens den Deutschen gegenüber. Jene, die sich in irgendeiner Weise an der Vernichtung beteiligt haben, hätten sich in eine Dimension der Unmenschlichkeit gestellt, dass selbst Hass keine Verbindung mehr zu diesen Menschen herstellen könne. Auch an einer Vergebung könne Buber sich diesen Menschen gegenüber nicht verheben.

Für jene, die obwohl sie es besser hätten wissen können, es aber nicht wissen wollten, was in Deutschland geschah und ebenso jenen gegenüber, die sich nicht getraut haben Widerstand zu leisten, könne Buber in Kenntnis der Schwäche des Menschen, Verständnis aufbringen. Die aber, die sich mit dem Mut des Herzens für das Leben und gegen die Unmenschlichkeit tätig auflehnten und dafür gar in den Tod gingen, für diese deutschen Menschen trage er Ehrfurcht und Liebe in seinem Herzen.
Buber sprach von der Krise des Vertrauens, auf deren Boden die Chance der Umkehr gedeihe. „Was außerhalb der Krisis nie sich offenbarte, die wendende Macht, tritt ans Werk, wenn der von der Verzweiflung Ergriffene, statt sich fallen zu lassen, seine Urkräfte aufruft und mit ihnen die Umkehr des Wesens vollzieht.“

Möglichkeit des echten Friedens

DER GLAUBE AN DIE MÖGLICHKEIT DES ECHTEN FRIEDENS

Werden Russland und die Ukraine nach dem Krieg wieder in ein Gespräch zueinander eintreten können? Inzwischen erschüttert zudem der Krieg im Nahen Osten die Welt. Wie ist Frieden möglich?

„Ein echtes Gespräch ist eines, in dem jeder der Partner den anderen, auch wo er in einem Gegensatz zu ihm steht, als einen existenten Anderen wahrnimmt, bejaht und bestätigt; nur so kann der Gegensatz zwar gewiss nicht aus der Welt geschafft, aber menschlich ausgetragen und der Überwindung zugeführt werden.“

Klingt das in der aktuellen Situation nicht vollkommen weltfremd? Wie schwer ist die gegenseitige Bejahung und Bestätigung allein in einer Paarbeziehung, in der Familie oder im nachbarschaftlichen Verhältnis, wenn Differenzen herrschen oder es zu Verletzung und Streit gekommen ist?!

Buber wagte 1953 den Glauben, dass der Mensch dazu imstande sei. Der Beginn läge nicht allein in der Politik, sondern im Einzelnen und seinem Mut, sich trotz allem zum Vertrauen zu entschließen. Nur in diesem Vertrauen fänden wir wieder zu einer Sprache, die uns verbindet. In seiner kleinen Schrift, „Der Weg des Menschen“ appellierte Buber:

„Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts andres in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern. Jede andere Stellungnahme lenkt mich von meinem Beginnen ab, schwächt meine Initiative dazu, vereitelt das ganze kühne und gewaltige Unternehmen. Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst …“  

Dieses Potenzial steht jedem von uns zur Verfügung. Entschließen wir uns dazu – anstelle der Aggression. Jetzt.

Fotos: Unsplash / Will Francis, Zaur Ibrahimov, Jannick, Sunguk Kim, Danny Lines, Priscilla du Preez

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