Mann berührt mit seinem Zeigefinger seine lange Nase

VOM WERT EINER NOTLÜGE

Dass man nicht lügen sollte, leuchtet eigentlich jedem ein. Aber wie steht es mit den Notlügen, die wir alle einmal praktizieren (müssen)? Sollten sie betrachtet werden wie die bewusste Irreführung?

Hier erfahren Sie mehr über

  • Immanuel Kant
  • Den Wert von Notlügen
  • Ethik und Sitten

Text Wolfgang Eckstein

Schwarz-weiß-Porträt von Wolfgang Eckstein

Wolfgang Eckstein ist 96 Jahre jung. Der Jurist war u.a. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Bekleidungsindustrie, gründete den Verband deut­scher Mo­de­desig­ner, den Mo­de­kreis München und eine Stif­tung für die Modeindustrie. Für PURPOSE schreibt er exklusiv.

Der Philosoph Immanuel Kant hat in seinem Werk „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“, die Auffassung vertreten, dass es unter keinen Umständen ein Recht auf eine Lüge gibt.
Ausnahmen davon führen nach seiner Ansicht zur Aufweichung des Lügenverbots, denn damit würden Aussagen überhaupt keinen Glauben mehr finden, da sie ja Lügen sein könnten.
Er geht sogar so weit zu fordern, dass dieser Grundsatz auch bei Gefahr für Leib und Seele gilt.
Der folgende Fall soll klar und deutlich zeigen, welche Konsequenzen diese Meinung haben kann: Wenn ein Mörder fragt, ob unser von ihm verfolgte Freund in unser Haus geflüchtet ist, müssen wir das bejahen, denn nach Kant wäre eine verneinende Antwort ein „Verbrechen.“ Folgt man der kategorischen Forderung von Kant, würde das auf breitester Ebene beim Zusammenleben der Menschen zwangsläufig zu ständigen Gewissenskonflikten führen.

Frau schaut von einer Treppe aus nach unten

DER UMGANG MIT DER WAHRHEIT

Es lohnt sich deshalb Überlegungen darüber anzustellen, welche Auswege es zwischen dem „Verbrechen“ einer Lüge und einer der Lebenssituation angepassten Notlüge gibt. Selbstverständlich ist es eine ethische Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Wenn man aber diesen Grundsatz uneingeschränkt auf alle und alles überträgt, würde das jede Gesellschaft überfordern.

Jede Pflicht, so auch die Wahrheitspflicht, ist untrennbar vom Begriff des Rechts zu sehen. Im Umkehrschluss heißt das, wo es kein Recht gibt, gibt es keine Pflicht.
Eine Wahrheitspflicht besteht demnach nur für den, der ein Recht auf Wahrheit hat.
Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet. Kein Gesetz kann den Menschen zum Lügen zwingen.

Eine Marionette und ein Totenkopf in einem Schaufenster

LÜGEN UND NOTLÜGEN

Hinsichtlich des Lügens gibt es in Berücksichtigung der verschiedenen Sichtweisen nur einen einzigen Weg, der für den Zusammenhalt des Gemeinwesens machbar ist: den Pflasterweg der „Notlügen.“

Auch wenn darin das Wort „Lüge“ beinhaltet ist, so gibt es Lügen und Notlügen mit völlig gegensätzlichen ethischen Anwendungsgrundsätzen und Folgen daraus.
Hinter der Lüge besteht immer eine bestimmte Absicht, mit der jemand einem anderen in irgendeiner Weise schaden will. Der Lügner weiß, dass seine Aussage unwahr ist; er will aber mit ihr erreichen, dass sein Gegenüber seinen Worten Glauben schenkt. Er erhofft sich dadurch Vorteile, die so vielfältig sein mögen, dass man sie an dieser Stelle nicht annähernd benennen kann.

Lügen können aber auch dazu dienen, sich selbst oder andere zu schützen. Es muss indes erwähnt werden, dass die Lüge auch im öffentlichen Leben Einlass gefunden hat. Sei es in der Politik (und hier denkt man unwillkürlich an den Meisterlügner Donald Trump, der sich dieses Mittels laut Statistik in seiner Präsidentenzeit ca. 30.000 mal bedient hat), in der Kirche, im Krieg, in der Werbung, bei Verkaufsgesprächen etc. etc. – überall wird mit Lügen versucht, sich Vorteile zu verschaffen.

Mensch mit einer Maske hält den Zeigefinger vor den Mund - Schweigen

LÜGEN UND HARMONIE

All dies erfüllt, was Kant fordert, nämlich die Ablehnung jeder Art von Lügen. Er geht damit weit über das hinaus, was in einer menschlichen Gesellschaft unvermeidlich (man kann sogar sagen notwendig ist), um eine große Harmonie im Miteinander zu gewährleisten.

Deshalb kommt hier die Notlüge ins Spiel, in der auch von kirchlicher Seite heute kein ernsthafter Verstoß gegen die Sitten gesehen wird. Ihre Anwendung soll genau das Gegenteil von dem bringen, was mit einer Lüge beabsichtigt wird, nämlich einen Schaden zu verhindern oder ein Übel zu vermeiden – obwohl es sich dabei praktisch gesehen um eine Lüge handelt.

Das Achte Gebot verbietet die Notlüge nicht explizit. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Die ursprüngliche Bedeutung dieser Worte bezieht sich auf falsche öffentliche Aussagen bei Gericht oder bei Reden, nicht aber auf das private Reich des Alltags.

Erlaubt ist eine Notlüge dann, wenn mit ihr anderen kein Nachteil entsteht und sie nicht dazu dient, sich mit ihr Vorteile zu verschaffen. Mit Notlügen hat man auch die Möglichkeit, mit Höflichkeit niemand zu verletzen, wenn man z.B. aus einer angebrachten Kritik ein Lob macht und Empörung die Folge wäre.  Z.B. wird man auf die Frage“ Wie geht es Ihnen“ sagen: “Danke mir geht`s gut“, obwohl das nicht immer die Wahrheit ist. Verwerflich?

Man will ja damit nur weiteren Fragen aus dem Weg gehen.

Chamäleon sitzt auf einem Ast

DER POSITIVE WERT DER NOTLÜGE

Das Leben bietet im Umgang mit Menschen im Alltag unbegrenzte Möglichkeiten, jemanden durch harmlose „Lügen,“ auch wenn diese nicht einer Notsituation entstammen, Lob, Anerkennung, Bewunderung, Dankbarkeit, Verständnis, Anteilnahme, Freude, Mut, Hoffnung und Motivation zuteilwerden zu lassen.

Deshalb soll dieser Artikel zwar die Lüge verteufeln, aber den Wert der stets positiven Notlüge loben.

IRREN IST MENSCHLICH

Es gibt Studien, nach denen der Mensch täglich mindestens 25mal lügt. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei zum größten Teil um Äußerungen handelt, die niemanden schaden, sondern das Gegenteil bewirken sollen. Unser Zusammenleben würde sicherlich nicht funktionieren, wenn wir immer nur die Wahrheit sagen.

Diese Begründung mag man glauben oder nicht, aber sie ist der einzige Weg, stets wieder zueinander zu finden.

Emmanuel Kant hat mit seinem, die gesamte Ethik und Moral umfassenden „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ nicht nur innerhalb der Philosophie neue Maßstäbe gesetzt. Aber er hat den unersetzlichen Wert der Notlügen für das menschliches Zusammenleben unterschätzt.  Doch wie heißt es bei Cicero so schön:

„ERRARE HUMANUM EST, SED IN ERRARE PERSEVERARE DIABOLICUM“.

Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch. Auch wenn man Lügen generell ablehnt, so sollte man nicht unbedenklich und ausschließlich ein kategorisches Lügenverbot machen.

Verzeihen Sie bitte die Korrektur, hochgeschätzter Herr Kant, oder lehnen Sie auch diese kategorisch ab?

Fotos: iStock, Unsplash / Engin Akyurt, Imso Gabriel, Anita Jankovic, Florencia Potter

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