
ENDLICHKEIT, DAS LEBEN UND DIE RELIGION
Wer bin ich? Warum? Und wohin gehe ich? In der Frage nach dem Sinn des Lebens sind viele vereint. Und auf der Suche nach Antworten können wir unbegrenzt über uns hinauswachsen.
Hier erfahren Sie mehr über
- Weber und Wittgenstein
- Materie und Geist
- Erlösung und Befreiung
Text MoonHee Fischer

Dr. Moon Hee Fischer, Philosophin und Kolumnistin, verbindet philosophisches Denken und spirituell gelebtes Gewahrsein u.a. in ihrem Buch „Wir erleben mehr, als wir begreifen“. Seit vielen Jahren begleitet sie Menschen in Lebensfragen und -themen in ihrer philosophisch-spirituellen Praxis in München.
Seit einiger Zeit denke ich fast täglich über die Endlichkeit meines Lebens nach. Bin ich deshalb religiös? Der Soziologe Max Weber sagte über sich selbst, obwohl er lebenslang Mitglied der Evangelischen Kirche war, dass er religiös unmusikalisch sei. Der Mensch als denkendes und zugleich empfindsames Wesen neigt dazu, zu polarisieren und zu kategorisieren. Und hat er sich erst einmal auf eine bestimmte Sache festgelegt, hält er gerne daran fest: entweder das eine oder das andere.
Doch das Leben ist nicht so simpel. Das Leben ist komplex. Ob wir es uns eingestehen wollen oder nicht – es lässt viele Fragen offen.
Und selbst, wie Ludwig Wittgenstein es so treffend formulierte:
„Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“

Das Endliche und das Unendliche
Weiter sagte der Jahrhundertphilosoph: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
In beiden Aussagen klingt eine tiefe, unleugbare Wahrheit an: Leben ist weit mehr, als wir denken – das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wissenschaftlich ist die Summe von 1+1=2, lebensweltlich ist die Summe von 1+1 jedoch ∞.
Das Leben ist kein in sich abgestecktes Spielfeld, sondern Offenheit schlechthin: Zum Greifbaren (Materie) kommt das Nichtgreifbare (Geist) hinzu, zum Endlichen das Unendliche.
Das, was Leben ausmacht, geht über Fakten, Objektivität und Wiederholbarkeit hinaus. Jedes Leben ist unwiederholbar einzigartig. Es ist grund- und bedingungslos – es kann nicht verzweckt werden.
Leben ist kein wissenschaftliches Experiment, das sich in Teile zerstückeln und untersuchen lässt. Leben ist lebendige Interaktion mit vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten, das sich jedoch einem begrenzten, wissenden Verstand in seiner Gänze entzieht. Das Unaussprechliche bedarf keines Glaubens an eine höhere transzendente Macht. Es ist das Immanente, das Leben selbst. Denn es sind das Leben und die damit einhergehenden Probleme, die uns die großen Fragen entlocken: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was soll ich tun? In der Frage nach dem Sinn des Lebens sind sie vereint.

Im Denken überschreiten wir die Endlichkeit
Schon allein, dass wir zu solch einem tiefen Nachsinnen fähig sind, weist auf etwas Größeres und Unbegrenztes in uns hin. Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Im Denken wird das Greifbare überschritten. Gerade im Abarbeiten unserer Lebensfragen, im Erleiden unserer Endlichkeit und Begrenztheit wachsen wir über uns selbst hinaus. Sich seiner Grenzen bewusst zu sein, bedeutet, sie schon überschritten zu haben.
„Ich bin zwar kein religiöser Mensch, aber ich kann nicht anders, ich sehe jedes Problem von einem religiösen Standpunkt.“
Wieder so eine bemerkenswerte Aussage Wittgensteins, die uns aufhorchen lässt. Aufgrund der Unausweichlichkeit und Dringlichkeit unserer Lebensfragen ist jeder Mensch von Geburt an religiös gestimmt. Als Suchender und Leidender liegt ihm die Religiosität im Blut. Jeder Mensch fragt und sucht – nach Erlösung und Befreiung. Er wünscht, den Ketten seiner Endlichkeit, dem Gefängnis seiner inneren Einsamkeit zu entfliehen.
Der irische Schriftsteller Brendan Behan schrieb: „Im innersten Kern jeder Einsamkeit steckt eine tiefe Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem verlorenen Selbst.“ Wie wir dieses Selbst benennen: wahres oder höheres Selbst, Gott, Allah, Brahman, Jahwe, Dao, Buddha, Liebe, Frieden etc. ist wesentlich einerlei.

„Religio“ ohne Konfession
Religion in ihrem eigentlichen Wortsinn religio bedeutet, unabhängig von Konfession oder Nichtkonfession, die Einkehr in oder Rückbindung auf das Wesentliche im Menschen – das All-Einssein. Alle Lebensfragen und Lebensprobleme gründen in dem Gefühl der Getrenntheit. Die Rettung oder Heilung, nach der wir uns so sehnen, liegt im Abbau unserer inneren Grenzen – dann herrscht Einheit statt Einsamkeit.
Die Antwort auf die Frage nach der Transzendenz des Menschen lautet: eins und nicht zwei. Hier heben sich Endlichkeit und Unendlichkeit in eins auf.
Das Unendliche liegt in dem Ganzen und nicht isoliert in den Teilen.
Noch einmal Wittgenstein:
„Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ Lebensprobleme lösen sich nicht durch theoretische oder metaphysische Überlegungen auf, sondern durch praktisches Tun. In dem Sinne verstehen wir auch, wenn Wittgenstein da sagt: „Eine religiöse Frage ist nur entweder Lebensfrage oder sie ist (leeres) Geschwätz.“ Religion ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Religion.
Das PURPOSE-Magazin bedankt sich für diese Leseprobe. Weitere Fragen und MoonHee Fischers Antworten darauf werden folgen.
Fotos: Unsplash / Alim, Davide Cantelli, Freddie Marriage, Mike Newbry