Blick in den Sternenhimmel

Traum & Wirklichkeit

Sind Träume nur Schäume wie der Volksmund sagt? Oder steckt mehr dahinter, ist das Träumen womöglich der Zugang zu einer anderen Art des Wissens, die Kognition einer anderen Realität?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Daniels Traum
  • Wolfgang Paulis Tod
  • die schamanische Kosmologie australischer Aborigines

Text Giò von Beust

Gio von Beust

Giò von Beust ist Visionär, Künstler und Aktivist. Als Banker, Volljurist und Berater schöpft er aus der Berufs- und Lebenserfahrung als Autor, Übersetzer, Unternehmer, Buchverleger und Welt­reisender; sein Denken kreist um die Frage, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte …“
Franz Kafka, Die Verwandlung

Da ist ein großes Hotel oder Anwesen oder Resort, mit vielen Räumlichkeiten, Parkanlagen, Gängen, Bädern. Schauspieler, stark geschminkt oder tätowiert, und hoch elegante Müßiggänger gehen ein und aus. Dann versammeln sich Hotelgäste in einem weitläufigen Saal.

In einer Ecke sitzt ein Mann hinter einem ausladenden, blanken Tisch. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, seinen quadratischen Schädel bedeckt dichtes, schwarzes Haupthaar. Er wirkt kräftig, neutral, durchschnittlich. Unter einer hervortretenden Stirn und dunklen Augenbrauen blicken ausdruckslose Augen. Er trägt einen dunkelgrauen Pullover.

Plötzlich zieht sich der Mann in einer schnellen Bewegung den Pullover über den Kopf und enthüllt darunter ein Priestergewand, schwarz-weiß, protestantisch mit Spitzkragen und Schleife. Gleichzeitig verwandelt sich der Tisch vor ihm in einen Steinaltar.

Peinlich, dass er sich in eine Versammlung, die nichts Religiöses im Sinn hat, eingeschlichen hat. Aber die Wandlung fasziniert.

Um die Peinlichkeit zu überbrücken, stehe ich auf und tanze durch die Reihen, Pirouetten drehend, leicht taumelnd.

Dabei habe ich um den Hals einen weißen, flauschigen Schal geschlungen, vielleicht auch ein lebendiges Tier, das ich unterwegs verliere, bevor ich an meinen Platz links neben dem Altar zurückkehre.
Neben mir sitzt eine unscheinbare Frau mittleren Alterns, hageres Gesicht. Plötzlich fängt diese an, lauthals zu singen, glockenklar, in einer unbekannten Sprache, die ans Holländische erinnert. Sie liest den Text des Lieds von Papierschnitzeln ab, die jeweils eine Zeile tragen. Ich kann den Text sehen, aber nicht entziffern.

Der Gesang verwandelt die Atmosphäre im Saal. Ergriffenheit, Heiligkeit breitet sich aus. Mir schießen die Tränen in die Augen, bin gebadet in Glücksgefühlen. Meine Tränen verwaschen den Text auf den Papierschnitzeln.

Die Sängerin bedeutet mir, den unkenntlich werdenden Text frisch aufzuschreiben. Ich winke ab, zu sehr bin ich von Emotionen überwältigt und durchgeschüttelt.

Neben der Frau sitzt meine Lehrerin, die plötzlich ins Bild kommt. Ich übergebe ihr die Papierschnitzel mit der wortlosen Bitte, sie möge doch den zu verschwinden drohenden Text aufschreiben. Sie nimmt sie wortlos entgegen und fängt an aufzuschreiben …

Universum der Träume

Die besondere Qualität der Traumbilder, ihre ungewöhnliche Emotionalität und Intensität, das Ineinanderfließen von Szenen und Personen, die Unberechenbarkeit der Abläufe und Beziehungen, das Bedeutungsschwangere und Symbolhafte, die Aufhebung von Zeit und Raum, das sind die Zutaten, welche die Menschheit seit alters her fasziniert und in Bann schlägt.

Denn hier scheint der einzelne Mensch unmittelbar Zugang zu einem transzendenten Universum zu haben, das fremd, abenteuerlich und erschreckend anmutet, ja in frühen Zeiten schienen hier die Götter oder der biblische Gott selbst unmittelbar in Erscheinung zu treten und Kontakt aufzunehmen.

Deshalb stand hier der prophetische, wenn man so will: paranormale, Aspekt des Träumens im Vordergrund. Wobei man sich in alter Zeit nie – wie wir heute – die Frage stellte, was es mit dem Traumgeschehen an sich auf sich hat. Träumen gehörte zum Menschsein wie Essen und Trinken und Denken, es war kein separater geistiger oder physiologischer Zustand, der als solcher untersucht werden müsste. Es ging eher darum, die Träume zu deuten, versteckte Botschaften zu interpretieren, ja wesentliche Erkenntnisse über das Geschehen in der Welt zu gewinnen.

  • Giraffe in einer rosafarbenen Wolke
  • Eine Person wandert durch eine mystische Berglandschaft

Daniels Traum

So findet sich im Alten Testament die Geschichte des Propheten Daniel, der – nachdem das jüdische Volk unter babylonische Knechtschaft geraten war – auf Grund einer Traumdeutung dort eine große Karriere hinlegte, die selbst später noch, nach dem Fall Babylons unter persische Herrschaft, fortdauerte.

Daniels Ruhm gründete auf dem Umstand, dass er als einziger den Traum des Herrschers Nebukadnezar deuten konnte. Der hatte wiederholt von einem furchtbar anzusehenden Standbild geträumt, dessen Kopf aus Gold, Oberkörper aus Silber, Unterleib aus Erz, Schenkel aus Eisen und Füße teils aus Eisen und Ton bestanden.

Und dann schlug plötzlich ein Stein, wie von Geisterhand geschleudert, in die Füße der Statue ein, woraufhin diese in sich zusammenstürzte und die Metalle zu kleinsten Teilen zerschredderten. Der Stein aber wuchs an zu einem Berg, der schließlich die ganze Welt erfüllte.

Daniel deutete diesen Traum – wobei er die Deutung ebenfalls im Traum als göttliche Eingebung erhielt – als die Zukunft der Weltgeschichte, in der ein Abstieg vom goldenen Zeitalter in eine Endzeit der Trennung stattfindet – Ton und Eisen können nicht miteinander vermengt werden –, bevor dann das Reich JHWHs (besser bekannt als Jahwe) errichtet wird.

Bis in die heutige Zeit dient Daniels Traumdeutung als Inspiration für Endzeitpropheten, Adventisten und islamischen Dschihadisten, unter denen der Mahdi-Glaube – der Glaube an eine Endzeit, in der der Mahdi, der Nachkomme des Propheten, erscheinen und einen Gottesstaat errichten wird – weit verbreitet ist.

Die Bilder der kollabierenden Hochhäuser in New York gemahnen nicht von ungefähr an den Zusammensturz von Nebukadnezars Standbild und symbolisieren für sie – geradezu archetypisch – den Zusammensturz der eisernen, zerschmetternden, jedoch auf Sand gebauten westlichen Zivilisation.

Traumpfade

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Träume – und deren Deutung –mythische Kraft entfalten und eine weitreichende Wirkung haben können. Es gibt jedoch eine Kultur, die zu den ältesten der Menschheit zählt, die dem Träumen noch eine ganz andere Dimension verliehen hat: die der australischen Aborigines.

Im Weltverständnis der australischen Ureinwohner hat die gesamte sichtbare Welt ihren Ursprung in der sogenannten „Traumzeit“, in der archetypische, aus der Erde, aus dem Meer und vom Himmel gekommene, träumende Geistwesen Tiere, Pflanzen, Menschen, Naturgewalten und auch die anorganische Materie geschaffen haben.

Jede dieser Schöpfungen weist deshalb eine Traumdimension auf; in Tieren, Pflanzen ebenso wie in Bergrücken und Flüssen sind diese Schöpferwesen eingebettet und können wieder „erträumt“ werden. Entlang von Traumpfaden oder Liederspuren (sogenannten „Songlines“), die den australischen Kontinent oft über Tausende von Kilometern überziehen, eröffnen sich die Aborigines eine Rückverbindung zur Schöpferzeit, um die eigene Verortung in der Welt zu erfahren und zu bestimmen.

Diese gesungenen Landkarten sind zugleich praktischer wie spiritueller Natur und bestehen aus einer Abfolge von Liedern, die sowohl landschaftliche Orientierungsinformationen enthalten als auch den Prozess der Schöpfung und der Namensgebung der jeweiligen Orte selbst.

Auch in diesem Fall dient das Träumen als ein Gefährt, mit dem die Reise zurück zum Ursprung des Seins oder die Zukunft Welt angetreten werden kann. Wie bei Daniel, der einer ganz anderen Kultur und Zeitepoche entstammt, bietet das Träumen die Möglichkeit zur Rückverbindung (re-ligio) mit der göttlichen Inspiration.

Wenn Menschen schlafen, träumen sie: alle Menschen, egal wo sie auch dem Planeten zu Hause sind, und das jedes Mal, wenn sie in Morpheus’ Arme sinken. Sehr viele Menschen, man spricht von 80 Prozent, erinnern sich auch an ihre Träume. Auch diejenigen, die sich nicht erinnern und meinen, sie träumten nicht, träumen.

Paranormale Verschränkung

Prophetische oder präkognitive Träume, sogenannte Wahrträume, sind auch in heutiger Zeit durchaus geläufig. In vielen Familien kursieren die klassischen Geschichten von Vorahnungen über Todesfälle und Unfälle.

Viele dieser hellseherischen Träume sind objektiv dokumentiert und wissenschaftlich untersucht worden, wie etwa von dem Physiker und Psychologen Walter von Lacadou, dem Leiter der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg, und als den Tatsachen entsprechend bestätigt worden. Diese unerklärlichen Phänomene werden von Lacadou als Verschränkungskorrelationen bezeichnet, als Ereignisse, die – meist erst aus der Rückschau – in einem sinnvollen Zusammenhang zueinanderstehen, zwischen denen jedoch keine kausale Beziehung oder gegenseitige Einwirkung feststellbar ist.

Diese Beziehung wird freilich erst ansatzsatzweise verstanden, auch wenn in der Quantenphysik so genannte Quantenverschränkungen selbst im makrokosmischen Maßstab beschrieben werden. Das Interessante an der Quantenmechanik ist, dass sie „nicht-lokal“ ist, also die Beziehungen zwischen den Einzelteilen weder nah noch fern noch kausal sind.

Diese „spukhafte Fernwirkung“, von der einst Albert Einstein sprach, könnte durchaus einen auch aus unserer modernen Sicht gültigen Erklärungshorizont für die Traumzeitvorstellungen der australischen Aborigines oder den prophetischen Traum Daniels haben.

Kiwi mit rosafarbener Schale

Kosmische Dimension

Carl Gustav Jung, der Begründer der Analytischen Psychologie, maß dem Traumgeschehen eine ähnlich „kosmische“ Dimension zu, sicherlich als Resultat seines intensiven Austausches mit dem genialen Quantenphysiker Wolfgang Pauli. Er folgerte, dass sich darin der ganze Mensch mit all seinen Facetten und Dimensionen zeige, ja sich im Traum auch Zugänge zu einer anders gearteten Realitätswahrnehmung oder gar Realität eröffneten.

Jung stellte sich das Träumen als fortlaufenden Dialog des bewussten Ichs mit der nächtlichen, unbewussten, aber auch wissenden Seite der Psyche vor. Als Forscher interessierte sich Jung besonders für Träume, die einen archetypischen, präkognitiven, kompensatorischen Charakter haben oder sich oftmals wiederholen.

Wolfgang Pauli träumte zum Beispiel immer wieder von einer kosmischen Zahl, der berühmten Feinstrukturkonstante 137, einer Zahl ohne Eigenwert, die das Ergebnis einer eigentümlichen Kombination der drei Naturkonstanten e (elektrische Ladung), h (Wirkungsquantum) und c (Lichtgeschwindigkeit) ist und also Quantentheorie (e, h) und Spezielle Relativitätstheorie verknüpft.

Die Zahl verfolgte ihn bis in den Tod. Als er am 5. Dezember 1958 mit starken Magenschmerzen in das Züricher Krankenhaus vom Roten Kreuz eingeliefert wurde und die Zahl auf der Tür des ihm zugewiesenen Krankenzimmer erkannte, ahnte er, was ihn erwartete und rief entsetzt aus: „Es ist die 137! Hier komme ich nicht mehr lebend heraus!“ Drei Wochen später, am 27. Dezember, verstarb er in eben diesem Zimmer.

Träumen üben

Archetypische und präkognitive Träume in der Art der australischen Aborigines und des biblischen Propheten Daniel wurden von C.G. Jung in seiner Praxis durchaus öfters beobachtet und spielten im Rahmen seiner vielfältigen Forschungen zu akausalen, synchronizistischen Verknüpfungen eine wichtige Rolle. Seinen Klienten riet er in diesen Fällen, diese Träume sehr ernst zu nehmen und in ihnen wichtige Warnsignale im Hinblick auf zukünftige Ereignisse zu sehen.

Im Inneren des Menschen, im großen Reich des Unbewussten, existieren Wissensdimensionen, die dem Ich-Bewusstsein weitgehend verschlossen bleiben. In den Träumen werden diese Wissensinhalte aus den dunklen Tiefen des Unbewussten an die Oberfläche des Wachbewusstseins gebracht, und zwar in symbolhaften Darstellungen und Verknüpfungen. Komplexe Sachverhalte werden vom Unbewussten in komprimierter Form oftmals als filmartige Bildfolgen dargestellt.

Für C.G Jung waren die Träume der Königsweg zum Verständnis der Einzelperson wie der Menschheit als Ganzes. Nicht anders als Daniel hat er versucht, die Symbolsprache der Träume zu entschlüsseln. So lautet eines seiner Hauptwerke denn auch: Der Mensch und seine Symbole. Im Internet gibt es zudem außerordentlich viele – wenn auch nicht immer fundierte – Informationen zu einzelnen Traumsymbolen.

Es lohnt sich also, Träume nicht als Schäume abzutun und sich mit ihnen zu befassen. Das Führen eines Traumtagebuchs und Übungen, die das Erinnerungsvermögen an Träume verbessern, können neue Lebensperspektiven eröffnen.

Maria Popova, die Großmeisterin der New Yorker Literaturszene schrieb einmal:
„Mensch zu sein, heißt, in der Schwebe zwischen der Dimensionalität von Elementarteilchen und Galaxien zu leben und sich danach zu sehnen, den eigenen Platz im Universum zu ergründen.“

Träume können die Landkarten sein, auf denen der Weg zu dieser Verortung eingezeichnet ist.

Fotos: iStock, Unsplash / Ameer Basheer, Alex Gruber

 

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