Fotografie von zwei Menschen

DIE WEISHEIT UNSERER TRÄUME VERSTEHEN

Ein Traum sucht nach Wegen, das Leben weiterzuentwickeln. Träume lassen sich als persönliches Evolutionssystem begreifen. Wie aber können wir diese oft fremdartigen, manchmal auch erschreckenden Traumszenarien verstehen?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Träumen in Bildern
  • Träume als Innenansichten
  • Traumlexika und warum sie nicht funktionieren

Text Brigitte Berger

Paartherapeutin Brigitte Berger

Brigitte Berger ist Erziehungswissenschaftlerin und Paartherapeutin. Sie arbeitet mit Träumen und bietet als ehemalige Dozentin an der vormaligen Bayerischen Akademie für Gesundheit eine Ausbildung zur Traumarbeit für therapeutische Berufe an. Zudem ist sie Mitglied der Martin-Buber-Gesellschaft.

Der Traum ist eine Suchbewegung nach der besten Antwort für die Herausforderungen des Lebens. Das Ergebnis präsentiert uns der Traum in Bildern. Wir träumen in Bildern aus gutem Grund. Träume könnten Klartext reden.

„Mach es so!“
„Unterlasse jenes!“

Es gibt kürzere und längere Textpassagen in Träumen. Überwiegend aber sprechen Träume in Bildern. Bilder sind Träger und Auslöser von Emotionen. Suchen wir über den Traum den passenden nächsten Schritt in unserer aktuellen Lebenssituation, nähern wir uns diesem also über die Emotion und nicht durch angestrengtes Nachdenken. Dies ist ganz im Sinne des Lebens. Die Neurologie liefert auch hierzu interessante Erkenntnisse.

Der amerikanische Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio zeigt in seiner Forschung über das Entstehen des Bewusstseins, dass in der Entwicklung des Lebens das Fühlen dem Denken vorausgeht. Die ersten Zellen spürten mit welcher anderen Zelle sie sich am besten verknüpfen könnten, um ihr Überleben zu sichern.

Evolutionär waren am Anfang nicht das Wort und der Gedanke, sondern das Gespür. Daraus entwickelte sich das Fühlen und schließlich, viel später, die Kognition, das Bewusstsein. Diese Entwicklung durchläuft auch der Mensch im Verlauf seines Lebens. Das Milieu im Mutterleib wird gespürt. Die frühesten Kindheitserfahrungen sind ausschließlich gefühlte.

Auch als erwachsene Menschen bewegen wir uns meist schon eine ganze Zeit in einem Gefühl, bevor wir es bewusst erleben, also bedenken und benennen.
Descartes Satz „Ich denke, also bin ich“ wandelt der Damasio um in: „Ich fühle, also bin ich.“
Wir träumen deshalb in Bildern, weil wir für die richtige Antwort im Leben auf die Zusammenarbeit von Verstand und Gefühl angewiesen sind.

Um es sinngemäß mit den Worten aus dem kleinen Prinzen zu formulieren: Wir erkennen nur mit dem Herzen gut. Indem wir über das Befragen der Traumbilder zu einem Verständnis der Traumbotschaft gelangen, kommunizieren die linke und rechte Gehirnhälfte vortrefflich miteinander. Traumarbeit macht gefühlte Erkenntnis möglich.

Bild eines Menschen in Regenjacke

Träume sind Innenansichten

„Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen“ dichtete Rainer Maria Rilke in der siebenten Duineser Elegie. Träume sind Bildgewebe aus dem „Weltinnenraum“. Der Traum ist eine Innenansicht. Es geht im Traum ausschließlich um den Träumer. Alle Anteile des Traumes stellen Persönlichkeitsanteile des Träumenden vor. Der Traum thematisiert ein Selbstverhältnis, das „Sein-mit-mir“. Tat Tvam asi. Das bist du.

Auch, wenn wir von anderen Menschen träumen, geht es niemals um diese Personen, sondern darum, was sie für uns bedeuten oder welche unserer Art zu denken und zu handeln sie repräsentieren. Insbesondere, wenn Personen im Traum bedroht sind oder gar sterben, wird das im Traumverstehen leicht vergessen.

Dazu ein Traumbeispiel. Eine Frau träumt, ihr heute 30-jähriger Sohn fährt als fünfjähriger Junge etwas wacklig auf dem Fahrrad vor den Eltern im Sonnenschein her. Es ist ein friedliches Bild. Auf einmal kommt von hinten ein Sattelschlepper. Der dumpfe Aufprall des kindlichen Kopfes auf der Kühlerhaube ist deutlich hörbar. In der nächsten Szene beugt sich die weinende Mutter über ihr Kind, das wie tot zwischen den Rädern des Lasters zum Liegen gekommen ist.

Die Träumerin erwacht tränenüberströmt. Der erste Impuls ist, den Sohn zu kontaktieren, ob alles in Ordnung sei. Ja, natürlich sei alles in Ordnung. Das Grauen des Traumes hält die Träumerin so lange gefangen, bis sie sich die entscheidenden Fragen entlang der Traumbilder stellt: Was ist mir das Liebste im Leben? Und wodurch gefährde ich es?

In der Zeit des Traumes war der Träumerin das Schreiben an ihrem ersten Buch ihrem Herzen am nächsten. Sie war noch etwas unsicher in dieser Disziplin ähnlich dem Balanceakt, wenn wir Fahrradfahren lernen. Von einem Glücksgefühl begleitet gelang es ihr streckenweise, beim Schreiben zu bleiben. Bis zu dem Moment, in dem sie von den Bürden ihres Lebens, die sie sich unbewusst und nicht beachtet aufgelastet hatte, schlagartig in ihrem Schreiben aus der Bahn geworfen wurde.

  • Foto einer Frau - der Mann liegt mit ausgebreiteten Armen neben ihr
  • Foto einer Frau wie im Traum

Träume sind Gutscheine für ein gelingendes Leben

Der Traum endet hier nicht. Der Traum geht vom Problem zur Lösung. Das letzte Bild gleicht der Figur einer Pieta: Die Mutter beugt sich über den leidenden Sohn. Die Worte des buddhistischen Lehrmeisters Thich Nhat Hanh fallen der Träumerin ein: Beuge dich über deinen Schmerz, wie eine Mutter über ihr weinendes Kind.

Der Traum sagt: Verurteile dich nicht. Sieh deinen Schmerz und umfange ihn mit deinem Mitgefühl. Tröste dich. Dein Schreiben ist nicht tot. Es wird in deiner Liebe zu dir selbst auferstehen.

Drastischer hätten der Träumerin die Belastungen ihres Lebens und wie diese sie um ihr Glück und ihre Kreativität bringen, nicht in die gefühlte Erkenntnis gebracht werden können. Träume sind keine Sonntagsspaziergänge. Doch Träume sind immer für uns! Wie dramatisch Träume auch auftreten, sie sind Gutscheine für ein gelingendes Leben – manchmal mit Weckfunktion.

Menschen blicken über eine Brüstung

Warum Traumlexika nicht funktionieren

An diesem Traumbeispiel wird auch klar, warum Traumlexika nicht funktionieren können. Träume sind immer „Haut Couture“. Sie analysieren zielgenau das individuelle Problem und entwickeln die Lösung für diesen Träumer, diese Träumerin in der Einzigartigkeit ihrer Person und ihres Lebens.

Es gilt, sensibel die Metaphern im Traum zu befragen nach deren subjektiven Bedeutung und diese in Kontakt zu bringen mit der augenblicklichen Lebenssituation: Der Sohn? Ja, der Sohn ist mir das Liebste. Was ist dir augenblicklich das Liebste? … So dann nehmen wir die objektive Bedeutung mit in Betracht: Fahrradfahren ist anfänglich ein Balanceakt.

Die Sonne: Was bringt dein Leben zum Blühen? Immer in der Referenz zur Situation gefragt. Der Sattelschlepper, was ist da drin? Was belastet dich und trägst du weiterhin mit dir herum. Und so fort… Um noch einmal Rilke zu zitieren: „Traum ist das Wort des sanften Falles in dein Gefühl.“

Träume sind intimste Selbstaussagen. Traumlexika hingegen verallgemeinern. Sie schreiben den Bildern im Traum bestimmte Bedeutungen zu. Nehmen wir zum Beispiel den Hund, der häufig in Träumen vorkommt. Gemeinhin wird die Metapher als die Treue zu uns selbst verstanden. Die Lesart erklärt sich aus der unbeirrbaren Ausrichtung des Hundes auf Herr- oder Frauchen.

Wir werden der Weisheit der Träume nur gerecht, wenn wir differenzierter hinsehen. Wie könnte der Hund in meinem Traum derselbe sein, wie der Hund in Ihrem Traum? Abgesehen davon, dass es ganz unterschiedliche Hunde gibt und Sie und ich ganz verschiedene Erfahrung mit Hunden gemacht haben könnten, verkürzen Traumlexika den Traum zu einer Aneinanderreihung von Vokabeln.  Keinen einzigen Satz könnten wir richtig verstehen, geschweige denn den Sinn eines Textes erschließen, wenn wir die Worte für sich genommen, aus dem Kontext gelöst, zu verstehen suchten.

Die gleichen Worte in unterschiedlicher Reihenfolge ergeben einen anderen Sinn. Schönstes Beispiel: „Ich liebe Dich!“ hat eine andere Bedeutung als „Dich liebe ich!“ Wir werden einem Traum nur dann gerecht, wenn wir die Metaphern im Kontext der Sinnstruktur des Traumes, vom Problem zur Lösung, befragen.

Ein reich tragender Apfelbaum zu Beginn eines Traumes, in dem wir die Problementwicklung erwarten, kann auf die Schwierigkeit hinweisen, die Früchte eines Lebens auch zu genießen. Der gleiche Apfelbaum am Ende dem Lösungsteil des Traumes ist wie das Versprechen eines Segens, der auf Bewusstwerdungsprozess folgt. Eine Eindeutigkeit von Metaphern kann es nicht geben.

Die Antworten des Traumes werden nur die Träumenden selbst entdecken. Die Erfahrung wird dabei eine individuelle und eine neue sein.

Albert Einstein sagte sinngemäß: Wir können ein Problem nicht mit dem Denken lösen, durch das es entstanden ist.

In unseren Träumen gehen wir über uns hinaus und (er)finden uns neu.

Fotos: Unsplash / Annie Spratt

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